Glück3. Elisabeth Martschini
Maria am Anger stand im Licht der Aprilsonne. Auf die Idee zu behaupten, sie hätte diese oder eine andere Sonne oder überhaupt irgendetwas genossen, würde nicht einmal der am poetischsten veranlagte Romanschreiber kommen. Was selbstverständlich an der Stellung des Verbs lag. Weil dessen Position hinter dem Anger Maria jede Persönlichkeit oder jedenfalls jede Menschlichkeit, ja, jede Lebendigkeit im Allgemeinen und darum auch jede Genussfähigkeit nahm. Mit anderen Worten: Maria am Anger war keine Person, weil sie als solche nur am Anger hätte stehen können. Sie stand aber in der starken, gleichwohl noch nicht richtig warmen Aprilsonne. Hinter Maria stand wiederum am Anger, nicht das Verb. Und da am Anger keine Herkunftsbezeichnung war und damit nicht auf eine etwaige Adligkeit Marias hindeutete, sondern vielmehr Ortsbezeichnung war, konnte es sich bei Maria am Anger fast nur um eine Kirche handeln. Nicht Adligkeit also, sondern Heiligkeit, was nur in seltenen Fällen zusammenging. Und heutzutage bekanntlich gar nicht mehr.
Maria am Anger war die Pfarrkirche von Bad Au. Rund um sie herum stand, nein, lag ein kleiner Friedhof, standen die Grabsteine und lagen die Toten. Freilich nicht alle toten Bad Auer, dafür wäre der Friedhof selbst in den guten alten Zeiten, als noch keine Verkehrsunfälle und derlei Sachen die Menschen das Leben gekostet hatten, zu klein gewesen. Wirklich alle Toten aus dem Ort waren hier nur in den ganz alten Zeiten beerdigt worden, die aber keine guten gewesen waren, weil finster. Finsteres Mittelalter und so. Aber eben auch christliches Mittelalter, das besonders gegen Ende hin einen schier unglaublichen Marienkult entwickelte. Aus dieser Zeit stammte Maria am Anger oder zumindest deren Fundamente und die ältesten gotischen Mauerteile. Der Rest kam später, obwohl gerade noch rechtzeitig, nämlich vor der Entdeckung der Thermalquelle und damit vor dem Reichtum des Marktfleckens, der dank diesem schnell zur Stadt aufgestiegen war.
Warum der späte Reichtum beziehungsweise die Späte des Reichtums für die Kirche Maria am Anger von Vorteil war? Weil das Kirchlein mangels Geldes und Goldes zu Zeiten der Gegenreformation nicht mit barockem Kitsch überladen werden konnte. Stattdessen wurde der während der Türkenkriege arg beschädigte Turm nach Jahrzehnten des Verfalls in sehr nüchterner Form wiederaufgebaut. Allerdings soll der Legende nach beim ersten Schlag der neuen Glocke in etwa dreihundert Metern Entfernung die Thermalquelle entsprungen sein. Da lag das Barock schon in den letzten Zügen.
Außer den Bad Auern aus der ganz alten Zeit, die noch keine gute gewesen und in der daher von Bad Au keine Rede gewesen war, weil der Marktflecken noch nicht zum Kurort, geschweige denn zur Kurstadt aufgestiegen war, weshalb korrekterweise nicht von den toten Bad Auern, sondern von den toten Angerern gesprochen werden müsste – außer diesen jedenfalls lagen hier aus Platzgründen, und weil sich so ein Friedhof an einem leicht erhöhten Punkt mitten in der Stadt auch grundwassertechnisch nicht so gut machte, nur die Mitglieder von ein paar weniger guten, das heißt angesehenen und alteingesessenen Familien. Und wer halt sonst noch bereit gewesen war, zu Lebzeiten für eine Wohnstatt post mortem fast so viel hinzublättern wie ... Aber lassen wir das. Wer auf dem Friedhof rund um Maria am Anger ruhte, konnte sich wenigstens nach seinem Tode der Aufmerksamkeit seiner Mitmenschen beziehungsweise Nachwelt sicher sein. Zumindest solange diese Nachwelt den Brauch des sonntäglichen Kirchgangs pflegte.
Heute aber war Dienstag und Maria stand ziemlich alleine in der Aprilsonne. Ziemlich bedeutete aber nicht ganz, denn da war noch Alois Hirschhauser.
„Ich sollte am Grab meiner Frau stehen“, dachte dieser und ein Schatten huschte über sein Gesicht. Und dann: „Aber das tue ich doch.“
Mit Frau Hirschhauser, die es eine gewisse Zeit lang in seinem Leben gegeben hatte, war er vor den Traualtar getreten, hatte sie ins Krankenhaus begleitet, war an ihrem Bett gesessen und hatte ihre Hand gehalten. Nicht bei der Geburt des Sohnes, der zum angeblichen Leidwesen der Eltern der einzige geblieben war. Das war damals noch nicht üblich gewesen. Da hatte man die Männer aus dem Kreißsaal verbannt, hatte sie später erst vor vollendete Tatsachen gestellt, nämlich vor die schlecht geputzte Scheibe der Säuglingsstation, hinter der ein fest in Windeln gewickelter Wurm in die Höhe gehalten worden war, über dessen frappierende Ähnlichkeit mit sich selbst der Vater entzückt sein sollte. Die korrekte Wiedergabe des Plusquamperfekts erspare man sich angesichts der Umstände.
Nein, damals hatte er sie nicht ins Krankenhaus begleitet, jedenfalls nicht bis ins Krankenzimmer, das auch gar kein solches gewesen war, weil es sich im Grunde genommen weder bei einer Schwangerschaft noch bei einer Geburt um eine Krankheit handelte. Durch Viren oder Bakterien ausgelöst und durch Medikamente mehr schlecht als recht behandelbar. Andererseits – nach Unfällen kamen die Menschen auch ins Krankenhaus. So gesehen hatte das Massaker einer Geburt vielleicht doch etwas mit einer Krankheit als einem Zustand, den es zu beheben galt, gemein.
Aber das war Herrn Hirschhausers Sorge nicht gewesen. Die Frau gepeinigt, doch gesund. Der Wurm gebadet und gestillt. Da war so weit alles in Ordnung gewesen. Die Ordnung wurde erst ein paar Jahre später gestört. Nein, nicht, dass man glaube, der zuckersüße, glatzköpfige und rotgesichtige Sohnemann wäre in die Pubertät gekommen. Sicherlich, das auch, das ließ sich mit legalen Mitteln gewissermaßen nicht verhindern, aber so etwas ging vorbei, so wenig manch geplagter Elternteil mitten im hormonellen Chaos des bis dahin so hoffnungsvollen Nachwuchses auch an die Absehbarkeit des Endes glauben konnte. Das heißt, vorbeigegangen war auch Frau Hirschhausers zweiter Krankenhausaufenthalt, der diesmal tatsächlich krankheitsbedingt gewesen war. Nur war halt danach nichts mehr gekommen. Außer dem Leichenwagen zur Prosektur, von wo er weiter zur Aufbahrungshalle des Bad Auer Friedhofs gefahren war. Mit den sterblichen Überresten, die schon seit vier Tagen so tot gewesen waren, dass von sterblich eigentlich keine Rede mehr hatte sein können. Menschen waren sterblich. Aber Tote?
Zu lieben, zu achten und zu ehren hatte er einmal versprochen und die Knie waren ihm weich gewesen dabei. Das Trauen hatte er anderen überlassen. Seiner Braut, die den Mut aufgebracht hatte, diesen Friseur zum Mann zu nehmen, der die Menschen mit seinem Wesen auf Abstand hielt, wie er es bei den Kunden mit seinen Händen tat, wenn er ihnen nur scheinbar, obwohl spürbar nahe kam, tatsächlich aber selbst die Grenzen bestimmte, bis zu denen sie ihm und seinen geschickten Händen entgegenkommen durften. Und dem alten Pater Johannes, der die Befugnis mitgebracht hatte, die beiden jungen Leute im Bund der Ehe zu vereinen. Und er, also Herr Alois, hatte sie denn auch geachtet und geehrt, sie, die frisch gebackene Frau Hirschhauser. Während all der Jahre. Auch als die Krankheit die einstige Frische ausgedörrt und aufgezehrt hatte. Er hatte sie begleitet, auf ihrem Lebensweg genauso wie auf ihrem Weg in diese andere, vielleicht bessere Welt hinüber. Na, nicht bis ganz hinüber. Obwohl ihm schon ein bisschen danach gewesen wäre. Weil der Mensch halt nachdenklich wurde, wenn der Tod eine Ehe zu scheiden drohte, die man nur auf fremdes Betreiben hin eingegangen war. Irgendwo wollte man ja doch selbst entscheiden. Aber keine Entscheidung Alois Hirschhausers, kein Dem-Tod-auf-die-Schippe-Springen, um den angetrauten Menschen selbst dann nicht verlassen zu müssen. Vielmehr ein Scheiden oder Hinscheiden seiner Frau, der er ein guter Ehemann gewesen war. Sie achtend und ehrend. Und liebend eine andere.
Hildegard Binsen stand auf dem Grabstein. Was im Übrigen die Notwendigkeit der Kursivsetzung klar vor Augen führt, weil alles andere widernatürlich gewesen wäre.
„Ihre Frau?“, fragte eine mitfühlende Stimme neben Herrn Hirschhausers rechtem Ohr.
Der Teufel mit den drei goldenen Haaren wäre ein Lämmchen dagegen gewesen. Was da nämlich beinahe in Alois Hirschhausers Augen stach, als er den Kopf erschrocken nach rechts wandte, ging über das Leuchten dreier glänzender Härchen weit hinaus, hatte, bei aller Liebe, mehr Ähnlichkeit mit dem Höllenfeuer. Weil Mitzi Calloni nämlich, um einen neuen Lebensabschnitt einzuläuten, den Gang zum Friseur nicht gescheut hatte. Weshalb ihre bislang violette Dauerwelle jetzt in frischem Orange von ihrem Kopf abstand und in Herrn Hirschhausers Augen stach. Das milderten auch die verführerisch sanft durch die kühle Aprilluft gehauchten Worte nicht ab.
„Schlecht gefärbt“, war der erste verbal fassbare Gedanke, der durch Alois Hirschhausers Kopf ging, nachdem sich das friedhöfliche Schreckgespenst als ältere Dame aus Fleisch und Blut herausgestellt hatte. Oder als Frau mit Haut und Haar, obwohl die Haut in diesem Fall gegenüber dem Haar verblasste und geradezu farblos erschien. Dennoch oder gerade deswegen bezog sich Alois Hirschhausers