Nachricht an den Großen Bären. Eva Schörkhuber
Zum ersten Mal seit Jahren habe ich wieder geweint. Ich habe gespürt, wie sich die Tränen ihren Weg aus den Augenwinkeln über meine Wangen und Nasenflügel bis zu den Lippen bahnen, langsam wie der erste Tautropfen, der über die rauen Eisblumen perlt. Von den Lippen hat Claire meine Tränen weggeküsst. Dann ist sie gegangen. In meinen Händen halte ich die kleine Feder. An ihren Enden ist sie schon etwas ausgefranst. Die schmale Außenfahne der Feder ist hellbraun, die breite Innenfahne weiß. »Eine Schwungfeder«, hat mir Claire erklärt, als ich ihren Talisman zum ersten Mal gesehen habe. »Sie bilden die Tragflächen der Flügel, schau so«, und dann ist sie mit ausgebreiteten Armen durch das Zimmer gesegelt. Ja, gesegelt ist sie, und ich habe später mit der Schwungfeder ihren Bauch berührt. Sie hat die immer bei sich getragen, diese Feder, zwischen den Seiten ihres Notizbuches verborgen. Ich trage die Feder nun in meiner Brusttasche. Wie ein vor mein Herz gespanntes Segel. Claire wollte nicht mitkommen. Sie wollte in der Stadt bleiben und kämpfen. »Du erledigst deine Sachen und ich die meinen, so einfach ist das.« So einfach ist das aber nicht gewesen, als ich verstanden habe, dass ihre Entscheidung gefallen ist, dass ich sie nicht mehr überreden kann. Ich habe ihr eine Szene gemacht, eine Szene, die ich heute bereue. Ich habe sogar versucht, ihr Angst zu machen. Ich habe ihr gesagt, dass immer weniger Leute bereit wären, im Stadtzentrum zu bleiben und zu kämpfen. Dass sich die meisten entweder zurückziehen würden in die ländlichen Gebiete oder sich der Meute anschließen. »Alleine, mutterseelenalleine wirst du dann dastehen in dieser Stadt, und sie werden herfallen über dich, sie werden dich fangen und zwingen, zu ihnen zu gehen, ihnen anzugehören, sie werden …« Claire hat ein Glas genommen und es gegen die Wand geschmettert. Dabei hat sie gelacht und gerufen: »Startschuss! Der Startschuss ist gefallen!« Und ich habe meinen ganzen Zorn einpacken können und laut auflachen müssen. »Ach du …« Ach Claire, du fehlst mir, ich habe Angst, Angst um dich, Angst um mich. Ich weiß dich in dieser Stadt, in der es – oh, wenn ich doch nur sagen könnte – nicht mit rechten Dingen zugeht, es geht mit allzu rechten Dingen zu, in dieser Stadt, und ich weiß nicht …
»Verzeihen Sie, hier ist doch noch frei, nicht?«
Wo kommt die denn her? Seit der Abfahrt hat es noch keinen Aufenthalt gegeben. Die Bahnhöfe in den Vororten werden nicht mehr angefahren. Die meisten Menschen, die dort gelebt haben, sind weggezogen. Sie sind ausgewandert, haben sich der Meute angeschlossen oder sind ins Stadtzentrum gegangen, um zu kämpfen. Diese Person hier muss durch den ganzen Zug gewandert sein, auf der Suche nach – oh nein, nicht auf der Suche nach mir! Ich muss mir wirklich Ruhe bewahren und einen klaren Kopf.
»Ja, Sie sehen doch, ich bin allein im Abteil.«
Sie zieht ihren Koffer herein. Uralt ist der, zerbeult und zerschlissen. Er sieht aus, als wäre er in aller Eile unter dem Bett hervorgezogen und mit allem Möglichen vollgestopft worden. Ein hastiger Aufbruch, ein Aufbruch Hals über Kopf. Irgendwie sieht sie dieser Service-Person ähnlich, die mir vorhin einen Tee verkaufen wollte. Nur dass sie statt der Uniform, die an Krankenhäuser oder Altenpflegeheime erinnert, einen karierten Mantel trägt und hautfarbene Strümpfe. Sie lässt sich auf den Sitz schräg gegenüber fallen und gürtet den Mantel auf. Ihre Bluse ist blütenweiß, der Rock graugrün. Dieses Gesicht, sie hat eines dieser alterslosen Gesichter, in denen weder Freude noch Leid ihre Spuren hinterlassen haben. Es ist glatt und freundlich. Ein Schwesterngesicht. Ja, sie hat ein Krankenschwesterngesicht.
»Verzeihen Sie, wissen Sie vielleicht, wann wir in L. sein werden?«
»Um 15.36 Uhr«, antworte ich kühl und kann nicht umhin, die Kette zu bemerken, die sich, ein schmales V, eng um ihren Hals legt. Feingliedrig ist sie, diese Kette, und an ihrem Ende, das in dem hohen Ausschnitt mündet, vermute ich ein kleines goldenes Kreuz. Etwas zerstreut wirkt diese Schwester. Ihre Hände wandern unruhig auf dem rauen Rockstoff auf und ab, als wollten sie ihn glattstreichen. Es ist mir immer schon schwergefallen, ein Gespräch anzuknüpfen. Tatsächlich interessiere ich mich kaum für die Menschen, denen ich zufällig begegne. Ich beobachte sie, mache mir aus ihren Gesten, aus ihren Bewegungen einen Reim und belasse es dabei. Die Geschichten, die sie von sich erzählen, sind meistens noch banaler, noch langweiliger als jene, die ich mir über sie zusammenreime. Wahrscheinlich ist diese Mitreisende gar keine Krankenschwester. Sie lebt ein todlangweiliges Altjungfernleben als Lehrerin. In der Stadt ist sie gewesen, um sich in einer der großen Bibliotheken noch, wie sie es bestimmt nennt, aktuelle Literatur zu besorgen für ihre Provinzschule. Die Ereignisse haben sie überrascht. Natürlich hat sie mitbekommen, wie es um das Land steht. Dass die Regierung dem Druck der Meute nicht standgehalten hat, dass sie sich abgesetzt hat, bevor sie noch hat abgesetzt werden können. Dass die neue Regierung die Stadt ihrem Schicksal überlässt. Sie wird aber auch gehört haben, dass es in der Stadt noch Infrastruktur gibt, dass manche inneren Stadtteile noch völlig intakt sind. »So schlimm kann es doch nicht sein«, wird sie sich gedacht und die Reise aus der Provinzstadt in die Hauptstadt unternommen haben. Ja, und dann wird sie bemerkt haben, dass es doch schon so schlimm ist. Dass sie jeden Tag mit Kontrollen und Überfällen der Meute zu rechnen hat, auch in den angeblich noch sicheren Stadtteilen. Dass sie den Straßenkämpfen selbst auf ihren Wegen in die Prunkbibliothek nicht mehr so einfach ausweichen kann. Dass es an manchen Tagen für einige Stunden kein Wasser gibt, da die Meute versucht, das trockenzulegen, was von der Stadt noch übrig geblieben ist. Sie wird das bemerkt und schließlich Hals über Kopf das billige Hotelzimmer, das sie sich geleistet hat für ihren Aufenthalt, verlassen haben. So oder so ähnlich wird das gewesen sein. Ich frage mich, wie viel die Menschen in der Provinz überhaupt davon mitbekommen, was sich in der Stadt abspielt. Ich weiß, dass es in manchen kleineren Städten, dass es sogar in manchen Dörfern zu Aufständen gekommen ist, als sich der hagere Wicht mit dem wässrigen Blick selbst zum Kanzler ernannt hat. Um Wahlen oder vergleichbare Kindereien ist es da natürlich nicht gegangen. Gewählt worden ist schon lange nicht mehr, und an die Macht des demos, des Volkes, an die glaubt heute nur noch die Meute, die sich ihr Volk zurechtlügt, zurechtbiegt, zurechtzüchtigt. Die Aufständischen in der Provinz haben vielmehr die letzte Konsequenz aus diesem Regierungswechsel gezogen, sie haben sich noch einmal gegen die Meute aufgelehnt, um vielleicht noch ein paar andere davon zu überzeugen, sich nicht der Meute anzuschließen, dem Angstmoloch zu widerstehen. Ich erinnere mich an den Bildzyklus, den Zora schon vor Jahren begonnen hat. Sie ist damals aus der Provinz in die Stadt gekommen, um sich, wie sie mir an diesem Abend, an dem ich sie bei Claire kennengelernt habe, erzählt hat, ein Bild von den kommenden, den ihrer Meinung nach damals schon kurz bevorstehenden Ereignissen zu machen. Nun, sie hat sich viele Bilder gemacht von der Angst, die sukzessive zu regieren begonnen hat. Zuerst sind ihre Bilder sehr subtil gewesen, üppige Stadtlandschaften, in denen kleine Risse zu sehen gewesen sind, Kakteen, die wie Mauerblümchen aus den Fassaden wachsen, Menschen mit durchsichtigen Kosmonautenhelmen, die sie wie umgestülpte Goldfischgläser über ihren Köpfen tragen, Straßenränder, die an manchen Stellen ausfransen wie alte Teppiche. Mit der Zeit sind Zoras Bilder kräftiger geworden, monströser. Zeitungsschlagzeilen, die sich wie eiserne Girlanden um die Köpfe und Körper der Menschen legen, Stacheldrähte, die vor den Fenstern, den Türen der Häuser wachsen, Armeen aus Thujenhecken, die stramm habt acht stehen vor ihren Obersten, den Hausherren und -herrinnen mit den vor Angst zerbeulten Gesichtern, Menschen in zerschlissener Kleidung, die auf offener Straße liegen und verbluten, ausgesaugt und ausgelaugt, mit den typischen Bisswunden an den Hälsen. Es sind immer die gleichen Stadtlandschaften gewesen, die sie gemalt hat. Doch diese Stadtlandschaften sind immer mehr vereinnahmt worden von den Auswüchsen der Angst, die sich in ihnen breitmacht. Die Stadt ist zu einem Angstmoloch geworden, in Zoras Bildern ebenso wie in einer Realität, die mir bis heute unwirklich, ja schleierhaft erscheint. Vielleicht ist das alles nur ein böser Traum, aus dem es ein Erwachen gibt, sobald der Schleier gelüftet, sobald die Leinwand zerrissen wird. Wir werden sehen … Auf dem letzten Bild des Zyklus’, das ich bei Zora wenige Tage vor meiner Abreise gesehen habe, ist die Stadt beinahe nicht mehr wiederzuerkennen. Die Stadtruinen sind überzogen mit pechschwarzem Tran, der aus den Fensterlöchern rinnt. Die Fenster sind Augen, die Augen wässrige Sümpfe, in denen die blaugrauen Adern wie Schlingpflanzen wuchern. Der Augentran liegt auf dem zerbröckelten Bauwerk, auf den Menschen, die gebückt, gedrungen zwischen den Ruinen umherschleichen. Augensplitter liegen auf dem aufgerissenen Asphalt. Die Stadt wirkt wie ein schwarzer, tausendäugiger Dschungel, aus dem es kein Entkommen, kein Entrinnen gibt. Als ich dieses Bild gesehen habe, haben meine Augen zu schmerzen begonnen.