GlückLos. Elisabeth Martschini
der Inspektor in den letzten Jahren nämlich versucht, seine beginnende Glatze, die er euphemistisch als Geheimratsecken bezeichnete, ohne sich doch erklären zu können, was unschöner Haarausfall mit in rotes Wachs eingepacktem Käse zu tun hatte – hatte er also versucht, seine Geheimratsecken, die freilich immer mehr Raum gefordert hatten, zu verstecken, indem er gewissenhaft die verbliebenen, umso längeren Haare darübergekämmt hatte – immer schön von hinten nach vorne –, erstrahlte er heute in beinahe üppiger Haartracht. Oder erstrahlte und glänzte gerade nicht, weil diese Haartracht oder -pracht das Kunstlicht des Café Sisi viel schlechter widerspiegelte als die glatte Kopfhaut.
„Eine Herrentorte und einen Mazagran, bitte“, sagte der ununiformierte Inspektor. Und wie zur Entschuldigung fügte er hinzu: „Ich bin ja schließlich nicht im Dienst“, wobei die Entschuldigung selbstverständlich nicht der Herrentorte galt, denn von einer solchen hätte sich der Inspektor selbst im Dienst genauso wenig abhalten lassen wie von einem Punschkrapferl oder einer Sachertorte. Wenigstens nicht in der Mittagspause. Sie, also die Entschuldigung, galt viel eher dem bestellten Rum im mit Eiswürfeln gekühlten Mokka, der den echten Mazagran erst zu einem solchen machte. Nachzulesen in – nein, nicht einmal mehr in der Getränkekarte guter Kaffeehäuser, mit Ausnahme des Café Sisi, sondern in Torbergs Tante Jolesch. In den gesammelten und mehrfach gedruckten Anekdoten, versteht sich.
Die hatte Inspektor Obermayer zwar nicht gelesen, dafür aber Petra Sandor als echte, das heißt als eine aus den Ländern der ehemaligen Donaumonarchie zugewanderte Österreicherin – Österreicherin mit Migrationshintergrund hieß das politisch korrekt, aber um eine politische oder sonstige Korrektheit hatte man sich in Bad Au selten gekümmert.
Petra Sandor als echte zugewanderte Österreicherin also hatte die Tante Jolesch gelesen, um sich nach ihrer Einwanderung oder Immigration der Integration und Assimilation zu widmen, das bedeutete, sich mittels Torberg und Tante darüber zu informieren, wie es hier so zuging in diesem Österreich. Dass der Autor in seinem Büchlein auf ein Zeitalter zurückgriff, in dem das Abendland noch nicht zwischen Nazismus und Kommunismus untergegangen war, tat dem Erfolg des Café Sisi keinen Abbruch. Eher im Gegenteil. Wo hätte man sonst einen Mazagran bestellen können, wie der Polizeiinspektor ihn gern genoss? Wo anders als im Café Sisi, das in anachronistischer Weise zwar das Café Franz Joseph abgelöst hatte, sich auf seinen Anachronismus jedoch einiges zugutehielt, weshalb es hier neben dem Mazagran auch die Melange und den Mokka zu bestellen gab. Oder notfalls noch den kleinen Schwarzen. Aber eben keinen Cappuccino oder Espresso. Nur zum Caffè Latte hatten die Sandors sich überreden lassen, weil in Zeiten der Laktoseunverträglichkeit dennoch die Nachfrage nach Milch im Kaffee so gestiegen war, dass Melange und Häferlkaffee sie nicht mehr zu befriedigen vermochten. Weil eben alles Verbotene beinahe automatisch in seinem Wert steigt. Dementsprechend hatte so ein Caffè Latte seinen Preis, der sich zwar nicht in Euro, umso mehr jedoch in einem verächtlichen Gesichtsausdruck Petra Sandors niederschlug, wenn sie dieses Getränk einem Gast servierte, der verwegen genug gewesen war, solcherlei zu bestellen, wobei diese Gäste in aller Regel junge Frauen waren. Oder ältere Frauen. Oder, ganz selten, sogar alte Frauen, die glaubten, etwas Neues ausprobieren zu müssen und hinterher rasch zur klassischen Kaffeeauswahl des Café Sisi zurückkehrten. Weil so ein echter Kaffee halt doch nur ein gewisses Maß an Milch verträgt. Übermaß wäre verkehrt.
Indem es seiner Zeit also ein bisschen hinterher war, hatte das Café Sisi anderen Kaffeehäusern etwas voraus. Vor allem hatte Petra Sandor sämtlichen Einheimischen, wie wir die geborenen im Gegensatz zu den echten Österreichern nennen wollen, etwas voraus. Denn, seien wir ehrlich, welcher Einheimische hätte schon eine Staatsbürgerschaftsprüfung bestanden? Aber das ist eine andere Geschichte.
Von Kaffee jedenfalls verstand Petra Sandor etwas und nur darauf kam es hier an.
Nicht verstanden hatte Hildegard Binsen oder war zumindest mit der Bemerkung ihres Gegenübers nicht ganz einverstanden, hatte sie im Unterschied zu ihrem Begleiter, einem pensionierten Friseur, doch auf den ersten Blick erkannt, worum es sich hier handelte. Nein, nicht Inspektor Obermayer, da hätte man der Höflichkeit halber doch „um wen“ gesagt. Den Inspektor erkannte auch Hildegard Binsen erst auf den zweiten, dritten oder sonst wievielten Blick. Aber das Toupet hatte sie bemerkt, weil es nicht exakt dieselbe Farbe wie der obermayersche Haarrest hatte.
„Der ist doch nicht mehr jung“, empörte sie sich. „Und sag jetzt nicht, dass er es im Gegensatz zu uns allemal sei. Nur weil ich im 79. Lebensjahr stehe ...“
„Im achtzigsten, liebe Hildegard, im achtzigsten“, warf Alois Hirschhauser ein und erntete dafür einen vernichtenden Blick.
„Gut, also nur, weil ich 79 Jahre zähle“, fuhr sie in Verkennung der Tatsache, dass es Alois Hirschhauser gewesen war, der ihre 79 Jahre gezählt hatte, fort, „ist nicht jeder, der jünger ist, automatisch als jung zu bezeichnen. Wenn das nämlich deine Auffassung von jung ist, ist es kein Wunder, dass ich mich nicht an deinen jungen Mann von vorher erinnern kann.“
„Vorher war er ja auch gar nicht mehr da. Das ist schon länger her, bestimmt drei oder vier Wochen“, erwiderte Herr Hirschhauser, womit er die Situation natürlich nicht entschärfte. Weil er seine Hildegard aber gut genug kannte, um zu wissen, dass er sie nicht mit Spitzfindigkeiten auf die Palme bringen sollte, weil alte Damen da naturgemäß nur schwer wieder herunterkommen, erklärte er versöhnlich: „Aber du hast natürlich recht. Der gute Mann dort drüben, der mir im Übrigen vage bekannt vorkommt, ist wirklich nicht mehr ganz jung. Der, von dem ich gesprochen habe, war mit Sicherheit zehn oder gar zwanzig Jahre jünger.“
„Ah ja“, sagte Hildegard Binsen und der Ton ihrer Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass sie sich nicht weiter für fremde Herren interessierte, mochten die nun alt oder jung oder auch nur älter sein.
Auch Inspektor Obermayer war nicht an Männern interessiert oder hätte es doch niemals zugegeben. Das heißt, dienstlich war er natürlich an ihnen interessiert, wenn sie nämlich eine Straftat begingen. Denn wenn einer den anderen eine Treppe hinunterfallen ließ oder ihm den Schädel einschlug, lag das sehr wohl in seinem Interessensbereich. Oder hätte es jedenfalls müssen, sofern die Straftat und ihre Aufklärung nicht zufällig gerade in seine Urlaubszeit fielen. Da selbst ein Inspektor der Bad Auer Polizei nur maximal sechs Wochen Urlaub im Jahr hatte, eine Straftat inklusive Aufklärung aber in der Regel länger dauerte, wobei die Aufklärung im Normalfall wesentlich mehr Zeit als das Verbrechen in Anspruch nahm, obwohl – oder gerade weil? – an ihr, Kripo sei dank, viel mehr Menschen beteiligt waren, hatte Inspektor Obermayer eigentlich mit jedem in Bad Au verübten Verbrechen zu tun. Da lobte er sich die Unfälle. Nach der Beweisauf- und der Zeugeneinvernahme waren die meist sehr schnell erledigt. Zumindest für ihn.
So hatte er auch bald nach dem letzten schwereren, leider tödlichen Unfall seinen wohlverdienten Urlaub antreten können. Dabei muss der Fairness halber hinzugefügt werden, dass ihn dieser Unfall nicht ganz kalt gelassen hatte. Immerhin erwischte es in Bad Au nicht jeden Tag jemanden, den man, zumindest nach seinem Tod, gekannt zu haben meinte.
„Tut mir leid“, sagte Petra Sandor, „die Herrentorte ist aus. Darf’s stattdessen vielleicht eine Sachertorte sein?“
Inspektor Obermayer seufzte. Da wollte man sich im Urlaub einmal etwas gönnen und dann machte einem die fehlende Schokoladencreme einen Strich durch die Rechnung. Denn es war natürlich die Schokoladen- oder, um es korrekt zu sagen, die Pariser Creme, die den gravierenden Unterschied machte. Dabei war es eigentlich seltsam, dass ausgerechnet das Mehr an Schokolade die Herrentorte zu einer solchen machte, schrieb man die besondere Liebe zu jener Süßigkeit doch meist den Damen zu. Eine Damentorte gab es allerdings nicht, zumindest nicht im Café Sisi. Wie um diesen Mangel auszugleichen, enthielt die Sachertorte ebenfalls mehr als genug Schokolade in Teig und Glasur, sodass sie mit Fug und Recht als für Damen geeignet durchgehen konnte. Für Damen oder alle anderen Naschkatzen und Naschkater, also auch für Inspektor Obermayer, der insgeheim dachte, dass die Marillenmarmelade der Sachertorte seiner Figur ohnehin zuträglicher – oder eigentlich weniger zuträglich – wäre als die herrliche Schokoladencreme, weshalb er grummelnd seine Zustimmung zur Ersatztorte gab.
Womit nun alle sich im Moment im Café Sisi aufhaltenden Gäste mehr oder weniger