Wüste Welt. Wolfgang Popp

Wüste Welt - Wolfgang Popp


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alle in diesem seltsamen Grünton lackiert. Die Straße windet sich wie eine satte Riesenschlange durch die Berge, silbrig-grau, gemustert mit den Rissen und Schlaglöchern im Asphalt. Die Sonnenbrille meines Bruders, die ich vor zwei Tagen auf der Passhöhe gefunden habe, liegt auf dem Armaturenbrett und beobachtet mich mit ihrem leeren und ihrem gesprungenen Auge.

      Du Schuft, fahre ich sie wütend an, muss aber gleich darauf lachen und spüre im nächsten Moment, wie mir die Augen feucht werden. Mein Bruder hat mich regelmäßig in so einen Gefühlswirrwarr aus Wut und Traurigkeit geschickt, mit einem hysterischen Lachen dazwischen. Gar nicht absichtlich wahrscheinlich. Das ist einfach er. Und wenn er mich wieder ungewollt fertiggemacht hat, hat er mich angestarrt wie ein Verhaltensforscher seine Laborratte. Ausgenutzt hat er diese Situationen aber nie. Ganz im Gegenteil. Er ist ganz ruhig geworden, ungewohnt zurückhaltend war er in diesen Momenten und hat mich fast ergriffen beobachtet.

      Die Landschaft weitet sich jetzt zu einer Hochebene, die Straße führt kerzengerade dahin. Schon von Weitem fällt mir ein knallroter Fleck auf, lässt sich auch gar nicht übersehen in dieser leeren Wüstenlandschaft, die nur aus Brauntönen besteht. Irgendein Stofffetzen, den jemand an einen Stock gehängt hat, der da allein und windschief neben der Straße im Boden steckt. Weil ich mir ohnehin ein wenig die Füße vertreten will, halte ich und sehe mir die Sache aus der Nähe an. Was da hängt, ist eine alte Wollhaube, an mehreren Stellen eingerissen und aufgetrennt, die Fäden hängen lose herunter. Ich nehme sie ab und wundere mich nicht schlecht, als ich darunter eine CD entdecke. Bonnie »Prince« Billy &The Cairo Gang, sagt mir nichts, noch nie gehört, hört sich nach einem dieser Weltmusik-Projekte an, für die sich ein bekannter westlicher Musiker mit einer unbekannten Band aus der Dritten Welt zusammentut. Die CD ist völlig zerkratzt, aber seltsam, die Kratzer sehen nicht wie gewöhnliche Abnutzungsspuren aus, mehr so, als hätte sie jemand absichtlich in die silberne Oberfläche geritzt. Ich stecke sie in den CD-Spieler im Auto, sie springt gleich weiter auf den zweiten Track. Teach me to bear you, heißt es im Refrain. Wer da wen auszuhalten hat, denke ich, weil ich mir sicher bin, dass mein Bruder die CD für mich hinterlassen hat. Die gehört zu der seltsamen Schnitzeljagd, die er für mich inszeniert, der Spinner.

      Allzu viel verstehe ich nicht von dem Text, aber beim zweiten Anhören bleibt noch eine Zeile hängen. I want to read you a life of parties and wisdom. Ja, mit vollen Hosen lässt sich leicht stinken. Wem alles leicht von der Hand geht, der kann einem natürlich entspannt erzählen von einem Leben, das aus ausgelassenem Feiern und Weisheit besteht. Verdammter Alleskönner. Egal, womit er sich beschäftigt hat, ein paar Tage später hat er die Sache beherrscht. Ist natürlich ein Albtraum, wenn der eineinhalb Jahre jüngere Bruder ein Genie ist. Da bekommt man von seinen Eltern eine Menge Aufmerksamkeit ab und fühlt sich so richtig wohl. Angefangen hat das schon ganz früh, noch als wir Kleinkinder waren. Wenn wir mit Holzklötzen spielten, waren seine Türme immer höher als meine und fielen auch nicht gleich wieder um. Und wer beim Memory-Spielen gewinnen wird, stand auch immer von vornherein fest. Und das noch bevor er richtig sprechen konnte. Am schlimmsten war aber der Abend vor meinem ersten Schultag. Ich war ja auch nicht blöd und kannte damals schon alle Buchstaben, was ich meinen Eltern stolz präsentieren wollte. Mit einem Buch setzte ich mich zwischen sie auf die Couch und begann daraus vorzulesen. Da kam mein Bruder und hockte sich scheinbar ganz unbeteiligt dazu. Und gerade als ich umblättern wollte, fuhr er plötzlich fort und sagte die ganze nächste Seite auswendig auf. Wir glaubten zuerst, er hatte sich das alles durchs Zuhören gemerkt, aber mein Vater zog daraufhin die Zeitung aus seiner Aktentasche und hielt sie meinem Bruder hin, und der las daraus vor, als gäbe es nichts Einfacheres auf der Welt. Brauche ich jetzt nicht dazusagen, wohin die Aufmerksamkeit meiner Eltern gewandert ist und wo sie blieb und was mir sofort einfällt, wenn ich an meinen ersten Schultag denke.

      Dabei bemühten sich meine Eltern, uns gleich zu behandeln. Wenn sie anderen von uns erzählten, begannen sie immer mit mir, es gab ja auch viel über mich zu sagen, ich war ja, wie gesagt, auch nicht blöd, aber eben kein Genie, und so war die Begeisterung gespielt, wenn sie von mir sprachen, und echt, wenn es um meinen Bruder ging. Das spürt man schon als Kind, und da will man natürlich raus, und mich hat das deshalb zum Getriebenen gemacht. Von da an war ich immer auf der Suche nach einer Sache, die unberührt war von meinem Bruder, nach etwas, das ich für mich allein hatte. Doch kaum begann ich, irgendetwas zu spielen oder mich für irgendetwas zu interessieren, tauchte mein Bruder auf, setzte sich dazu, ja, und dann war es nur mehr eine Frage der Zeit, bis er mich völlig in den Schatten stellte.

      Die letzte Passhöhe, und von da an fällt das Land steil ab hinunter zur Küstenebene. Eine Serpentine folgt auf die nächste, weiß blühende Mandelbäume gleich hinter den rostigen Leitplanken, und in der Ferne, dort, wo wahrscheinlich das Meer liegt, blaugrauer Dunst. Ich habe mir den Weg gestern Abend noch auf der Karte angesehen. Es gibt eine größere Stadt auf der Route, Tiznit. Dort will ich zu Mittag essen. Tiznit und darunter 17 steht auf einem Kilometerstein neben der Straße, in zwanzig Minuten müsste ich da sein. Der Verkehr nimmt zu, und ich folge einer vierspurigen Straße ins Stadtzentrum. Männer auf Motorrädern fahren neben mir her, rufen mir etwas zu durch den Fahrtwind, erst langsam komme ich drauf, dass sie mir gegen Bakschisch den Weg in die Altstadt zeigen wollen. Ich winke ab, als würde ich mich auskennen hier, tatsächlich kann ich mich gar nicht verirren, ich bin wie ein Flugzeug, das einem unsichtbaren Leitstrahl folgt, von meinem Bruder auf Autopilot geschaltet. Ich erreiche einen großen Platz mitten in der Altstadt und stelle den Wagen ab. Gleich kommen junge Männer auf mich zu, die mir ihr Geschäft zeigen wollen. Mein Bruder wartet auf mich, sage ich und flüchte zusammen mit meiner Ausrede, die eigentlich nur eine halbe Ausrede ist, in ein verwinkeltes Gässchen, halbschattig die Luft mit einem Mal und halbschattig die Stimmen, fast so, als hätte ich einen Innenraum betreten. Rechts der Laden eines Uhrmachers, im Schaufenster alte silberne Taschenuhren und offene Räderwerke, gegenüber ein Süßwarenhändler, der selbst Zuckermandeln und Aschanti brennt, es riecht nach Kardamom und Karamell wie aus einem Märchenbuch, und dann, ein Stück weiter die Gasse hinunter, das Geschäft eines Fotografen. Innen, direkt ans Fensterglas geklebt, sind alle möglichen Aufnahmen zu sehen. Ansichten von Tiznit, kleine Mädchen in rosafarbenen Rüschenkleidern und junge Männer mit den Frisuren bekannter Fußballer. Und dann – und es wundert mich erstaunlich wenig – entdecke ich neben dem Eingang ein Foto meines Bruders. Völlig unverändert ist er, seit ich ihn zum letzten Mal gesehen habe vor zwei Jahren. Noch immer der unverwechselbare und laut Meinung vieler Frauen und auch einiger Männer unwiderstehliche, lausbübische Blick, die Wangen mit den leichten Grübchen, wenn er lacht, und die wild nach allen Seiten abstehenden blonden Haare. Wie Ahmed schon bemerkt hat, sehen wir einander ähnlich und auch wieder nicht, ich habe die gleichen Augen, aber einen anderen Blick, die gleichen Wangen, nur kann ich lachen, so viel ich will, es zeigt sich nicht auch nur der Anflug eines Grübchens, und meine Haare haben zwar die gleiche Farbe, fallen aber in einen biederen Scheitel, egal wie viel Gel ich verwende.

      Ja, es stimmt natürlich. Viele meiner Freundinnen waren mit Sicherheit nur mit mir zusammen, weil sie es nicht geschafft hatten, sich meinen Bruder zu angeln. Ich war Ersatz, aber das war ich mit diesem Bruder ja immer, und letztendlich ist jeder doch immer nur irgendwie Ersatz, und außerdem gewöhnt man sich an alles. Unangenehmer war es mit den Mädchen, bei denen ich spürte, dass sie meinen Bruder noch nicht ganz aufgegeben hatten und nur mit mir zusammen waren, um in seine Nähe zu kommen. Zu seiner Ehrenrettung muss ich aber sagen, dass er nie etwas mit einer von ihnen angefangen hat, zumindest habe ich ihn nie dabei erwischt.

      Der Fotograf ist ein wilder Typ, nicht mehr der Jüngste, vielleicht Mitte, Ende sechzig, gibt sich aber wie ein Künstler-Bohemien im Paris der 1960er-Jahre. Er begrüßt mich überschwänglich auf Französisch und palavert auch gleich drauflos, und es dauert einige Zeit, bis ich ihm beibringen kann, dass ich kein Wort verstehe. Er lässt sich aber nicht unterkriegen und erzählt sich in einen Rausch über Paris vor vierzig Jahren, als er dort studiert und Sartre auf der Straße zugehört hat.

      Irgendwie schaffe ich es schließlich, seinen Redefluss zu unterbrechen und ihn mit mir auf die Straße zu ziehen. Wie er diesen Mann kennengelernt hat, will ich von ihm wissen und zeige auf das Bild meines Bruders.

      Ach ja, sagt er, so als hätte er damit gerechnet, dass ich vorbeikomme.

      Der ist vor vier, fünf Tagen hier gewesen und wollte,


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