GlückLos. Elisabeth Martschini
in den Ruhestand getretene Herr Professor Dippelbauer, sondern die neue Direktorin, die hierbei sogleich ihre organisatorischen und sozialen Kompetenzen unter Beweis stellen konnte. Ihr zur Seite stand natürlich die langgediente Sekretärin, Frau Drescher. Es galt, innerhalb von zwei, maximal drei Wochen einen neuen Musik- und einen neuen Deutschlehrer zu finden – den einen für eine Festanstellung, den anderen nur vertretungsweise. Hoffentlich zumindest. Denn obwohl Eckart Glück im Zweitfach Deutsch hätte unterrichten dürfen, hatte er sich doch lieber nur auf die Musik beschränkt. Hier hatte er seine eigentliche Stärke gesehen, sofern die vermeintliche Stärke nicht nur aus der seltenen Abwesenheit einer Schwäche resultierte. Deutsch war ihm das erforderliche Zweitfach an der Universität gewesen. Denn wie ihm die Musik so natürlich, selbstverständlich und notwendig wie das Atmen erschienen war, so hatte auch die deutsche Sprache zu seinem Alltag gehört. Sie allein aus diesem Grund aber auch zu unterrichten, hatte er nicht für nötig erachtet.
Deshalb also wurde am Bad Auer Gymnasium nur nach einem Deutschlehrer als Vertretung gesucht, wobei dieser vorzugsweise eine Deutschlehrerin, also weiblich sein sollte. Nicht etwa, weil die Vertretung aufgrund ihres letzten Gliedes feminin war und man solch ungesicherte Vertretungen daher passenderweise Frauen zuschanzen wollte, sondern aus Gründen der Gleichbehandlung. Von allen Geschlechterfragen abgesehen, hoffte man einfach, dass Maria Liliencron bald aus dem Krankenstand zurückkommen würde.
Es war nämlich nicht allein Eckart Glück gewesen, der bei dem Unfall zu Schaden gekommen war, wenngleich sein Schaden wahrscheinlich als der ungleich größere bezeichnet werden sollte, hatte der Gute dabei doch sein Leben verloren.
Der Gute. Wir beschränken uns an dieser Stelle auf das substantivierte Adjektiv, da die Entscheidung für ein dazu passendes Substantiv womöglich eine langwierige und darum tunlichst zu vermeidende Diskussion heraufbeschwören würde. Könnte man von Eckart Glück als einem guten Musiklehrer sprechen? Von den Schülern wäre wohl kaum eine einstimmige Antwort zu erwarten gewesen, genau so wenig wie die Musikerkollegen unisono mit „Ja“ gestimmt hätten, zumindest nicht, bevor Eckart Glück aus dem Leben gerissen worden war. War er ein guter Sohn gewesen? Dazu müsste man seine Eltern befragen. Der Herr Papa war zwar selbstverständlich beim Begräbnis dabei gewesen, aber es hätte natürlich keinen guten Eindruck gemacht, diese Frage gerade dort zu stellen. Genauso wenig wie die Frage nach der möglichen Güte des Bruders übrigens. Ein guter Musiker vielleicht? Das war unwahrscheinlich, denn sonst hätte Eckart Glück in diesem Bereich Karriere gemacht und sich nicht mit dem Lehramt – so gerne er auch unterrichtet haben mochte – herumgeschlagen. Ein guter Freund? Da man im näheren Umkreis niemanden fand, der sich als Freund Eckart Glücks ausweisen konnte, musste die Beweisführung in dieser Hinsicht aus Mangel an Zeugen abgebrochen werden. Womöglich ein guter Liebhaber? Ich bitte Sie, wir wollen doch nicht indiskret sein! Und sollten wir es dennoch sein wollen, so erlauben wir uns nicht, es zu zeigen. Besonders nicht in einer solchen Situation.
Deshalb also hatte der Gute sein Leben verloren. Nein, natürlich nicht wirklich deshalb, sondern weil er in einem Anfall akuter Geistesabwesenheit auf die Straße getreten und von einem Auto über den Haufen gefahren worden war.
Auch das Auto war beschädigt worden, weil sich nach einem in doppelter Hinsicht missglückten Ausweichversuch eine Hausmauer als stabiler denn eine Motorhaube erwiesen hatte. Dieser Schaden war selbstverständlich nicht tödlich gewesen, weil ein Auto entgegen der Meinung einzelner Fanatiker naturgemäß nicht lebte, folglich auch nicht sterben, höchstens Totalschaden erleiden konnte. Und auch dann litt in der Regel nicht das Auto, sondern dessen Besitzer. Da es sich aber nicht einmal um einen Totalschaden handelte, konnte die Haftpflichtversicherung des Toten das Materielle mit Leichtigkeit ausbügeln beziehungsweise ausbeulen lassen, sobald das endgültige Urteil in dieser Sache gesprochen wäre.
Das Problem war viel eher, dass das Auto auch von jemandem gelenkt worden war. Und dieser Jemand war zu ihrem Leidwesen niemand anderer als Maria Liliencron gewesen.
„Maria Liliencron“, sagte die neue Direktorin, Frau Magister Glaunigg-Althoff, „wird für die Zeit ihrer Abwesenheit im Deutschunterricht von Monika Schwaiger vertreten. Die Geografiestunden hat dankenswerterweise Herr Professor Kuntz übernommen.“
Bei der Erwähnung ihres Namens hatte sich Monika Schwaiger, eine junge Kollegin mit sympathischen Gesichtszügen, erheben wollen, um die ihr bislang fremden Lehrer des Gymnasiums in Bad Au wenigstens mit einem Kopfnicken zu begrüßen, doch Bettina Glaunigg-Althoff schien keinen Wert darauf zu legen, sondern sprach ungebremst weiter.
„Durch die Pensionierung von Herrn Direktor Dippelbauer hat diese Schule die Chance auf Modernisierung und Fortschritt bekommen. Ich möchte Sie gleich zu Beginn des Schuljahres mit meinen Konzepten vertraut machen.“
„Die kommt aber nicht aus der Gegend“, murmelte der Deutschlehrer Ernst Braunsfelder und sah seinen Kollegen Kuntz fragend an. Dieser zuckte die Schultern und schürzte, Unwissenheit ausdrückend, die Lippen. „Klingt verdächtig nach Kärnten“, raunte der für Sprachvarianten hellhörige Germanist dem an Ländergrenzen interessierten Alfred Kuntz ins Ohr.
Nachdem die Schüler an diesem ersten Tag des neuen Schuljahres nach nur zwei Stunden – einer Stunde Gottesdienst und einer Stunde Unterricht – entlassen oder vielmehr mit allen eventuellen Fragen zum Unfalltod des Musiklehrers Glück allein gelassen worden waren, war für die Lehrer der Arbeitstag noch nicht zu Ende. Genau genommen fing er erst an. Denn wenn es nach zehn, zwanzig oder auch nur fünf Unterrichtsjahren zu ihrem Alltag gehörte, vor den Schülern zu stehen, so war es doch etwas anderes, nach dreißig Jahren unter der Leitung von Herrn Professor Dippelbauer plötzlich vor einer neuen Direktorin eine gute Figur abgeben zu müssen.
Und das wollten sie alle, eine gute Figur abgeben, selbst wenn die Ansichten darüber, was dies im konkreten Fall bedeuten mochte, diametral auseinandergingen. Die Gründe für die Unterschiede bezüglich des Wesens einer guten Figur lagen, wie sich denken lässt, einerseits in den unterschiedlichen Zielen, die von den einzelnen Gliedern des Lehrkörpers verfolgt wurden. Während nämlich die eine hoffte, als Liebling oder Vertraute der Frau Direktor von deren Macht zu profitieren, war der andere ängstlich darauf bedacht, seine Querulantenrolle nicht zu gefährden. Während der eine durch seinen Einfluss auf die Neue versuchen wollte, die eigene Karriere zu fördern, ohne selbst ins Kreuzfeuer zu geraten, hoffte eine andere bei der Durchsetzung ihrer schulpolitischen Ziele auf die Unterstützung der Direktorin. Und manch seltsamer, an Politik gänzlich uninteressierter Vogel steckte wohl auch den Kopf in den Sand und versuchte nur rein körperlich, sämtliche Kriterien einer guten, also durchtrainierten, glattrasierten und solariumgebräunten Figur zu erfüllen.
Einerseits. Andererseits wusste niemand oder doch so gut wie niemand Genaueres über diese Bettina Glaunigg-Althoff, die da so plötzlich den alten Dippelbauer ersetzt hatte. Unerwartet war die Ersetzung oder Absetzung nicht etwa deshalb gewesen, weil der betagte Herr Direktor mit seinen siebenundsechzig noch einige Jahre in seinem Amt vor sich gehabt hätte. Dass dies nicht der Fall gewesen war, hatte er in den letzten zwei Jahren, als er um seinen Posten hatte kämpfen müssen, selbst schmerzlich festgestellt. Aber bei alten, bei so richtig alten Menschen glaubt man irgendwann nicht mehr, dass sie doch einmal sterben müssen, weil sich ihre Methusalemhaftigkeit nur dadurch erklären lässt, dass der Tod sie vergessen hat. Und ebenso ließ sich auch für die Lehrer des Gymnasiums in Bad Au das dem Pensionsalter trotzende Verharren Direktor Dippelbauers nur durch die Vergesslichkeit der Landesschulleitung erklären. Was mochte dem Gedächtnis des Landesschulrats auf die Sprünge und dem alten Dippelbauer zum Absprung verholfen haben? Denn dass der Direktor freiwillig den Hut genommen hatte, konnte sich niemand der ehemaligen Kollegen und Untergebenen vorstellen.
Diese beinahe allgemeine Unwissenheit in Bezug auf die näheren Umstände des Wechsels sowie die Wesenszüge der neuen Direktorin bedingte also genauso wie die unterschiedlichen Charaktere der einzelnen Lehrer die unterschiedlichen Figuren, die in der Hoffnung, dass sie gute sein mögen, abgegeben werden wollten. Mit anderen Worten: Die Lehrer des Bad Auer Gymnasiums hegten alle unterschiedliche Pläne, weil jeder ein anderes Ziel verfolgte und dabei doch keiner von ihnen die neue Direktorin kannte.
Letzteres war dieser natürlich bewusst, weshalb sie sich zu Beginn der Lehrerversammlung kurz und,