Die Ahnenpyramide. Ilse Tielsch
leicht steirisch gefärbte niederösterreichische Aussprache, in seine Zwielaute, Umlaute, Vokale, verliebte sich überhaupt in Friederike, fuhr bald darauf nach Furthof, kam wahrscheinlich in Furthof mittags gegen ein Uhr mit der Postkutsche an. Der Postfranzl blies auf seinem Horn, das Postfräulein Helene kam aus dem Herrenhaus, nahm die Post entgegen, blickte erstaunt nach Adalbert hin, Adalbert fragte nach Friederike, fragte nach Hermann, dem Feilenfabriksdirektor, wurde von Helene ins Haus gebracht.
Noch im gleichen Jahr verlobten sich Adalbert und Friederike, zu Beginn des folgenden Jahres fand die Verlobung der älteren Schwester, Helene, mit jenem Mann statt, der später ONKEL PEPI hieß.
In Amalias Tagebuch sind beide Ereignisse eingetragen:
(12. Dezember 1892, sehr schöner Tag, kam Adalbert um Friederike anhalten, haben einen guten Karpfen gehabt, schön gespeist. Adalbert sehr lieber Kerl.
14. Dezember, Schnee und Regen, Adalberts und Fritzerls Verlobung gefeiert.
16. Dezember, Schneegestöber, mit Friederike nach Lilienfeld gefahren, Spitzen einkaufen. Verlobungskarten ausgeschickt. Abends Jägerunterhaltung im Salettl, sehr gut unterhalten.
6. Mai 1893, ziemlich schön, an Fritzerl ihrem blauen Kleid genäht, hergerichtet für den Abend, Vater nach Lilienfeld gefahren, nachmittags wieder zurückgekommen, abends Verlobung Helene und Pepi gefeiert.
15. Mai, Regen, entsetzlicher Kot, Wäsche eingeweicht, Verlobungskarten geschrieben. Abends mit Vater zu Durst gegangen, Kegel geschoben, dann ins Salettl gegangen bis % 12 Uhr. Prächtig unterhalten.)
In Amalias Tagebuch ist auch festgehalten, was in der Zeit nach der Verlobung der Töchter für sie neben der täglichen Hausarbeit noch zu tun gewesen ist:
(Kleider und Blusen für Helene und Fritzerl zugeschnitten, fleißig genäht.
Fleißig gestickt.
Fleißig die Rosakleider für Mädeln fertiggemacht.
Sehr müde gewesen, zeitlich schlafen gegangen. Fritzl ihre Hosen, Nachtkorsetten und Unterröcke zugeschnitten. In Lilienfeld gewesen, Spitzen eingekauft, Nachtkorsetten fertiggemacht.
Polsterziechen genäht.
Duchetziechen gemacht.
Fleißig genäht bei Fritzi und Lenerl ihre Sachen.
Mäderln ihre Hochzeitskleider zugeschnitten, bis abends genäht, sehr müde.
Endlich die Wäsche von die Mäderln fertigbekommen.)
Amalia, die tüchtige Gastwirtstochter aus Mürzhofen, hat nicht nur jedes Kleidungsstück für ihre Töchter selbst zugeschnitten, geheftet, Stich für Stich mit eigener Hand fertiggestellt, sie hat das gleiche mit jedem Wäschestück getan, das die Töchter als Heiratsgut mitbekamen, sie hat diese Wäschestücke mit gestickten Monogrammen versehen, sie hat die Brautkleider der Töchter genäht. Nebenbei hat sie gekocht, gebacken, Wäsche gewaschen, in den Garten zum Trocknen gebracht, gebügelt, in die Schränke gelegt, sie hat ihren Garten bestellt,
(Knoblauch, Zwiferl, Petersil und gelbe Rüben gesetzt, Kartoffeln gelegt, Kohlrüben, Karfiol, Kraut und Kohl gepflanzt, gehackt, gejätet, geerntet, gedüngt, Karfiol ausgeschnitten, Kartoffeln ausgenommen, Blumen gesetzt und gepflegt, Rosen geschnitten)
sie hat Fische gesotten, Kletzenbrot gebacken, die Bücher TROTZKOPFS BRAUTZEIT und GOLDELSE gelesen, sie hat Jour fixe im Salettl gehalten, im Gasthof Durst Kegel geschoben, im Gasthof Singer gejodelt und Pilsner Bier getrunken, sie hat auf der Brennalm getanzt (Große Brennalm-Partie, 15 Personen, Feuerwerk abgebrannt, Musik, sehr lustig gewesen), sie ist mit Hermann nach Mariazell gefahren, auf die Bürgeralpe gegangen, hat Verwandte in Wien besucht, ist in den Prater gefahren, ins Theater und in die Oper gegangen.
Sie hat, ganz heimlich und nebenbei, ihr Geheimnis gehabt.
(Brief von S. bekommen.
Geantwortet.
Kummer gehabt. Viel geweint.
Großer Verdruß mit Hermann, ist mir sehr schwer gewesen.
Brief geschrieben.
Sehr schwerer Abschied von S.)
Friederike und Adalbert wurden zwei Jahre nach ihrer Verlobung in der Stiftskirche von Lilienfeld vom Abt persönlich getraut. Friederike verließ ihre HEIMAT Furthof und folgte Adalbert nach Boskowitz, später nach Brünn, wenige Jahre nachher wurde Adalbert in die nordmährische Kleinstadt Mährisch-Trübau versetzt.
WIR SOLLTEN EINMAL NACH MÄHRISCH-TRÜBAU FAHREN, sagte ich zum Vater.
Obwohl der Vater in Boskowitz geboren wurde und in Brünn die ersten Jahre seiner Kindheit verlebt hat, ist ihm Mährisch-Trübau HEIMAT gewesen.
6
Während der Fragebogen, der mir eine Definition meines Heimatbegriffes in höchstens dreißig Zeilen (in Maschinschrift oder deutlich lesbar mit der Hand geschrieben) abverlangt, von den Absendern in der Bundesrepublik Deutschland mit meinem Namen versehen worden ist, hat ein österreichisches Institut für Soziologie einen anderen, umfangreicheren Fragebogen an Bernhard geschickt. Bernhard ist in Wien geboren worden und aufgewachsen, er hat diesen Fragebogen seiner Eltern wegen bekommen. (AUSDRÜCKLICH MÖCHTEN WIR BETONEN, DASS IHRE PERSON VOLLKOMMEN ANONYM BLEIBT UND DER AUSGEFÜLLTE FRAGEBOGEN DRITTEN PERSONEN NICHT ZUGÄNGLICH IST.)
Die Eltern von Bernhards Vater stammten aus Bodenbach, seine Mutter wurde in einem egerländischen Dorf geboren.
In dem mit dem Vermerk WICHTIG versehenen Brief, der dem Fragebogen beigelegt worden ist, wird darauf hingewiesen, daß das Thema der volksdeutschen Flüchtlinge und der Heimatvertriebenen in Österreich bisher nur auf sehr schmaler Basis behandelt worden ist. Wolle man für eine VERBREITERUNG DES WISSENSSTANDES sorgen, sei es dazu allerhöchste Zeit. DIE ZAHL JENER PERSONEN, DIE AUS EIGENEM ERLEBEN ODER ZUMINDEST ÜBER ERFAHRUNGSBERICHTE ÄLTERER FAMILIENMITGLIEDER AUSKÜNFTE ÜBER DIE EINGLIEDERUNG DER VOLKSDEUTSCHEN NACH DEM 2. WELTKRIEG GEBEN KÖNNEN, WIRD MIT DEN JAHREN IMMER GERINGER.
Im Gegensatz zu dem an mich gerichteten Fragebogen enthält dieses Bernhard zugegangene Formular Fragen nach Problemen der Wohnungssuche, der Existenzgründung, der Schwierigkeiten des Neuanfangs nach dem Krieg.
Fragen, die man beantworten kann, sagte Bernhard, aber sie betreffen mich nicht. Schließlich stammt eine Million aller heute in Österreich Lebenden von aus Böhmen, Mähren und Schlesien eingewanderten Vorfahren ab. Wenig später fand ich ihn in seinem Zimmer über eine alte Landkarte gebeugt, auf der die Orte, die damals deutsche Namen getragen hatten, noch mit diesen verzeichnet waren. HALMGRÜN, GRASENGRÜN, EDERSGRÜN, las ich, RUPPELSGRÜN, STELZENGRÜN, WINTERGRÜN, RANZENGRÜN. So viele GRÜN, sagte ich, wer weiß, wie diese Orte, wenn es sie heute noch gibt, jetzt heißen.
Man müßte mit einer neuen Landkarte vergleichen, sagte Bernhard.
DOTTERWIES, las ich, STORCHENNEST, GROSSENTEICH.
Was für hübsche Namen, sagte ich.
Bernhard suchte mit der Lupe die Karte ab, schließlich deutete er auf einen winzigen Punkt. Hier, sagte er, wurde meine Mutter geboren. Er ging zu seinem Schreibtisch, zog eine Lade auf, suchte unter Papieren eine Fotografie hervor und reichte sie mir. Vor einem sehr kleinen, ebenerdigen Bauernhaus stand ein Kind, ein kleines Mädchen, es trug einen knöchellangen Rock, die kleinen Füße steckten in derben Schuhen, unter dem Kopftuch sahen hellblonde Löckchen hervor. ANNA, SIEBEN JAHRE ALT, stand mit ungelenker Schrift auf der Rückseite geschrieben.
So viele haben ANNA geheißen, dachte ich, die kleinen Bauernmädchen, die Landkinder, die Töchter der Handwerker, der Färber und Weber, deutsche und tschechische Mütter haben ihren Töchtern den Namen der Mutter Mariens gegeben, Anna, die Großmutter Christi, auf den Heiligenbildern in blaue Gewänder gehüllt, bitte für uns, heilige Anna, schütze uns, bete für uns bei deinem Enkel, er sitzet zur rechten Hand Gottes, des allmächtigen Vaters. Nimm diese, meine Tochter, in deinen ganz persönlichen