Glück3. Elisabeth Martschini

Glück3 - Elisabeth Martschini


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um Gottes willen, was ist denn mit dir los?“, fragte Maria Liliencron angesichts Frau Kranzlbauers Miene schon wieder halb ernst, wobei sie deren Gesichtsausdruck irrtümlich mit der Bescherung auf dem Boden in Zusammenhang brachte. Ein bisschen hatten die beiden Dinge tatsächlich miteinander zu tun, aber eben nur ein bisschen, ein sehr kleines bisschen.

      „Zettel zusammensuchen“, gab die Kollegin aus der Tiefe zur Antwort.

      „Wart, ich helfe dir“, bot Maria Liliencron an, stellte ihre Leinentasche ab und bückte sich zu Traude Kranzlbauer auf den Boden hinunter.

      Wider Erwarten schien das der Älteren gar nicht recht zu sein. „Lass nur“, wehrte sie ab, „ich mach das schon.“

      Und die Jüngere hatte den Eindruck, dass sie das wirklich so meinte. „Geheimnisse?“, fragte sie scherzhaft.

      „Nein, nein“, antwortete Traude Kranzlbauer, hatte aber schon einmal überzeugender geklungen.

      „Zeitungen?“, fragte die Kollegin überrascht, nachdem sie ein paar von Traude Kranzlbauers Papieren in die Hand genommen und einen raschen Blick darauf geworden hatte. „Kopien von alten Zeitungen?“ Maria Liliencron wusste offensichtlich nicht, was sie davon halten sollte.

      „Ach, das ist nichts“, sagte Kollegin Kranzlbauer abwehrend und nahm der anderen die einseitig bedruckten A4-Blätter aus der Hand. „Nur so eine dumme Sache.“

      „Dumme Sachen sind nie gut“, stellte Maria Liliencron entschieden fest.

      „Damit hast du zweifellos recht, liebe Maria, und gerade deswegen sollte man ihnen nicht zu viel Bedeutung beimessen.“ Damit richtete sich Traude Kranzlbauer auf, stopfte sämtliche Kopien in einen Trolley, wie alte und andere praktisch veranlagte Frauen ihn zum Einkaufen benutzten, und wollte sich von der Kollegin verabschieden.

      Die schien jedoch vollkommen vergessen zu haben, dass sie selbst schon auf dem Heimweg gewesen war, bevor ihre schlanken Beine Traude Kranzlbauers Hinterteil touchiert hatten. „Erzähl mir von der dummen Sache“, forderte sie die Freundin/Kollegin auf.

      Die, obwohl nicht mehr ganz so abwehrend, entgegnete jedoch: „Nicht heute. Ein andermal vielleicht, wenn du es dann immer noch wissen willst.“

      „Ich will, versprochen“, antwortete Maria Liliencron.

      Traude Kranzlbauer nickte stumm.

      „Also, was ist das für eine dumme Sache, wegen der du gestern buchstäblich am Boden zerstört warst?“, fragte Maria Liliencorn am nächsten Tag in der großen Pause und ließ sich, eine Wurstsemmel mit Essiggurkerl in der Hand, neben Traude Kranzlbauer am langen Lehrertisch nieder.

      „Nicht jetzt, Maria, und nicht hier“, wich die Kollegin aus. Aber es klang nicht nach Ausrede oder Ausflucht. Im Gegensatz zu gestern erweckte Frau Kranzlbauer heute durchaus den Eindruck, als wollte sie der Jüngeren wahrhaftig ihr Herz ausschütten. Nur eben nicht jetzt und vor allem nicht hier im Konferenzzimmer, wo in einem fort Lehrer ein- und ausgingen und neugierige Ohren nach Möglichkeit gerade das zu erhaschen versuchten, was ihre Träger ganz bestimmt nichts anging.

      „Wie wär’s nach der Arbeit im Café Sisi?“ Maria Liliencron gab nicht auf.

      „Nein, heute kann ich nicht, muss noch ins Stadtarchiv. Aber wenn du drauf bestehst, können wir morgen auf einen Kaffee gehen.“

      „Ich bestehe darauf“, lächelte Maria Liliencron und biss von ihrer Wurstsemmel ab. „Morgen aber wirklich“, sagte sie kauend. Da huschte sogar über Frau Kranzlbauers Gesicht ein Lächeln.

      Maria Liliencron und Traude Kranzlbauer gingen auch am nächsten Tag nicht ins Café Sisi. Das lag jedoch nicht daran, dass die Ältere wieder einen Rückzieher gemacht hätte und zur Jüngeren auf Distanz gegangen wäre, eher im Gegenteil. Nach dem letzten Herbst, in dem aus den beiden Kolleginnen so etwas wie Freundinnen geworden waren, wäre es Frau Kranzlbauer ein wenig merkwürdig und quasi anachronistisch vorgekommen, mit Maria ins Kaffeehaus zu gehen. Gewissermaßen wie ein Rückschritt, nachdem man doch schon so weit gegangen war, miteinander den intimsten Raum der Traude Kranzlbauer, die Küche, zu teilen.

      „Warum eigentlich ins Café Sisi?“, fragte diese deshalb die Jüngere.

      „Magst lieber ins Café Post oder ins Central gehen?“, wunderte sich die Kollegin beziehungsweise Freundin.

      „Nein, um Himmels willen, nur nicht“, wehrte Traude Kranzlbauer erschrocken ab. „Kaffee kann man dort vielleicht noch trinken, aber die Mehlspeisen sind wirklich nicht gut. Dass die sich so was überhaupt anzubieten trauen.“ Frau Kranzlbauer schüttelte sich und die Blümchen auf ihrer Bluse gerieten in heftige Bewegung. „Nein“, fuhr sie fort, „was ich vorschlagen wollte war, dass wir zu mir gehen.“ Und sie fügte hinzu: „Das war im Herbst doch auch immer so gemütlich.“

      Maria Liliencron war erleichtert, geradezu erfreut. „Aber ja, freilich, gern! Ich habe mich nur nicht einladen wollen, wo ich mich doch schon aufgedrängt habe.“

      „Du und aufdrängen“, lachte Traude Kranzlbauer. „So anständig und zurückhaltend ist in dem Alter kaum jemand.“

      Maria Liliencron schluckte. Ja, anständig und zurückhaltend. Aber wo führte eine wie sie das hin? In den Himmel vielleicht, aber der war von Marias ja schon geradezu überbevölkert.

      Die junge, anständige, zurückhaltende Maria Liliencron kam zum Glück aber nicht dazu, sich weiter den Kopf über diese Angelegenheit zu zerbrechen, weil Freundin Traude ihr von einem Kirschstreuselkuchen vorschwärmte, den sie am Vortag gebacken hatte. Aus tiefgekühlten Früchten, versteht sich, denn wo hätte man Ende März frische Kirschen bekommen sollen. Natürlich – oder eher unnatürlicherweise – im Supermarkt, importiert von weiß Gott woher, garantiert geschmacksneutral und ein ebenso sicherer Beitrag zur Klimaerwärmung, gegen die Frau Kranzlbauer, die den Sommer liebte, zwar nicht unbedingt etwas einzuwenden gehabt hätte, die sie aber nicht durch den langfristig die heimischen Obstbauern schädigenden Kauf exotischer Globetrotterkirschen fördern wollte.

      Kurz: Die Kirschen auf dem von ihr liebevoll nach bestem Wissen und Gewissen, vor allem aber nach einem alten Rezept gebackenen Streuselkuchen hatten ihren Weg aus dem kranzlbauerschen Garten über den Gefrierschrank bis unter die Streuseldecke gefunden. Dort ruhten sie jetzt und warteten darauf, in Maria Liliencrons Mund und Magen letzte Erfüllung zu sein. Weil danach ja nicht mehr gut von Kirschen gesprochen werden konnte, höchstens von Kirschkernen, falls man versehentlich einen solchen verschluckt hatte. Bei Traude Kranzlbauer konnte das schon mal passieren, weil die die Kirschen für ihre Kuchen nicht entkernte.

      „Da gatschen sie so und das mag ich nicht“, hatte sie einmal entschuldigend erklärt, als Kollege Braunsfelder sich bei einer Lehrerkonferenz, die Frau Kranzlbauer zwar nicht abzukürzen, aber immerhin zu versüßen pflegte, beinahe einen Zahn ausgebissen hatte.

      Die Kombination und Alliteration von Kuchen, Kirschen, Kernen und Kaffee versüßte auch jetzt das Gespräch der beiden Kolleginnen/Freundinnen, die den Spätnachmittag in Traude Kranzlbauers gemütlicher Küche verbrachten. Frau Kranzlbauer kam nicht sofort auf die dumme Sache zu sprechen und Maria Liliencron ließ ihr Zeit. Je länger sie ihr Geständnis hinauszögerte, umso länger kam Maria in den Genuss, die seelische Entspannung, die sie in Traudes Küche immer erfuhr, mit einer zunehmenden Anspannung beziehungsweise Ausdehnung des Magens zu kompensieren. Gerade heute war ihr das sehr recht. Maria Liliencron verspürte großen Appetit, auch wenn ihr, das musste sie insgeheim zugeben, ein Schokoladenkuchen noch lieber gewesen wäre. Mit viel Glasur obendrauf. In Kuchengenüssen und -fantasien schwelgend, vergaß Maria Liliencron ganz auf die Zeit. Ein Leiden oder eigentlich ein Segen, das beziehungsweise den sie in den vergangenen Wochen – oder waren es Monate? – regelmäßig an sich festgestellt hatte.

      Auch Traude Kranzlbauer ließ sich, ihr und ihnen beiden Zeit. Sie, die die Dinge sonst immer beim Namen nannte, wusste nun nicht, wie sie beginnen sollte. Sie warf einen Seitenblick auf die junge Kollegin, die schon das zweite Stück Kuchen verspeiste. Der Altersunterschied machte es Frau Kranzlbauer nicht


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