Nachricht an den Großen Bären. Eva Schörkhuber

Nachricht an den Großen Bären - Eva Schörkhuber


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Kleinstadtluft zieht. Drei. Du atmest aus. Die Luft strömt aus deinen Armen und deinen Beinen. Vier. Deine Arme und deine Beine werden leicht. Fünf. Dein ganzer Körper wird federleicht. Sechs. Du schwebst. Sieben. Du schwebst über den Köpfen der Menschen, die sich vom Bahnhof weg in die kleine Stadt begeben. Bei acht möchte ich, dass du die Frau mit dem schweren Koffer siehst. Ich sage nun: acht. Du fliegst über der Frau und folgst ihr zu einem Gebäude, das nur wenige Schritte vom Bahnhof entfernt liegt. Neun. Du lässt die Frau im Gebäude verschwinden und blickst durch eines der großen Fenster. Bei zehn wirst du ein geräumiges Zimmer sehen, mit Tapeten und Ölbildern an den Wänden. An einem der altmodisch weiß-gold-verschnörkelten Tische werden vier Damen sitzen. Sie trinken Tee und unterhalten sich. Ich sage: zehn.

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      ZÄHNEKNIRSCHEN

      »Vor drei Jahren hat es begonnen«, seufzt sie und stellt die Teetasse auf den Tisch. »Jede Nacht weckt mich sein Zähneknirschen mindestens einmal, so furchtbar ist dieses Geräusch.«

      »Ja, Paula, ich weiß.« Luise blickt sie über den Rand der Brille hinweg an. »Aber weißt du, er könnte etwas dagegen tun. Beim Zahnarzt gibt es diese Schutzvorrichtungen aus Plastik. Er legt sie vor dem Schlafengehen über seine Zähne, und fertig. Kein Knirschen mehr.«

      Paula schlägt sachte mit dem Teelöffel gegen die Porzellantasse: »Ja, ja. Er hat mir auch versprochen, zum Zahnarzt zu gehen. Aber …«

      »Nicht nachgeben, Paula, es ist ja zu euer beider Wohl.« Luise nimmt die Zuckerdose und lässt zwei Stück Zucker in die Tasse gleiten.

      »Dieser Leopold, ach wirklich!« Annemarie prüft mit den Fingerspitzen den Halt ihrer Frisur. »Immer noch so dickköpfig.«

      Paula und Luise wechseln Blicke. Durch das Fenster fällt die Spätnachmittagssonne in den Raum und spinnt honiggelbe Lichtfäden in die weißen Locken Annemaries.

      »Na, der soll froh sein, dass er noch Zähne hat zum Knirschen.«

      Helga schlägt ein Bein über das andere: »Meine Lieben, langsam wird es Zeit …«, sagt sie und legt die Karten auf den Tisch.

      Die frühen Abendstunden tröpfeln in die Porzellantassen und verdunsten darin. Vor dem Fenster vertieft sich der Himmel in einen satten Blauton. Aus den Stillleben an den Wänden ziehen sich die matten Orange- und Ockertöne zurück. Sie verdunkeln sich und gähnen braunschwarze Löcher in die Tapete. In den Gesichtern werden die Lichtkorridore schmaler, ihre Falten werfen immer längere Schatten. Die Tür geht auf, die Schwester kommt herein und schaltet das Licht an. Der Teppichboden verschluckt ihre schnellen Schritte. Sie zieht die Vorhänge vor das Fenster und knipst die Stehlampe neben dem Sofa an. Vor dem Tisch bleibt sie stehen. Sie stellt die Porzellantassen und die Zuckerdose auf den kleinen Wagen, sammelt die Teelöffel ein und arrangiert sie in einer der leeren Tassen zu einem silbernen Bouquet.

      »Meine Damen, langsam wird es Zeit …«

      Als Paula auf die Straße tritt, ist es beinahe schon ganz dunkel. Nur am Horizont balanciert noch ein schmaler, heller Lichtstreifen zwischen dem Nachthimmel und der in der Abenddämmerung versunkenen Stadt.

      »Gute Nacht, Paula, komm’ gut heim.« Helga sperrt das Auto auf. Luise lässt sich auf den Beifahrerinnensitz fallen.

      »Gute Nacht, bist nächste Woche! Kommt gut heim.« Paula atmet tief durch. Sie ist müde. Letzte Nacht hat sie wieder einige Stunden wach gelegen. Nein, dieses Zähneknirschen, sie hält es nicht mehr aus. Luise hat recht, Leopold muss endlich etwas dagegen unternehmen. Der Weg nach Hause erscheint ihr mühsam und anstrengend, obwohl sie nur zwei Straßen entfernt wohnt von der Residenz, in der Annemarie lebt und wohin sie allwöchentlich zum Kaffeekränzchen lädt. Niemand ist auf der Straße. Ein schmaler Schatten huscht vor Paulas Füßen über den Asphalt. Die geschmeidige Bewegung hinterlässt einen dunklen Fleck auf Paulas Netzhaut. Sie bleibt stehen und starrt in die trübe Dunkelheit der Vorgärten. Sie kann nicht sagen, ob es nun eine Katze oder ein Frettchen, ob das Tier braun, grau oder schwarz gewesen ist. Einige Meter von ihr entfernt raschelt es. Ein kurzes Aufbäumen gegen die nebelige Stille der Kleinstadt. Paula bekreuzigt sich und setzt ihren Weg fort. Die Straße, in die sie jetzt einbiegt, ist von Thujenhecken gesäumt. Paula greift in eine der Hecken. So schön dicht ist die, ob ihre jemals so kräftig werden wird? Thujenhecken geben ihr Sicherheit. Sie sind hoch und aufrichtig. Sie schützen vor neugierigen, vor zudringlichen Blicken und unerwarteten Begegnungen. Sie berührt noch die eine oder andere Hecke, bevor sie in ihre Straße einbiegt. In ihrer Straße gibt es viel weniger Thujenhecken. Ein paar Holzzäune, ein paar niedrige Buchenhecken. Einige Vorgärten liegen sogar offen da und setzen die Häuser schutzlos fremden Blicken aus. Von Paulas Haus aber ist von der Straße aus nichts zu sehen. Sie greift in ihre Thujenhecke, um sie mit der schönen, dichten zu vergleichen. Nein, sie muss den Vergleich nicht scheuen. Auch ihre Hecke ist dicht, blickdicht und hochgewachsen. In der Küche brennt Licht. Paula schließt die Tür auf, zieht die Sandalen aus, schlüpft in die Hausschuhe und betritt die Küche.

      »Guten Abend Leopold.«

      Leopold sitzt am Tisch und liest Zeitung. Vor ihm stehen eine Flasche Bier und ein Teller mit Wursthautresten.

      »Na, da bist du ja.« Er hebt den Kopf. Sein Blick fällt auf Paula und rinnt langsam über ihr Gesicht, ihre Bluse, ihre Hände.

      »Kein Kuchen heut’?«

      »Nein, Helga hat Zimtschnecken mitgebracht, aber nur vier Stück.«

      »Schade.« Sein Blick zieht sich von Paulas Händen zurück auf die Schlagzeilen.

      »Hast du’s schon gehört? Bei der Maria im Wirtshaus ist eingebrochen worden, das Geld ist weg und die Schank verwüstet. Die Zapfhähne sind abgerissen und die Bierflaschen zerschlagen. Sie vermuten …«

      Paula atmet tief aus und sagt: »Das kann ich mir schon denken. Das haben sie davon. Alles muss seine Grenze haben, auch das Mitleid …«

      Leopold sieht Paula an. »Aber die sind doch bei der Maria untergebracht, die werden nicht …«

      Paulas Blick fixiert einen Punkt an der Wand, knapp über Leopolds Kopf: »Die kommen mit nichts und erwarten sich alles. Dass wir ihnen alles geben, Essen, Kleidung, ein Dach über dem Kopf, und dann wollen sie auch noch, dass wir …«

      Leopold seufzt und schlägt die Zeitung zu.

      »Wie war’s heut’ bei der Annemarie?«

      Paula hebt die Schultern und lässt sie wieder fallen: »Wie immer.« Sie geht zur Anrichte und wischt mit dem Geschirrtuch ein paar Wassertropfen auf.

      »Leopold«, Paula nähert sich dem Tisch, »Leopold, können wir noch einmal über deine Zähne reden?«

      Er blickt sie an: »Ah ja, das wollte ich dir sagen. Ich bin heut’ beim Zahnarzt gewesen und hab’ mir das hier besorgt.« Aus der Tasche zieht er einen kleinen, halbrunden Behälter und klappt ihn auf. Darin liegt die Schutzvorrichtung aus Plastik, von der Luise heute Nachmittag gesprochen hat.

      »Na, langsam ist es auch Zeit geworden …«

      Luise sitzt auf ihrem Balkon und blickt auf das dunkle, gleichmäßig rauschende Flussband. Die Postkarte, die sie heute von ihrer Tochter bekommen hat: Irgendetwas stimmt nicht mit ihr. Zu euphorisch ist sie gewesen, zu sehr ist sie ins Detail gegangen. Zwischen den genauen Schilderungen ihres Tagesablaufes, zwischen den Lobgesängen auf das Wetter, das Essen, die Menschen verbirgt sich doch etwas. Ihre Tochter, die sonst kaum Postkarten schreibt. Und wenn, dann verschickt sie nur knappe Grußbotschaften. Seltsam. Vielleicht ist sie aber auch wirklich begeistert von diesem Land, von diesem so fremden Land. Luise zieht an ihrer Zigarette. Dass Annemarie noch immer so tut, als wäre sie vertraut mit Leopold. Dabei ist das sechzig Jahre her, das mit dieser Jugendliebe. Obwohl – ein Traumpaar sind sie damals schon gewesen, die Annemarie und der Leopold. Sie haben wild und unkonventionell gelebt, sind gereist, haben auf Ehepapiere gepfiffen und so weiter. Nur dann, dann hat Annemarie beschlossen, auszuwandern. Sie wollte in


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