GlückLos. Elisabeth Martschini
Direktor Oberstudienrat Dippelbauer abgelöst zu haben. Blick auf die Zukunft unseres Landes – hier folgten die Konzepte, mit denen die Frau Direktor die Bad Auer Lehrerschaft jetzt bekannt machte. Kompetenzen fördern. Potenziale nutzen. Ordnung halten. Und so weiter. Sehr angenehm, fand die neue Direktorin.
Sie fuhr sich mit der Hand durch die langen, dunkelrot gefärbten Haare, die ihrer kleinen schlanken Gestalt etwas Hexenhaftes verliehen. Interessant, wie die Assoziationen auseinandergingen: Während Mattis blonde Mähne das junge Mädchen mit dem trügerischen Nimbus eines Engels umgaben, verlieh die dunkelrote Mähne der neuen Direktorin die Aura einer Hexe. Das fand Cäcilia Zeppezauer, die freilich auch bei Matti oder Mathilda Sedlacek, wie sie vollständig hieß, nicht an einen Engel dachte. Dafür glaubte sie, den Charakter unter der Haarpracht gut genug einschätzen zu können.
„Übrigens begrüße ich es außerordentlich, wenn Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, gemeinsam mit Ihren Schülerinnen und Schülern Ausflüge beziehungsweise Exkursionen zu pädagogisch wertvollen Destinationen unternehmen.“
Die in die Breite gezogenen Mundwinkel wollten dieser verbalen Aufforderung möglicherweise eine nonverbale Aufmunterung hinterherschicken. Vielleicht nahm Bettina Glaunigg-Althoffs Gesichtsmuskulatur aber auch nur Anlauf für das wahre Kanonenfeuer an Punkten, die von den Lehrerinnen und Lehrern für den Fall, dass sie die Realisierung einer Exkursion in Erwägung zögen, zu beachten waren. Sie hier in ihrer Vollständigkeit anzuführen, würde bei den Lesern und Leserinnen bestimmt ebenso große Langeweile hervorrufen, wie es bei den versammelten Lehrern und Lehrerinnen Entsetzen verursachte. Hatte der Aufwand für eine Exkursion oder einen hübsch altmodischen Wandertag bisher in deren oder dessen Organisation und Durchführung bestanden, sollten diesem vergleichsweise einfachen Prozedere in Zukunft eine Antragsstellung inklusive Motivationsschreiben und pädagogischer Begründung vorausgehen sowie eine Reflexion über Durchführung, Umsetzung und Erreichen oder Verfehlen der Lernziele folgen.
„Eine was?“, fragte Kollege Braunsfelder flüsternd den neben ihm sitzenden Alfred Kuntz.
„Eine Reflexion“, wiederholte dieser und fügte, als Braunsfelder ihn mit zwei großen Fragezeichen in den runden Augen ansah, hinzu: „Das heißt, du sollst darüber nachdenken, ob die Exkursion gelungen oder danebengegangen ist.“
„Ah ja“, antwortete Ernst Braunsfelder für alle vernehmbar.
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Fragen des Gleichgewichts
Unter den Strahlen der immer noch erstaunlich warmen Nachmittagssonne zog Maria Liliencron im großen Becken des Bad Auer Thermalbades ihre Bahnen. Groß war das Becken eigentlich nur im Vergleich zu dem anderen, noch kleineren zu nennen. Aber was musste schon groß sein in Bad Au? So richtig große, knallblau gestrichene und mit Chlorwasser gefüllte Schwimmbecken hätten gar nicht zu dem alten Kurbad gepasst, wo man zwischen den schon leicht angewitterten steinernen Treppen und Balustraden den Geist der guten alten Zeit atmen zu hören glaubte. Vielleicht war es aber auch nur der Wind, der durch die große Platane strich, die mit ihren ausladenden Ästen die Liegewiese überspannte und an heißen Sommertagen für willkommenen Schatten sorgte.
Die heißen Sommertage waren für diese Saison allerdings vorbei. So schön der September sich auch präsentierte, das Gold des Lichts verriet doch unleugbar den nahenden Herbst. Wie oft würde sie noch hier im erfrischenden Wasser hin und her schwimmen können, überlegte Maria Liliencron, hin und her? Die Gleichmäßigkeit der Schwimmbewegungen war ihr früher immer als zu eintönig erschienen. Dass es junge Menschen gab, die von dieser Sportart begeistert waren, hatte sie schwer nachvollziehen können. Zumal sie es schon in ihrer Jugend nicht geschätzt hatte, nass zu werden. Darüber hinaus war das Wasser im Bad Auer Thermalbad entsetzlich kalt, was die Lehrerin zu der Erkenntnis gebracht hatte, dass ein Thermalbad nicht zwangsweise warm sein musste, dass die Bezeichnung den Laien, der dabei an Therme und Wärme und Wellness dachte, also ganz schön oder eher unschön in die Irre führen konnte.
Dass Maria Liliencrons Weg ins Thermalbad geführt hatte, lag eigentlich auch nur an Elfriede Hirschhauser, ihrer Therapeutin.
Meine Therapeutin, dachte die Lehrerin und wunderte sich insgeheim darüber, dass sie so etwas in Bezug auf sich selbst überhaupt denken konnte. Ihre Therapeuten waren vielleicht ein beliebtes Gesprächsthema reicher amerikanischer Hausfrauen der Upperclass, die ihr beziehungsweise ihrer Männer Reichtum und die daraus resultierende Langeweile unweigerlich in die Depression getrieben hatten und die nun gemeinsam mit diesen ihren Therapeuten verzweifelt auf der Suche nach einer Seele waren, die sie für viel Geld streicheln lassen konnten. Aber sie, Maria Liliencron, und eine Therapeutin? Das wollte nicht zusammenpassen.
Doch nach dem schrecklichen Unfall im August war es keine Frage von Wollen oder Nicht-Wollen mehr gewesen. Ohne Therapeuten – oder in ihrem Fall: ohne Therapeutin – wäre sie an dem Geschehenen zerbrochen. Deshalb war sie, falls sie nach Eckarts Tod überhaupt noch hatte stehen können, nicht vor der Frage gestanden, ob, sondern nur wo sie einen Therapeuten suchen sollte.
Doch in solchen Situationen konnte man sich beinahe zu hundert Prozent auf die wahren Freundinnen verlassen. Auf diejenigen nämlich, die einen in seinem Leid nicht allein ließen, sondern dem weisen Spruch folgten, dass geteiltes Leid halbes Leid sei. Und um es miteinander zu teilen, war kein Leid zu groß. Jede Freundin wollte helfen und kam mit guten Ratschlägen: Psychotherapie, Hypnose, Yoga, Tai Chi, Chi Gong und Familienaufstellung und NLP, was die Germanistin Maria Liliencron als „Neuerdings labile Persönlichkeit“ übersetzte und daher maximal als Diagnose, nicht aber als Methode oder Therapieform gelten lassen wollte. Mit einer letzten Aufbietung ihrer psychischen Kräfte war sie schließlich von Pawlow zu Pilates gelaufen. Und endgültig zusammengebrochen.
Natürlich fehlte zwischen dem endgültigen Zusammenbruch und dem Wiederauftauchen im Thermalbad noch mindestens ein Zwischenschritt. Und dieser Zwischenschritt hieß Elfriede Hirschhauser. Genau genommen hatte er zuerst Doris geheißen und dann erst Elfriede Hirschhauser, was nicht an einer etwaigen Namensänderung lag, sondern schlicht daran, dass sich Doris unter allen fürsorglichen Bewerberinnen für die Rettung des liliencronschen Seelenheils durchgesetzt und die Zusammengebrochene zu der unweit praktizierenden Psychologin Elfriede Hirschhauser, einer Bekannten aus Studientagen, geschleppt hatte.
Dort war die Lehrerin oder Lenkerin, nämlich des Unfallfahrzeugs, als psychisches Wrack angekommen, bevor sie langsam wieder zu sich selbst kam. Kam im Präteritum als jenem Tempus, das in einer anständigen Erzählung – und um eine solche handelt es sich hier selbstverständlich – die Gegenwart symbolisiert. Im Präteritum also, denn noch war Maria Liliencrons Prozess des Zu-sich-selbst-Kommens nicht abgeschlossen, weshalb noch nicht im Plusquamperfekt von ihm gesprochen werden kann. Wenn die Betroffene ehrlich zu sich selbst war – und ehrlich zu sich selbst oder wenigstens zu ihrer Therapeutin zu sein, war eines der Hauptziele der Therapie, es kam gleich nach der Wiederfindung des seelischen Gleichgewichts und der Verarbeitung des Erlebten, das ein anderer nicht überlebt hatte. Wenn die Deutschlehrerin im psychisch bedingten Krankenstand also ehrlich zu sich selbst war, bedauerte sie ihre momentane Lage nicht allzu sehr. Nein, nicht die Rückenlage, in der sie sich von einer Seite des Beckens zur anderen bewegte, immer einen Arm nach dem anderen hebend, über die Schulter führend und etwas über Kopfhöhe wieder ins Wasser eintauchend. Sondern die berufliche Lage, in der sie sich zu Beginn dieses Schuljahres befand. Die berufliche, die eigentlich eine rein private Lage war, weil sie für die Dauer des Krankenstands natürlich vom Unterricht befreit war und erstmals im Leben Zeit für sich selbst hatte, da auch ihre Tochter Iris bei ihren, Marias, Eltern untergebracht war. Das konnte eigentlich nicht als ideal bezeichnet werden, weil die Eltern Liliencron die Tochter über ihr Unglück angesichts der Existenz der Enkelin keinen Augenblick im Zweifel gelassen hatten. Aber auch für die Mutter war die Situation alles andere als ideal gewesen und da musste eben jeder etwas dazu beitragen.
Seinen Beitrag hatte Heinz – Maria drehte sich allein beim Gedanken an diesen Namen der Magen oder die Gebärmutter oder was auch immer um – damals in gewisser Weise auch geleistet, den Antrag dann jedoch einer anderen gemacht, sodass die neunzehnjährige Maria, als sie feststellte, dass sie schwanger war, ihre Sachen gepackt und