Wüste Welt. Wolfgang Popp
und ich beuge mich noch einmal hinunter zu dem Bild. Mein Bruder trägt eine alte Münze um den Hals.
Er hat gesagt, dass die Münze auf jeden Fall scharf sein muss.
Ich sehe sie mir genauer an, die Nase fast am Glas. Die Prägung lässt sich gut lesen. Es ist eine spanische Münze aus den Dreißigerjahren, wahrscheinlich wollte mir mein Bruder damit einen weiteren Hinweis auf diese geheimnisvolle spanische Kolonialstadt, dieses Sidi Ifni, zukommen lassen. Nur für den Fall, dass ich in Tafraoute Ahmed nicht getroffen hätte, von dem ich mir mittlerweile sicher bin, dass er an dem Abend im Marrakesh auf mich gewartet hat.
Der Mann ist mein Bruder, sage ich, und wieder muss der Fotograf lachen.
Ich weiß, sagt er, und dabei grinst es nur so aus ihm heraus.
Ich bin es gewohnt, dass mein Bruder Scherze über mich macht. Früher hat mich das verunsichert, heute stört es mich nicht mehr. Gut, es stört mich, aber nicht mehr so wie noch vor zehn Jahren. Es fällt mir mittlerweile leichter, gewisse Dinge zu ignorieren. Mein Bruder meint es ja auch nicht böse, er ist einfach ein Spaßvogel. Erst ein Witz und dann alles andere, das ist seine Einstellung. Ja, ich verteidige meinen Bruder vor mir selbst. Eine Hälfte von mir versteht ihn besser als die andere. Dieses verdammte Lächeln. Wie soll man so einem auch böse sein.
Der Mann steckt das Foto in ein großes, braunes Kuvert. Umgerechnet zehn Euro verlangt er dafür. Ich versuche nicht einmal, den Preis herunterzuhandeln. Damit hat er seinen Tagesumsatz gemacht. Wenn ich in einer Stunde noch einmal vorbeikomme, wird der Laden geschlossen sein und er wird in einem Café sitzen und von Paris träumen. Soll sein. Ist doch eine gute Sache, einem alten Mann sein Träumen zu finanzieren. Die Vorstellung, wie er so zufrieden im Schatten sitzt und in seinem Tee rührt, hat etwas. Genauso geht es, das Leben. Kann aber nicht jeder. Die einen haben das in ihrer DNA, die anderen nicht. Mein Bruder gehört zusammen mit dem Fotografen zu Ersteren, ich zu Zweiteren. Aber man kann es ja immer wieder mal versuchen, und so beschließe ich hier und jetzt, mich von meinem Bruder und seinem albernen Foto nicht zur Eile antreiben zu lassen. Sidi Ifni kann warten, genauso wie diese alberne Schnitzeljagd. Ich will mich jetzt einfach treiben lassen durch diese Gassen und mich den Eindrücken hingeben. Da steigt mir auch schon ein intensiver Duft von Gebratenem in die Nase. An der nächsten Ecke entdecke ich einen Mann, der mit einem kleinen Holzkohlengrill auf der Straße steht, brutzelnde Spieße auf der Glut. Es sieht gut aus, die scharf angebratenen Fleischstücke, das Fett, das zischend auf die glühenden Kohlen tropft, hochzüngelnde Flammen, die der Mann gleich wieder mit seinem ölig glänzenden Strohfächer verweht, der Geruch nach Kreuzkümmel und Pfeffer. Ich habe ein wenig Ahnung von Gewürzen, habe sogar einige Kochkurse belegt, aber wieder aufgehört. Ja, genau, ein begnadeter Koch ist er auch, mein Bruder. Weit besser, als ich es je hätte werden können, also habe ich es wie so vieles andere auch bleiben lassen. Einer der unzähligen Grabsteine auf meinem Friedhof der ungenutzten Möglichkeiten.
Neben dem Holzkohlengrill stehen billige Campingmöbel, zwei Tische und ein paar Sessel aus schmutzigem, weißem Plastik. Der Verstand sagt nein und erzählt mir ein Dutzend Geschichten über Durchfall und Magenkrämpfe, aber dann sehe ich meinen Bruder, der über mich lacht, wie ich so dastehe und grüble und raufe mit meiner Vernunft, und setze mich aus Trotz hin. Bevor ich noch etwas sagen kann, kommt der Mann mit einem Brotkorb, und gleich darauf bringt er eine große silberne Platte mit sicherlich einem Dutzend Spießen darauf. Ich nicke ihm zu in glücklichem Ausgeliefertsein. Anscheinend bin ich doch so gestrickt, dass ich jemanden brauche, der mir sagt, wie es weitergeht. Ja, muss so sein, warum wäre ich sonst auch hier.
Zu viel, sage ich, und der Mann lacht, und wie schon mehrmals in Marokko bekomme ich diese federleichte Geste zu sehen, die Hände, die sanft die Luft nach unten drücken, oder alles, was sonst nach oben steigen und einem Lust und Zeit rauben könnte. Warte ab, sagen seine Hände, und so esse ich einfach ganz gemächlich unter seinem Lächeln dahin, und als die Platte sich tatsächlich langsam leert, da meinen seine Hände mit einem langsamen Bogen nach oben, na, habe ich es dir nicht gesagt?
Auf meinem Rückweg zum Parkplatz komme ich durch die Gasse mit den Parfümhändlern. Wilde Gerüche. Am dominantesten eine schwere, blumige Süße. Zäh wie Honig. Ein nuttiger Duft. Ich mache den Fehler und schaue in ein Schaufenster, in dem in Gläsern die Blüten, Hölzer und Früchte ausgestellt sind, aus denen die Aromen gewonnen werden. Der Ladeninhaber stürzt sich gleich auf mich, die linke Hand voller kleiner Flacons. Schon sprüht er mir den ersten Duft auf den Handrücken, ich rieche daran, rümpfe die Nase und winke ab. Zu schwer, versuche ich ihm begreiflich zu machen und schiebe mich gleichzeitig die Gasse weiter und glaube schon, ihn abgeschüttelt zu haben, als er plötzlich wieder neben mir auftaucht, dieses Mal auf der anderen Seite, und mir auch den zweiten Handrücken vollsprüht. Irgendetwas mit Jasmin. Nicht mehr so schwer wie der erste Duft, aber immer noch viel zu intensiv. Wieder winke ich ab, der Mann lässt aber nicht locker. Mittlerweile sind wir auf dem großen Platz, da vorne steht schon mein Wagen, no, thanks, sage ich noch einmal und taste in der Hosentasche nach dem Autoschlüssel. Ich drücke auf den Knopf, ich höre, wie die Zentralverriegelung aufschnappt und sehe die Warnblinkanlage kurz aufleuchten. Ich steige ein, werfe die Tür hinter mir zu und starte den Wagen. Es ist so unerträglich heiß, dass ich, noch bevor ich losfahre, das Fenster auf der Beifahrerseite herunterlasse. Der Mann bemerkt das und läuft herüber, und setzt plötzlich, als er sich herunterbeugt, einen ganz geheimnisvollen Blick auf. I don’t show everybody, sagt er und hält einen dunkelblauen Flacon hoch, this mixture is the secret of my family for many, many generations. The scent of ghosts, sagt er und sprüht mir seinen Geistergeruch in den Wagen, sodass ein paar feine Tropfen auf der Sonnenbrille meines Bruders landen. Die Brille sieht mich ohne Augen an, der Duft riecht nach nichts, was ich kenne.
Die Straße nach Sidi Ifni führt hoch über dem Atlantik entlang, aber so weit im Landesinneren, dass ich nichts sehe von Strand und Küste. Bei einer Abzweigung Richtung Meer biege ich deshalb kurzerhand ab und folge einer sandigen Piste, in die der Regen tiefe Rinnen gewaschen hat. Sand wirbelt auf, legt sich aufs Seitenfenster und auf die Rückspiegel, und bald habe ich ihn auch im Mund, weil ihn die Lüftung ins Wageninnere bläst. Dann taucht das Ende der Straße auf und ich stelle den Wagen auf einem kleinen Parkplatz ab. Rosa getünchte Stufen führen zum Strand hinunter, zu einem einfachen Hotel und einem Café, weiße Metalltische mit rostigen Scharnieren unter gelben Sonnenschirmen. Was hält mich eigentlich davon ab, einfach hier zu bleiben, zu lesen, zu baden und mich auszuruhen und an nichts zu denken. Kurz fällt alles von mir ab, die Gedanken an meinen Bruder segeln wie Laub zu Boden und ich weiß nur mehr, dass ich am Atlantik stehe, und selbst das hört sich an wie ein Märchen, unglaublich, dass da nichts sein soll außer Wasser und nach Tausenden Kilometern die Küste von Amerika. Mit einem Stolz, als wäre ich Gott am siebenten Schöpfungstag, sehe ich dem Atlantik dabei zu, wie er mit seinen wilden Wogen den schweren Uferkies zum Rollen bringt, ein fortwährendes Murmeln und Klicken. Wenige Dinge gibt es doch noch, bei denen mein Bruder seine Finger nicht im Spiel hat und die mich seitlich an ihm vorbeidenken lassen.
Ein guter Ort hier, jetzt noch ein starker Kaffee, und ich werde zufrieden sein wie schon lange nicht mehr. Ein Bursche in Bermudas, Anfang zwanzig, sitzt mit zwei jungen Frauen an einem Tisch, zwischen ihnen eine Platte mit Seafood, sie essen mit den Händen, puhlen die Garnelen aus ihren Schalen und wischen die fettigen Finger immer wieder ins Papiertischtuch. Ein grelles Scherzen mit vollem Mund ist da im Gang, anzügliche Blicke züngeln im Dreieck, ich lasse einen Sicherheitsabstand und setze mich zwei Tische weiter an den Rand der Terrasse. Zusätzlich drehe ich meinen Sessel so, dass ich das Geflirte hinter meiner kalten Schulter habe, und bestelle einen Espresso. Mein Blick wandert den Strand hinauf und bleibt an zwei Silhouetten hängen, die vor der Brandung tanzen. Eine Frau im Sommerkleid, und wenige Schritte vor ihr tollt ein Hund, und wie sie da versucht, ihm seinen Holzstock zu entwinden und dabei lacht, wirkt sie wie ausgedacht.
Ich habe meine Freundin in den fünfzehn Jahren, die wir zusammen sind, nie betrogen, ja nicht einmal daran gedacht habe ich, aber jetzt, bei dieser Frau in der Gischt und im Sonnenlicht, da beginnt hinter meinem hitzeflirrenden Blick ein Film abzulaufen, wie wir ins Gespräch kommen, sie dann hinaufzeigt zum Hotel und wir schließlich in ihrem Zimmer enden, das Meer im Viereck des Fensters.
Mein Bruder hat sich nie auf längere Beziehungen eingelassen.