Wüste Welt. Wolfgang Popp
wuchten den Stamm zur Seite. Als wir zurückgehen zum Wagen, wischt sich Ahmed die Hände an seinem Kaftan ab.
Ist witzig, sagt er.
Was, frage ich.
Sie haben fast das gleiche Gesicht wie Ihr Bruder und auch eine ganz ähnliche Stimme, und trotzdem schauen Sie ganz anders aus und hören sich ganz anders an. Sie mögen Ihren Bruder nicht besonders, stimmt’s?
Ganz offensichtlich hat Ahmed als Reiseführer mehr als nur passables Englisch gelernt. Wenn man seit fast fünfzig Jahren mit Fremden durch diese Einöde fährt, kommt man wahrscheinlich mit den absonderlichsten Spielarten der menschlichen Psyche in Kontakt, und wenn man dann noch, so wie Ahmed zweifelsohne, über einen ungewöhnlichen Instinkt verfügt, gibt es wohl nur wenige Gesichter, hinter die man nicht blicken kann. Auch etwas, das er mit meinem Bruder gemeinsam hat.
Dass ich ihm nicht antworte, scheint Ahmed nicht weiter zu stören, ganz im Gegenteil, er macht einfach weiter mit seiner Fragerei.
Warum sind Sie eigentlich nicht gemeinsam unterwegs, ich meine, Ihr Bruder und Sie?
Etwas mit seinem Handy, sage ich. Ich konnte ihn nicht erreichen.
Ahmed nickt, und ich sehe ihm an, dass er mir kein Wort glaubt.
Ist ja auch egal, sagt er. Ich bin auch lieber allein.
Wieder kommen wir an einen Fluss. Dieses Mal ist das Wasser seichter und wir schaffen es ohne Probleme auf die andere Seite.
Jetzt ist es nicht mehr weit, sagt Ahmed und zeigt auf eine Handvoll Lehmhäuser vor uns. Wir stellen den Wagen ab und gehen zu Fuß weiter.
Wir folgen dem Fluss, balancieren über Steine und stapfen über eine lang gezogene Sandbank wie durch Schnee. Schwalben machen knapp über der Wasseroberfläche Jagd auf Insekten, und ich entdecke Hufspuren von Rehen an der Wasserlinie.
Warum interessiert sich Ihr Bruder eigentlich so für Geister, fragt mich Ahmed, der mit seinen gelben Lederpantoffeln immer wieder im Sand hängenbleibt.
Ach so, frage ich und schaue ihn an. Tut er das?
Ja, sagt Ahmed, er hat mich ausgefragt. Geisterlegenden, Geistergeschichten, Geistermärchen, er wollte alles wissen.
Keine Ahnung, was es damit auf sich hat, sage ich und überlege, und da fällt mir eine Sache ein, an die ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gedacht habe. In der Kindheit, wenn wir alleine zu Hause waren, wollte mein Bruder immer, dass wir Geister spielen. Wir haben uns Masken gebastelt aus Papiermaché und alle Jalousien zugezogen, sodass es stockdunkel war in der Wohnung. Ich habe immer recht rasch Angst bekommen, mein Bruder natürlich nicht, und als ich gemeint habe, es reicht, hat er die Jalousien nur widerwillig wieder aufgemacht. Er hat die Maske aber aufgelassen und sich sogar schlafen gelegt mit ihr, und am nächsten Morgen hat er die Abdrücke im Gesicht gehabt und ausgesehen, als wäre er über Nacht tatsächlich zum Geist geworden. Ahmed erzähle ich die Geschichte nicht. Wahrscheinlich kennt er sie ohnehin schon von meinem Bruder.
Stattdessen lasse ich den Blick über die Uferböschung wandern, auf der Suche nach den Felszeichnungen. Immer wieder glaube ich Tierköpfe zu entdecken, im Näherkommen stellen sie sich aber als Sprünge und Risse heraus. Dann steigt Ahmed zu einem knorrigen Baum hinauf, in dessen Schatten mehrere Felsblöcke stehen. Er zündet sich eine Zigarette an, lehnt sich an den alten Stamm und zeigt betont gleichgültig mit dem Daumen hinter sich.
Das erste, was ich sehe, ist ein Auto, das Kinder unbeholfen in den Stein geritzt haben. Erst im Näherkommen, entdecke ich darunter, völlig verblasst, die Darstellung zweier Rinder. Ein gescheckter Bulle und eine Kuh, und dazwischen taucht jetzt auch, kaum mehr zu erkennen, eine menschliche Figur auf, die Arme hoch in den Himmel gereckt. Auf einem Stein daneben ist ein Hirsch mit einem kapitalen Geweih zu sehen, aber mehr ist da nicht, und das wenige, was da ist, verliert durch die blöde Autozeichnung völlig an Wirkung.
Und, frage ich Ahmed. Wie hat es meinem Bruder gefallen?
Er war begeistert. Wir sind geschlagene zwei Stunden hier gewesen. Alle Touristen, die ich bisher hierhergebracht hatte, waren völlig enttäuscht und wollten gleich wieder gehen, aber Ihr Bruder hat gar nicht genug bekommen können von den Zeichnungen. Hat sie fotografiert, ist die Linien mit den Fingerkuppen nachgefahren, oder ist einfach nur dagesessen, hat den Kopf schräg gelegt, und sie angestarrt.
Sie haben vorher gemeint, dass mein Bruder Geistergeschichten hören wollte, sage ich. Erzählen Sie mir auch eine?
Kann ich gerne machen. Wollen Sie die hören, die Ihrem Bruder am besten gefallen hat?
Ich setze mich zu ihm unter den Baum, und als Ahmed anfangen will zu erzählen, frage ich ihn nach einer Zigarette. Eigentlich habe ich aufgehört, aber mein Bruder raucht nicht, und mit der Zigarette in der Hand komme ich mir nicht vor wie das um eine Woche zu spät gekommene Abziehbild von ihm.
Und, fragt Ahmed und schaut mir zu, wie ich einen tiefen Zug nehme. Soll ich anfangen?
Yep, sage ich, und wenn Ahmed etwas genauso gut kann wie Menschen zu entschlüsseln, dann ist das, Geschichten zu erzählen. Ich kann das nicht. Was ich hier wiedergebe, ist nur der Rumpf der Erzählung, die harten Fakten: Einen Mann hat es da gegeben, der sich in eine junge Frau verliebt hat, die hat so vollkommen ausgesehen wie eine der Jungfrauen aus dem Paradies. Seine Freunde beschworen ihn, er solle sich fernhalten von ihr. So eine Vollkommenheit gibt es auf Erden nicht, warnten sie ihn, die Frau ist ein Geist, anders kann es gar nicht sein. Der Mann entgegnete nichts darauf, und seine Freunde meinten schon, sie hätten ihn überzeugt, da lud er sie wenige Tage später zu einem großen Fest ein. Der Mann hatte keine Kosten und Mühen gescheut. Es gab die feinsten Speisen und Getränke, Musik und Tänzerinnen, und alle unterhielten sich prächtig. Immer wieder ging der Mann durch die Reihen seiner Freunde und fragte, ob irgendetwas fehle, und immer wieder versicherten sie ihm, dass die Feier keinen Wunsch offen lassen würde. Mehr als hier gibt es nicht auf Erden, sagte schließlich einer, und da lächelte der Mann und nickte in tiefer Zufriedenheit, und als sie ihn wenig später suchten, war er verschwunden, und danach hat man ihn und die geheimnisvolle Frau niemals wieder gesehen.
Ahmed sieht mich fragend an, als würde er wissen wollen, wie mir die Geschichte gefallen hat.
Du kannst gut erzählen, sage ich zu ihm.
Dass ich mit der Geschichte wenig anfangen kann, sage ich ihm nicht.
Hat mein Bruder gesagt, was ihm an der Geschichte so gut gefallen hat?
Ja, er meinte, dass er den Mann beneiden würde, weil er das auch gerne können würde.
Was, frage ich.
Mit Geistern sprechen, sagt Ahmed.
Zurück in Tafraoute trinken wir noch einen Tee zusammen. Ahmed versenkt einen großen Zuckerwürfel in seinem Glas. Ich schiebe meinen Zucker zur Seite.
Brauchen Sie den nicht, fragt er, und noch bevor ich antworten kann, lässt er den Würfel in seinen Tee gleiten.
Hat mein Bruder gesagt, wo er als nächstes hinwill?
Er hat mich gefragt, wo er die besten Chancen hätte, einen Geist zu treffen.
Und? Was haben Sie ihm gesagt?
Ich habe ihm von Sidi Ifni erzählt.
Sidi Ifni, frage ich, weil ich den Namen noch nie gehört habe.
Eine Stadt an der Küste, sagt Ahmed, südlich von hier. Die Spanier haben Sie in den 1930er-Jahren gebaut. Alles im europäischen Stil. War eine wichtige Handelsniederlassung für sie. Und natürlich ein sündiges Nest. Viele weibliche Dämonen, wenn Sie wissen, was ich meine. Als die Spanier gehen mussten, war es vorbei mit dem Glanz. Alles versank in einen tiefen Schlaf. Die Häuser stehen aber noch. Sieht alles aus wie vor achtzig Jahren. Und nachts ziehen noch immer die Geister von damals durch die Straßen.
Und was hat mein Bruder dazu gesagt?
Er hat gesagt, dass sich das gut anhört.
Nach Sidi Ifni sind es knapp hundertfünfzig Kilometer. Obwohl ich auf