Nachricht an den Großen Bären. Eva Schörkhuber

Nachricht an den Großen Bären - Eva Schörkhuber


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zu schaffen gemacht. In dem Moment, als ich meine Augen schließen, vor Zoras letztem Bild verschließen wollte, ist eine Ratte durch das Atelier gehuscht. Zora hat gelacht und gemeint, ja ja, diese Ratte wohne hier, aber auch sie habe Angst vor ihren Bildern.

      »Haben Sie keine Angst?«

      Ich fahre hoch. Habe ich richtig gehört? Hat meine Mitreisende, diese Lehrerinnenschwester, tatsächlich das Wort an mich gerichtet? Hat sie mir diese Frage gestellt? Ich blicke sie an. Sie sieht mich an. Ihr Gesicht ist glatt und freundlich, ihr Blick unverbindlich. Kann sie Gedanken lesen, will sie wissen, ob ich Angst habe vor Ratten oder vor Zoras Bildern?

      »Wovor sollte ich Angst haben?« Meine Stimme ist belegt, sie klingt rostig. Sie sieht mich ruhig an. Nur um ihre Mundwinkel spielt ein leises, leicht spöttisches Lächeln, so scheint es mir, aber vielleicht täusche ich mich auch, vielleicht sind meine Nerven doch …

      »Na ja, in Zeiten wie diesen in Europa unterwegs zu sein. Und, bitte verstehen Sie mich nicht falsch, Sie sind doch auch eine zierliche, eine etwas fragile Person.«

      Ich bin verblüfft. Zum einen wegen ihrer Stimme, die viel tiefer ist, als ich es erwartet hätte. Zum anderen wegen ihrer Bemerkung. Sie ist allein von der Provinz in die Stadt gereist mit ihren Provinzlehrerinnenerfahrungen und fragt mich, ob ich Angst habe? Mich, die die letzten Jahre in der Stadt verbracht, mich, die sich entschlossen hat, diese Reise anzutreten, um die Dokumente zu übergeben?

      Ich schüttle unwillig den Kopf und sage: »Nein, ich habe keine Angst. Angst ist doch das größte Problem hier.«

      »Ja, da haben Sie recht, wir müssen immer schön schauen, dass es nur nichts zum Zähneklappern gibt. Das ist ungesund.« Ihre Stimme ist jetzt die einer besorgten Pflegerin. Mit ihren Sätzen scheint sie meinen Kopf tätscheln, über meine Wange streichen zu wollen. Sie kann sich diese Worte, diesen fadenscheinigen Trost sparen. Ich setze an, um ihr zu sagen, dass ich nicht empfänglich sei für radebrechende Ratschläge und dass sie mich nicht weiter mit übergriffigen Fragen behelligen soll. Ich setze aber wieder ab, als ich bemerke, dass sie sich von mir ab- und dem Fenster zugewandt hat. Ihr Blick streunt ins Leere und scheint sich irgendwo weit hinter dem Horizont zu verlieren. Ich behalte sie im Auge. Die so plötzlich aufgetauchte Frage, das seltsame, kurze Gespräch – vielleicht muss ich die Geschichte, die ich mir von ihr gemacht habe, noch einmal revidieren, vielleicht ist sie interessanter, als ich mir gedacht, als ich sie mir ausgedacht habe. Sie spielt zerstreut mit ihrer Halskette. Der Daumen und der Zeigefinger der rechten Hand gleiten das feingliedrige, schmale V an ihrem Hals auf und ab, auf und ab. Aus dem engen Ausschnitt ihrer blütenweißen Bluse rutscht die Kette mit dem Anhänger. Nein, es ist kein goldenes Kreuz, wie ich vermutet habe. Ein glattes, grellweißes kleines Rechteck baumelt vor den Knöpfen der Bluse, von der es sich kaum abhebt. Was ist das? Ein glattpolierter Quarzstein? Elfenbein? Ich fasse mir ein Herz: »Sie haben einen sehr schönen und ausgesprochen ungewöhnlichen Anhänger …«

      Sie sieht mich an. Sie lächelt und zeigt dabei ihre Zähne. Ihre Zähne sind blendend weiß und ebenmäßig. Ich überlege, wie sich eine Lehrerin oder eine Krankenschwester derart schöne Zähne leisten kann. Die Karies unserer Zeit hat den meisten Menschen zugesetzt. Die Fäulnis hat ihre Herzen und ihre Körper befallen. Bis auf die wenigen, die es sich gut gerichtet, die sich gut eingerichtet haben in diesen morschen Verhältnissen, verdienen alle im Schnitt um ein Drittel weniger als noch vor wenigen Jahren. Die Arbeitszeit hat sich verlängert. Schrittweise. Zuerst die damals noch so genannte Flexibilisierung. Dann die Zehnstundentage mit der Begründung, in der Wirtschaftskrise müssten alle etwas mehr anpacken. Dann der Zwölfstundentag. Ohne Begründung. Die Kürzungen der Sozialleistungen. Ein Arztbesuch pro Monat, chronisch Kranke müssen Kredite auf ihren Lohn aufnehmen. Die Reichen sind nicht besteuert worden. Sie haben geschröpft und abgeschöpft, während viele arbeitende Menschen die Schuld bei den Ausländern, bei den Ausländerinnen gesucht haben. Die nähmen ihnen die Arbeit weg. Die bräuchten so viele Extrazuwendungen, dass für sie, die Einheimischen, nichts mehr bliebe. Der Graben zwischen den Armen und den Reichen ist immer größer geworden, während sich eine Mehrheit auf einen Kampf der Kulturen eingeschworen hat. Die Meute, die sich damals gebildet hat, hat diesen Kampf vorangetrieben. Meldungen zum bevorstehenden Untergang des Abendlandes. Vorträge über die sogenannte Überfremdung. Schlagzeilen, in denen Andersgläubige und Anderssprachige pauschal verdächtigt und verurteilt werden. Aufenthaltsverbote in Freibädern und Parks. Brennende Unterkünfte. Die Einweisung in die Lagerzonen. Immer mehr Menschen haben sich mit diesen Methoden einverstanden erklärt. Immer mehr haben mitgemacht. Sie haben an den Fingernägeln gekaut aus Angst, aus Hunger, in ihren Mäulern sind die Zähne verfault, doch anstatt sich gegen diejenigen zu erheben, die sie ausbeuten, die sie schröpfen, haben sie sich gegen die noch Schwächeren gewandt. Und die damalige Regierung, die hat zugesehen, die hat die Hände in den Schoß gelegt und nichts gemacht. Vielleicht hat sie Däumchen gedreht oder sich gar die Hände gerieben, wer weiß das schon. Auf jeden Fall hat sie … oh nein, dieser Anhänger, dieser glatte und grellweiße Anhänger ist ein Zahn! Jetzt erkenne ich es. Um den Hals meiner Mitreisenden baumelt ein Zahn! Sie nimmt den Anhänger zwischen Daumen und Zeigefinger und hält ihn mir entgegen. Sie lacht. Ihre Zähne blenden mich.

      »Jetzt werden wir gleich in L. sein«, sagt sie und erhebt sich. Sie streicht den Rock glatt und schließt den Gürtel des Mantels. Sie nimmt den Griff des alten, zerbeulten Koffers und hievt ihn aus dem Abteil. Sehr schwer muss er sein, dieser Koffer. Ich sehe, wie sie ihn durch den Gang hin zum Ausstieg zerrt. Was hat sie in diesem Koffer? Warum hängt ein Zahn um ihren Hals? Ist in dem Koffer vielleicht ein totes Tier? Oder ein toter Mensch? Hat sie aus dieser Tier-, aus dieser Menschenleiche einen Zahn herausgebrochen? Ich fahre mit der Hand über mein Gesicht. Ein kalter Schweißfilm liegt auf meiner Stirn, auf meinen Schläfen. Ruhig muss ich bleiben. Ich darf nicht in Panik geraten. Ich darf keine Angst haben. Ich atme ein, ich atme aus. Es ist nur eine verrückte Frau, die mit zu viel Gepäck in die Stadt gefahren ist. Der Zahn ist nichts anderes als ein eigenwilliges Schmuckstück. Echt oder unecht, was geht mich das an. Meine Hände krampfen sich um die Armlehnen. Mein Atem will sich nicht beruhigen. Einatmen, ausatmen. Einatmen. Es ist nichts passiert. Ausatmen. Es ist eine seltsame Reisebekanntschaft, mehr nicht. Sie wird gleich aussteigen. Ich werde sie nie mehr wiedersehen. Ich greife mir an die Brust, ich spüre die Feder, Claires Talisman. Ich nehme die Feder in die Hand. Meine Hände zittern. Ich muss doch, ich muss doch wissen, was diese Person macht. Vielleicht ist sie eine Spionin, vielleicht sind sie mir schon auf den Fersen. Ich werde das Spiel umdrehen. Ich werde diese Frau verfolgen. Ich werde aus dem Zug steigen und sie beobachten. Ich werde sehen, wohin sie geht, ich werde feststellen, zu welchem Zweck und mit welchem Auftrag sie dorthin geht. Dann werde ich wissen, ob sie mich verfolgt hat, ob sie geschickt worden ist, um mich auszukundschaften. Ich erhebe mich. Nehme die Reisetasche von der Gepäckablage und schlüpfe in den Staubmantel. Was mache ich mit den Papieren? Vor den Abteilfenstern gehen Menschen vorbei Richtung Ausstieg. Ich muss schnell und sehr vorsichtig sein. Ich lasse mich noch einmal auf den Polstersitz fallen. Die Reisetasche stelle ich auf den Sitz neben mir. Ich beuge mich mit meinem ganzen Körper hinüber zu meiner Tasche und ziehe schnell die Papierrollen zwischen den Polstern hervor. Ich stecke sie in die Tasche. Die Räder ächzen, die Bremsen quietschen. Der Zug hält.

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      Du wirst nun das Album Perpetuum Mobile von den Einstürzenden Neubauten abspielen. Du kannst dafür einen Plattenspieler, einen CD-Player oder dein Mobiltelefon benutzen. Du wirst die erste Nummer hören und zwischen den Zeitpunkten 2:22 und 2:41 innehalten. Du konzentrierst dich auf diese Textzeilen. Du hörst sie drei Mal. Beim dritten Mal wirst du sie schon mitsprechen können. Sage jetzt:

      Das Biest ist zwar noch nicht richtig wach,

      aber auch noch lange nicht hinüber,

       grad erst hat es sich hin und her gewälzt

      und im Schlaf mit den Zähnen geknirscht.

      Diese Textzeilen werden dir dabei helfen, dich auf die nächste Geschichte zu konzentrieren. Sie wird dich in jenen schattenhaften Bereich bringen, der zwischen deinen Träumen und deinen Erinnerungen liegt. Ich zähle jetzt bis zehn. Wenn ich bei zehn angelangt


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