GlückLos. Elisabeth Martschini

GlückLos - Elisabeth Martschini


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dieses Adjektiv überhaupt auf sie anwendbar war. Und dass die drei fraglos alten Damen, die unweit von Alois Hirschhauser und Hildegard Binsen einträchtig um eines der Tischchen mit runder Marmorplatte saßen, zufrieden waren, konnte ein aufmerksamer Beobachter an ihren unter grauen, violetten und grauvioletten Haaren hervorlächelnden Gesichtern ablesen. Irgendjemand musste die Herrentorte ja aufgegessen haben.

      Zu den aufmerksamen Beobachtern zählte der Inspektor an diesem seinem Urlaubstag allerdings nicht. Er erweckte sogar ein bisschen den Eindruck, als wollte er nichts anderes wahrnehmen als Kaffee, Mehlspeise und die Lokalzeitung, die er sich jetzt von dem einzigen Holztischchen im ansonsten mit Marmor ausgestatteten Café holte und vor sich ausbreitete. Die Nachrichten der vergangenen Woche in aller Ruhe nachzulesen, war im Urlaub wesentlich besser, als sie hautnah miterleben zu müssen.

      o

      Unwissenheit nach den Ferien

      „Hast du ihn zuerst geküsst oder er dich?“

      „Ich kann mich nicht erinnern.“ Matti schüttelte ihre blonde Mähne, die nur von einem schmalen, um den Kopf laufenden Reif festgehalten wurde. Dieser verlieh dem jungen Mädchen entfernt das Aussehen eines Engels, wobei der heilige Schein eher trügerisch war. Mattis Eltern und wohl auch einige ihrer Lehrer hätten sie alles andere als einen Engel genannt. Und selbst Johanna hätte dieser Bezeichnung sicherlich widersprochen, obwohl sie sich in den Ferien leidlich darum bemüht hatte, in Matti, wenn schon keinen Engel, so doch eine Freundin zu sehen.

      Freundin, aber nicht beste Freundin. Johannas beste Freundin war immer noch Erika Hofbauer, obwohl sie dieser während der Sommerferien gar nicht so oft begegnet war. Irgendetwas war anders geworden. Erika war anders geworden, sie hatte sich verändert. Daran bestand für Johanna kein Zweifel. Denn wer nicht einmal im Sommer regelmäßig beim Schwimmen anzutreffen war, hatte etwas Seltsames an sich. Und da Erika früher nicht seltsam gewesen oder Johanna wenigstens nicht so vorgekommen war, musste sie sich zwangsläufig verändert haben. Bestimmt sogar. Nur warum?

      Während sie Matti nur noch mit halbem Ohr zuhörte, grübelte Johanna über Erika nach. Wobei sich dem Beobachter oder Leser eigentlich die Frage aufdrängen müsste, wie man mit einem halben Ohr zuhört. Nicht, dass das körperlich unmöglich gewesen wäre. Niki Lauda zum Beispiel hörte ja auch mit halben Ohren zu oder zumindest hörte er damit, seine eigentliche Stärke allerdings lag selbstredend eher im Sprechen, sofern man es mit Grammatik und Wortschatz nicht so genau nahm.

      Aber Johanna war, daran ließ der Augenschein keinen Zweifel aufkommen, nicht Niki Lauda. Soll heißen: Obwohl sie Matti nur mit halbem Ohr lauschte, verfügte sie körperlich betrachtet sehr wohl über zwei vollständige, wenngleich durchlöcherte und mit Steckern, nein, Piercings verzierte Ohren. Weshalb sich das halbohrige Zuhören nur auf die Funktion dieser Organe oder besser auf ihre Nutzung beziehen konnte.

      Während nämlich ihre körperlich vollständigen Ohren nur zur Hälfte dazu genutzt wurden, Mattis Worte aufzunehmen, richtete sich Johannas Blick an der engelsblonden Freundin vorbei auf einen Punkt in einiger Entfernung. Auf einen Punkt, der immer näher kam, Gestalt annahm und schließlich einen guten Meter hinter Matti stehen blieb.

      „Er ist ja voll süß, aber ich ...“

      Jetzt nahm Johanna Mattis Gerede nicht einmal mehr mit halbem Ohr wahr. Ihr Interesse wandte sich – wenn es denn überhaupt je bei der Geschichte gewesen war – ausschließlich Erika zu, die von Matti noch nicht bemerkt worden war und die Johanna fragend ansah. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es war Johanna, die Erika fragend ansah. Erika ihrerseits schaute vielmehr entsetzt und aufgewühlt aus. Matti hätte ihren Gesichtsausdruck wahrscheinlich als „total geflasht“ bezeichnet. Da diese am Hinterkopf aber keine Augen hatte, konnte sie Erika selbstverständlich nicht sehen. Dennoch merkte nun endlich auch sie, dass sie zwar nicht gegen eine Wand, wohl aber zu einer an ihrer nervenzerreißenden Liebesgeschichte herzlich wenig interessierten Johanna sprach.

      Matti drehte sich um, sodass Erika jetzt zwei Mädchen anblickten, was zwar die grammatikalische Frage nach dem Subjekt des Ansehens löste, nicht aber den Grund für Erikas Aussehen erklärte.

      „Was ist los?“, fragte Johanna deshalb.

      „Die schwarze Fahne“, erwiderte Erika, brach ab und holte Luft, sprach jedoch nicht weiter.

      „Was ist damit?“, wollte Johanna wissen. „Hat am Ende der alte Dippelbauer den Geist aufgegeben?“

      Dippelbauer war seit unvordenklichen Zeiten der Direktor des Bad Auer Gymnasiums gewesen. Generationen von Schülern und Lehrern hatten nur ihn als Oberhaupt der Schule kennengelernt. Sein Alter war beinahe schon so legendär wie sein diesem trotzendes Ausharren auf seinem Posten.

      Erika schüttelte den Kopf. „Nicht der Dippelbauer ... der Glück.“

      Johanna sagte gar nichts, sondern riss nur die Augen auf. Mit normalem Anschauen hatte das nichts mehr zu tun.

      Diejenige, die sprach, war Matti: „Pech für ihn, Glück für uns. Oder eben nicht mehr.“ Sie ließ ein Kichern hören.

      Johannas weit aufgerissene Lider verengten sich zu schmalen Schlitzen, über denen sich die jugendliche Stirn in Falten legte. „Wie meinst du das?“, fragte sie sehr leise.

      „Na, der Glück war doch eine echte Plage mit seinem Hippie-Gedudel. Damit geht er mir zweimal die Woche ganz gewaltig auf den Arsch – nein, ging er!“, lachte Matti.

      „Aber das ist doch kein Grund, jemandem den Tod zu wünschen“, wandte Johanna ein.

      „Ich habe ihm den Tod nicht gewünscht“, verteidigte sich Matti, „er ist ganz von selbst gestorben.“

      „Woran eigentlich?“, fragte Johanna, die diese Diskussion in eine andere Richtung lenken wollte.

      „Weiß nicht. Auf dem Partezettel steht nur unerwartet“, gab Erika mangelhaft Auskunft. Dabei konnte der Mangel an Information natürlich nicht ihr angelastet werden. Das war das Kreuz mit diesen Sterbebildern: dass auf ihnen meist nur Phrasen abgedruckt waren. In tiefer Trauer, plötzlich und unerwartet, nach langem, mit Geduld ertragenem Leiden und so weiter. Niemals starb jemand, nachdem er seine Verwandten und Bekannten, die sich in wenigen guten Momenten für Freunde hatten halten dürfen, über Jahre hinweg tyrannisiert hatte, niemals jemand, der nach dem dritten Schlaganfall wie ein nasser Sack aus allen Körperöffnungen getropft hatte, niemals jemand, der sich aufgrund von Depression und fortwährenden Kränkungen durch seine Mitmenschen aus Verzweiflung das Leben genommen hatte. Und wenn es mitunter, ganz selten einmal, den einen oder anderen solchen Fall gab, war davon doch niemals etwas auf der Parte zu lesen, durch die Erika vom unerwarteten Tod ihres Musiklehrers erfahren hatte.

      „Welche Parte?“, fragte Matti.

      „Hängt auf dem Gang vom Konferenztrakt“, antwortete Erika kurz angebunden und wandte sich Johanna zu. „Glaubst du, dass er krank war?“, fragte sie die Freundin. „Ich meine, in diesem Alter stirbt man doch nicht so einfach.“

      „Ich weiß nicht, wie alt er war“, entgegnete Johanna, ohne damit auf Erikas Frage zu antworten.

      „Bestimmt nicht alt genug, um einfach tot umzufallen“, warf Matti ein.

      „Im 40. Lebensjahr“, zitierte Erika den Text auf der Parte.

      „Vielleicht hat er eine Überdosis erwischt“, mutmaßte Matti, was ihr einen bösen Blick der beiden anderen Mädchen einbrachte.

      „Sei nicht blöd“, meinte Johanna. „Nur weil einer hin und wieder Gras raucht ...“

      „Hat er das?“, fragte Erika entgeistert.

      „Weiß ich nicht. Ich meine doch nur, selbst wenn er hätte, also, deswegen muss er ja nicht gleich harte Drogen nehmen. Und ich glaube nicht, dass schon mal jemand an einer Überdosis Gras gestorben ist.“

      „Wer weiß“, kicherte Matti, „vielleicht hat er vor lauter Rauch zu wenig Sauerstoff erwischt.“


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