Wüste Welt. Wolfgang Popp
welche Schwierigkeiten ich mit ihm habe, aber natürlich kann sie sich seinem Charme genauso wenig entziehen wie alle anderen. Wenn er redet, hängt sie an seinen Lippen, und wenn er einen Scherz macht, lacht sie lauthals auf, aber was soll ich ihr das vorwerfen, mir geht es ja nicht viel anders. Jedenfalls wartete ich an dem Morgen, an dem das SMS kam, bis sie aus dem Haus war und versuchte dann erst, meinen Bruder zu erreichen, und dass ich ihm hinterherfliegen würde nach Marokko, das sagte ich ihr erst am Abend.
Natürlich ist da niemand in Zimmer 118, und ich werfe mich auf das leere Bett mit der grob gewebten rotorangen Überdecke. Lange hält es mich dort aber nicht, und so stehe ich wieder auf und beginne das Zimmer zu durchsuchen. Ich schaue unter der Matratze nach, hinter dem Bett und im Nachtkästchen. Nichts. Ich krieche auf allen Vieren über den Boden und unter den Schreibtisch. Jemand hat etwas unter eines der Tischbeine gesteckt. Es ist ein auf Briefmarkengröße zusammengefaltetes Blatt Papier. Ich hebe den Tisch mit meinem Rücken an und ziehe es heraus. An dem Tisch, der jetzt wackelt, falte ich das Papier auseinander. Es ist der Ausdruck eines Wikipedia-Eintrags über das Volk der Chleuh. Sie bewohnen den Antiatlas, steht da, gehören zu den Berbern, sind zwar Muslime, glauben aber an Geister, und ihre Frauen verfügen über zwei verschiedene Geheimsprachen. Die Wörter Geister und Geheimsprachen hat jemand mit einem gelben Leuchtstift markiert. Schon wieder Geister, die ich nicht gerufen habe, wie in dem SMS meines Bruders. Der Zettel stammt jedenfalls von ihm, da habe ich nicht den geringsten Zweifel. Ich falte ihn wieder zusammen und stecke ihn in die Hosentasche. Es ist knapp vor sieben, und ich habe Hunger. Ich gehe noch ins Bad und wasche mir das Gesicht mit kaltem Wasser. Mir hilft das, wenn eine unangenehme Stimmung sich mir auf die Haut zu legen beginnt. Zumindest bilde ich mir das ein.
Tafraoute sieht aus der Nähe nicht besonders einladend aus, genauso wenig seine Restaurants, die sich alle mehr oder weniger gleichen. Neonlicht, rostige Klappsessel, Plastiktischtücher. Und gähnende Leere. Vor dem Marrakesh sitzen zumindest drei ältere Männer, und so nehme ich am Nebentisch Platz. Die Männer haben einen Brotkorb vor sich stehen, Butter und eine Schüssel mit Oliven. Es nimmt aber nur ab und zu einer von ihnen einen Happen, in erster Linie rauchen sie eine nach der anderen. Alle drei tragen sie grob gewebte Kaftane, der eine, der seitlich zu mir sitzt, hat außerdem noch die Kapuze über den Kopf gezogen, sodass ich nur den glühenden Punkt seiner vorstehenden Zigarette sehe. Kaum dass ich sitze, kommt der Wirt mit der Speisekarte an. So rar wie die Gäste hier sind, will er offensichtlich nicht riskieren, dass ich es mir anders überlege und wieder aufstehe. Alkohol gibt es keinen, dafür frisch gepressten Orangensaft, ungewohnt um diese Tageszeit, aber warum nicht. Ist wahrscheinlich auch ganz vernünftig, weil ich gerade merke, dass ich den Tag über viel zu wenig getrunken habe. Der Wirt ist freundlich und spricht ganz passabel Englisch. Ich bestelle eine Tajine, Huhn mit Zitrone, das große Glas mit Orangensaft habe ich auf einen Zug ausgetrunken und bestelle gleich noch eines. Der Wirt lacht, als er das Glas vor mich hinstellt, und ich hole das Foto meines Bruders aus der Tasche.
Haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen, frage ich. Ich suche ihn.
Der Wirt hält das Foto mit ausgestrecktem Arm, rückt seine Brille zurecht und kneift die Augen zusammen.
Ja, sagt er. Der war hier. Vor ungefähr einer Woche muss das gewesen sein.
Dann dreht er sich zum Nebentisch und spricht die drei Alten auf Arabisch an. Der Mann mit der Kapuze antwortet etwas und winkt dabei gleichzeitig mit einer betont lässigen Bewegung den Wirt zu sich. Er nimmt ihm das Foto aus der Hand und betrachtet es konzentriert. Sein Gesicht sehen kann ich immer noch nicht, aber ich merke, dass er einen tiefen Zug nimmt, weil die Glut seiner Zigarette sekundenlang aufglimmt. Dann nickt die Kapuze, der Mann steht auf und kommt herüber. Er zieht einen Stuhl heran und setzt sich zu mir an den Tisch. Jetzt sehe ich auch sein Gesicht, sonnengegerbt, faltig, unrasiert. Er könnte Ende fünfzig sein oder Anfang siebzig. Aber die Augen blitzen. Selbstbewusst, schalkhaft, schlau. Ein Mensch, der Fassaden bauen kann und deshalb auch weiß, wie man hinter sie blickt.
Ist Ihr Bruder, nicht?
Ich nicke.
Ist unschwer zu erkennen, sagt er, und fährt erst nach einer Pause fort. Ja, wir waren gemeinsam unterwegs.
Ach, ja? Und wann war das?
Der Mann zählt etwas an seinen Fingern ab.
Genau heute vor einer Woche hat er auch hier zu Abend gegessen. Da haben wir uns kennengelernt. Er hat mich gefragt, ob ich mich auskenne hier in der Gegend, und ich habe ihm gesagt, dass er den richtigen Mann gefunden hat.
Wo wollte er hin?
Die Geisterzeichnungen sehen.
Was für Zeichnungen, frage ich nach.
Sehr alte Felsritzzeichnungen aus der Steinzeit. Die Menschen hier sagen, dass sie von Geistern stammen.
Die wollte er sehen?
Ja, unbedingt. Er wäre am liebsten noch am Abend losgefahren. Ich habe ihm aber gesagt, das könne er sich aus dem Kopf schlagen. Die Straßen sind schlecht, und man muss mit dem Auto durch zwei Flüsse.
Da will ich auch hin, sage ich. Können Sie mich morgen hinbringen?
Der Mann sieht kurz in die Luft, so als müsse er überlegen.
Ja, morgen geht, sagt er schließlich.
Ich wohne im Salama, sage ich.
Ich bin um neun da, sagt er.
Als ich meinen Bruder vor einer Woche anrief, meldete sich sofort die Mailbox. Er musste das Handy ausgeschaltet haben. Ich schrieb ihm ein SMS und gab ihm meine Reisedaten durch. Geantwortet hat er nicht, und zurückgerufen hat er mich auch nicht, aber was habe ich mir auch erwartet? Wer sich auf meinen Bruder einlässt, weiß nie, woran er ist. Etwas mit ihm zu unternehmen, hat schon immer geheißen, keine Ahnung zu haben, was als nächstes passiert.
Am nächsten Morgen um neun ist nichts von meiner neuen Bekanntschaft zu sehen. Ich warte fünf Minuten, dann setze ich mich auf die Dachterrasse des Hotels und bestelle mir einen Kaffee. Von der Brüstung aus habe ich den Marktplatz und den Hoteleingang im Auge. Die noch tiefstehende Frühlingssonne taucht die umliegenden Berge in ein honiggelbes Licht, der Himmel indigoblau, der Kaffee stark. Kurz kann ich meinen Bruder vergessen und es kommt so etwas wie Urlaubsstimmung auf. Ich halte mein Gesicht in die Sonne, doch als ich die Augen schließe, ist er gleich wieder da, sein zufriedener Blick auf der orange leuchtenden Innenseite meiner Lider. Zwanzig Minuten nach neun taucht der Alte auf. Ich winke ihm zu und er winkt kurz mit seiner Zigarette zurück. Mein Bruder und er, sie haben einander bestimmt gut verstanden.
Anfangs ist die Straße noch gut, doch in einem kleinen Dorf lässt mich Ahmed auf eine unbefestigte Piste abbiegen, die zu einem Fluss hinunterführt.
Da müssen wir hinüber, sagt er.
Schaffen wir das mit dem Wagen?
Ahmed sagt nichts und deutet stattdessen hinüber zum anderen Ufer.
Ich bin kein guter Fahrer, im Gelände war ich überhaupt noch nie unterwegs und lasse den Wagen einfach langsam in das Kiesbett des Flusses rollen. Bald reicht das Wasser bis zur Bodenplatte, und wir bleiben fast stecken.
Mehr Gas, sagt Ahmed und hebt leicht die Füße an, so als würde das Wasser schon im Wagen stehen.
Die Räder drehen kurz durch, greifen schließlich, der Wagen macht einen Sprung, und dann sind wir draußen aus dem Fluss.
Auf der anderen Seite ist die Piste besser und ich habe wieder die Nerven, mich mit Ahmed zu unterhalten.
Warum sprechen Sie so gut Englisch, frage ich ihn.
Oxford, sagt er mit einer Engelsmiene.
Ich schaue ihn groß an, komme aber nicht dazu, nachzufragen, weil er gleich nachsetzt.
Ein Scherz, sagt er. Ich habe nie eine Universität von innen gesehen. Was ich an Fremdsprachen kann, habe ich von Touristen aufgeschnappt.
Nicht übel, sage ich.
Fast perfekt, sagt Ahmed und schmunzelt aus der Windschutzscheibe hinaus, dorthin, wo quer