Glück3. Elisabeth Martschini
losgekommen bin!“ Niemand hätte das gerufen, zumindest nicht im richtigen Leben. Und Alois Hirschhauser schon gar nicht. Der hatte still seine Tränen geschluckt und Haltung bewahrt, wie er es all die Jahre über getan hatte.
Und so schluckte er auch jetzt, nicht Tränen, sondern ein Stück von Petra Sandors Marmorguglhupf, den ihm die junge Frau in mütterlicher Fürsorge vor die Nase gestellt hatte. Er bemühte sich, diese Geste zu würdigen, bemühte sich, den Kuchen zu schmecken, von dem er wusste, wissen musste, dass er ganz ausgezeichnet war. Dass die beinahe kitschige Süße des hellen Teiges mit dem bitteren Kakao der dunklen Stellen die perfekte kulinarische Kombination abgab, so perfekt, dass keine Cupcakes und Tartes und anderes neumodisches Backwerk, das es im Café Sisi ohnehin nicht gab und das Herr Hirschhauser darum auch noch nie probiert hatte, damit konkurrieren konnten. Mit anderen Worten: Alois Hirschhauser befahl sich, den Kuchen zu schmecken, weil der ihm bisher noch immer geschmeckt hatte.
„Wenn du als Mann deine Gefühle nicht unter Kontrolle halten kannst, bist du in der Rolle falsch“, ließ sich aus der hinteren Ecke des Café Sisi vernehmen.
„Wieso ich als Mann?“, folgte die verwunderte Reaktion.
„Bist keiner?“
„Sicher bin ich einer, war’s zumindest heute in der Früh beim Duschen noch ...“
„Du duschst? Und das nennst du männlich?“ Man hörte Gekicher.
„Der Mann von heute hat auch Gefühle“, verteidigte sich der in seiner Ehre merklich Gekränkte.
„Aber die Maschine von morgen hat keine, Herrgott noch mal. R2-D2 ist eine Maschine, der kriegt wegen irgendwelcher Gefühlsduseleien nicht gleich die Krise.“
„Doch, kriegt er. Du hast wirklich keine Ahnung.“
„Muss ich auch nicht. Deine ganzen Außerirdischen können mir, ehrlich gesagt, gestohlen bleiben. Denk dir vielleicht mal was anderes aus, eine eigene Story mit Menschen drin.“
„Wenn dir meine Storys nicht zusagen, sei halt das nächste Mal du Spielleiter. Ich reiß mich eh nicht um den Job.“
„Womit auch das gesagt wäre“, mischte sich eine vierte Stimme entschieden ein. Entschieden und entscheidend, denn die Streithähne ließen voneinander ab, um in ihr Paralleluniversum zurückzukehren.
„Was für ein Kontrast“, dachte Petra Sandor kopfschüttelnd. Dieses Häufchen junger, ein bisschen verrückter Männer und der alte, jeder Lebensenergie beraubte Mann, der mechanisch ein Stück Marmorguglhupf nach dem anderen in den Mund schob. Gemeinsam war den fünfen nur das etwas verwahrloste Aussehen. Bei Herrn Hirschhauser hatte sich diese Stilnuance erst in den letzten Wochen herausgebildet. Wie lange sie die vier jungen Männer an dem für so viele Personen eigentlich viel zu kleinen Tischchen beim Fenster schon umgab, wusste Frau Sandor nicht zu sagen, sie kannte die vier erst seit ein paar Wochen.
Sehr höflich hatten sie sich bei der Konditorin vorgestellt. Eine Rollenspielgruppe seien sie, hatten sie gesagt und, einer nach dem anderen, sehr artig ihre Vornamen genannt. Wie zu groß gewordene Schulbuben. Petra Sandor hatte schon abwinken wollen, denn für Laientheateraufführungen fehlte es dem Café Sisi sowohl an Platz als auch an Geld. Aber damit war sie ganz falsch gelegen, denn nicht um Aufführungen und Vorstellungen ging es den jungen Männern, sondern lediglich um einen Raum, ein Räumchen für ihre informellen Zusammenkünfte zum Zweck des Rollenspiels. Da Petra Sandors eigentlich noch junge Stirn weiterhin in Falten gelegen war, hatte einer der Männer erklärt, man schlüpfe bei so einem Treffen in eine Rolle und entwickle auf diese Weise mit den anderen Spielern eine Geschichte. Rein gedanklich. Die Vorstellung fände also ausschließlich in den Köpfen der Teilnehmer statt und habe nichts mit einer öffentlichen Aufführung zu tun. Aufführen täten sie sich selbstverständlich gar nicht, dazu seien sie alle miteinander zu wohlerzogen, hatte der junge Mann mit den sehr kurzen dunklen Haaren hinzugefügt und gezwinkert. Damit hatte er Petra Sandors Herz gewonnen und zugleich die Erlaubnis, sich mit seinen Kollegen oder Freunden zweimal pro Woche im Café Sisi einen Vormittag lang der Fantasie hinzugeben.
Das war natürlich rein grundsätzlich jedem Gast gestattet. Aber der normale Gast fühlte sich, wenn er drei, vier Stunden im Kaffeehaus zubrachte, zumeist doch dazu genötigt, mehr als einen Kaffee oder eine kleine Flasche Mineralwasser zu konsumieren. Ein junger Gast, der regelmäßig zwei Vormittage pro Woche zu diesem Zweck aufwenden konnte, verfügte hingegen tendenziell eher nicht über die finanziellen Mittel, seinen Kaffeehausbesuch mit zwei Tassen Kaffee und zwei Stücken Mehlspeise ‒ mindestens! – zu rechtfertigen. Darum die höfliche Frage bei gleichzeitiger Versicherung, das Lokal sofort zugunsten zahlungskräftigerer Kundschaft zu räumen, sollte dies einmal erforderlich sein. Man versteht, warum Petra Sandor in diesem Fall unmöglich Nein sagen konnte.
Sie hatte ihre Gutmütigkeit bisher auch nicht bereut. Allein die Unterhaltung war’s wert, fand sie. Denn mochte es sich beim Spiel dieses seltsamen Grüppchens auch nicht um eine Vorstellung für andere, außerhalb ihres Universums Stehende handeln, konnte Petra Sandor doch nicht umhin, den Dialogen der jungen Männer des Öfteren zu lauschen – und sich vor Vergnügen ins Schürzchen zu lachen. Die vier waren einfach zu liebenswürdig. Obwohl sie dem heute mehrmals zur Ordnung gerufenen Mann in der undankbaren Rolle des piepsenden und blinkenden Roboters R2-D2 insgeheim recht gab: Eine etwas innigere Beziehung zu Mutter Erde hätte den gespielten Geschichten ihrer Meinung nach nicht geschadet.
Nichtsdestoweniger trat sie augenblicklich an den Tisch der vier Sternenkrieger, als der heutige Spielleiter, auf sich aufmerksam machend, die Hand hob. Womit er dieses Mal eindeutig die hinter der Theke wartende Konditorin und nicht einen ungehorsamen Mitspieler gemeint hatte.
„Was darf es denn sein, Herr ... Andreas?“, fragte sie.
Herr Andreas. Die Anrede kam Petra Sandor auch nach zwei oder drei Wochen noch nicht flüssig über die Lippen. Die vier jungen Männer hatten sich, wie gesagt, jeder einzeln mit Vornamen vorgestellt. Und dabei war es geblieben. Frau Sandors zaghafte Versuche, die Nachnamen der werten Herren in Erfahrung zu bringen, waren freundlich, aber bestimmt abgewiesen worden. Andreas, Walter, Daniel und Justus. Das reiche, hatte der heutige Spielleiter gemeint und niemand hatte ihm widersprochen. Nicht einmal Petra Sandor, weil einem Gast zu widersprechen nur in wirklich dringenden Fällen geraten schien. Und das war kein solcher Fall, war überhaupt kein Fall, war eine Rollenspielgruppe und damit außerhalb jeder Normalität. Oder auch Realität.
Auf die Anrede Herr zu verzichten, hatte Petra Sandor trotzdem nicht über sich gebracht. So leger wollte man sich im Café Sisi doch nicht geben. Vor allem sie wollte sich nicht so leger geben, denn wo käme man denn hin, wenn jeder jeden nur mit dem Vornamen anspräche? Womöglich würde man sie selbst dann auch nur noch Petra rufen. Nicht, dass sie etwas gegen diesen Namen hatte, ganz und gar nicht, aber Petra konnte jeder heißen. Oder besser: jede. Was natürlich auch Vorteile hatte, weil sich zum Beispiel die nationale Herkunft einer Petra gut verschleiern ließ. Petra konnte eine Österreicherin genauso heißen wie eine Tschechin. Oder eben eine Ungarin. Nein, Petra Sandor war keine Ungarin mehr, nicht von der Staatsbürgerschaft her. Und Staatsbürgerschaft ist viel, wenn auch nicht alles. Vor einem sogenannten Migrationshintergrund konnte man nicht davonlaufen, den wurde man nicht los, besonders nicht heutzutage, wo er so sehr in den Vordergrund gestellt wurde. Im Guten wie im Schlechten. Da war Petra eigentlich ganz praktisch, das musste sie zugeben. Trotzdem, Frau Sandor war besser.
Nachdem sie Herrn Andreas, der den Ärger über seine Mitspieler heute offenbar mit einem zweiten Kaffee hinunterspülen musste, noch einen kleinen Braunen gebracht und den – leeren! ‒ Kuchenteller vom Tisch des Herrn Hirschhauser abserviert hatte, zog Frau Petra Sandor sich wieder hinter die Theke zurück, wo ihre Gedanken unweigerlich zu Hildegard Binsen zurückkehrten. Und zu anderen ehemaligen Gästen des Café Sisi.
Sie erinnerte sich an Karl August Graf, einen wortgewaltigen Stammgast im Café, bis, ja, bis er tragisch verunglückt war. Eine Erleichterung für Petra Sandor, noch mehr als für die anderen Gäste, das natürlich, aber trotzdem.
Oder Eckart Glück. Herr Graf war wenigstens alt gewesen, aber dieser Glück war noch jung, als ein Unfall