Die Ahnenpyramide. Ilse Tielsch
Krautköpfe wuchsen. HIER HAT MEINE GROSSMUTTER WAHRSCHEINLICH IHR GEMÜSE GEZOGEN. Die Familie habe einfach gelebt, sagte der Vater, zum Abendessen habe es oft STERZ gegeben, Braten nur sonntags und an Feiertagen. Amalia habe Gänse und Hühner gehalten, sie außer mit dem üblichen Körnerfutter auch mit in Milch getauchten Semmeln gefüttert, um den Geschmack des Fleisches zu verbessern. (Das SCHOPPEN der Gänse sei in ihrer Heimat, der Steiermark, nicht Sitte gewesen und habe als Grausamkeit und Tierquälerei gegolten.)
Den Pferden habe man übrigens, wenn man von einem Ausflug rascher heimkommen wollte, ebenfalls Semmeln zu fressen gegeben, diese Semmeln aber habe man in Wein getaucht.
Dem Feilenfabriksdirektor seien Wagen und Pferde zur Verfügung gestanden, oft habe man Ausflüge unternommen, man sei in das Gasthaus ZUR BRUCK gefahren, nach Marktl, Sankt Egyd, Lilienfeld, man habe Bekannte besucht, aber auch größere Fahrten unternommen, etwa nach Neuberg, Freiland oder Mariazell. Das alles wisse er, sagte der Vater, aus Amalias Tagebuch.
Nach Amalias Tod sei dieses Tagebuch unter den Erben geteilt worden und er, der Vater, habe seinen Teil gewissenhaft abgeschrieben und an die anderen Erben verschickt, seinerseits die Abschrift der anderen Teile von ihnen erbeten, aber auf seine Bitte niemals Antwort erhalten. Außer mir, sagte er, hat sich wahrscheinlich niemand die Mühe des Abschreibens gemacht. WER WEISS, OB SIE ES ÜBERHAUPT GELESEN HABEN, WAHRSCHEINLICH HABEN SIE, WAS SIE BEKOMMEN HABEN, EINFACH WEGGEWORFEN ODER VERBRANNT.
Rückwärts an den Garten schlossen sich kleine Gebäude an, Schuppen und Stall, HIER WAREN DIE KUTSCHEN UND DIE PFERDE UNTERGEBRACHT, MEINE MUTTER LIEBTE PFERDE UND HIELT SICH BESONDERS GERNE IN DER KUTSCHERSTUBE AUF, im Hintergrund stiegen die Wiesen zu einem Hügel an, auf dem Hügel begann der Wald.
HIER GING MAN ÜBER DIE ANNENHÖHE ZUR BRENNALM HINAUF. Ausflüge zur Brennalm, Schlittenpartien, Feuerwehrfeste. Am Fronleichnamstag trugen die Mädchen Blütenkränze im aufgelösten, tags zuvor mit Zuckerwasser befeuchteten und eingedrehten Haar. FRÜHMORGENS BRACHTE DIE WERKSKAPELLE MEINEM GROSSVATER EIN STÄNDCHEN.
Laientheater bei Silvesterfeiern, LEBENDE BILDER, meine Mutter und ihre zwei Schwestern sollten einmal GLAUBE, LIEBE UND HOFFNUNG verkörpern, sagte der Vater, meine Mutter sollte dabei einige Verse sprechen, verlor aber aus Lampenfieber die Sprache und brachte nur die Worte: ICH BIN DIE LIEBE heraus.
Hermann, der Sohn des Waldübergehers aus dem Rosaliengebirge, reiste nach London und brachte von dort moderne Feilenhaumaschinen mit, er stellte die Fabrik auf Maschinenbetrieb um.
Der Vater fotografierte die Feilenfabrik, er fotografierte die Haupt- und Nebengebäude, die Aufschrift über dem Portal.
Er habe nie herausbekommen können, sagte er, warum sein Großvater so früh pensioniert worden sei. In Amalias Tagebuch sei von GROSSEM KUMMER die Rede, Näheres habe wahrscheinlich in den anderen, durch die Nachlässigkeit der Erben verlorengegangenen Teilen gestanden. Er habe sich bemüht, der Sache auf den Grund zu gehen, irgend etwas müsse damals geschehen sein, wovon seine Mutter ihm nie erzählt habe, worüber sie nicht habe sprechen wollen, er habe schon vor vielen Jahren damals noch lebende Bekannte seines Großvaters nach den Zusammenhängen gefragt, aber nie die erwartete Auskunft bekommen. JETZT IST ES ZU SPÄT, sagte er, JETZT SIND ALLE, DIE ES GEWUSST HABEN, SCHON LANGE TOT, JETZT WERDEN WIR NIE MEHR ERFAHREN, WAS DAMALS GESCHEHEN IST.
Ich stand auf der Straße, vor dem Haus, beobachtete den Vater, der mit kleinen, vorsichtigen Schritten hin und her ging, ließ die Zeit zurückspringen, ein ganzes Jahrhundert zurück, dachte an jene, die in diesem Haus gelebt hatten, sah Amalia, wie ich sie von den Bildern her kannte, jung, resolut, lebenslustig und selbstbewußt, Tochter des Gastwirts und Erbpostmeisters aus Mürzhofen, die in ihrem Tagebuch gewissenhaft registrierte, wann sie Wäsche eingeweicht, Kleider zugeschnitten, Jacken genäht, Gemüse geerntet, wann sie Gäste empfangen, Besuche gemacht hat, wann sie mit den Kindern zur Kirche ging, wann sie geweint hatte und wann sie glücklich war, sah vier Kinder, drei Mädchen und einen Jungen, in einem von Ziegenböcken gezogenen Wägelchen sitzen, hörte die Kinder lachen, ließ die Zeit wieder vorwärtslaufen, das Leben dieser Kinder an mir vorbeiziehen, dachte daran, wie jedes von ihnen sein eigenes, ganz persönliches Unglück gehabt hatte.
Ich dachte daran, daß man Helene den Sohn genommen hatte, daß sie von Onkel Pepi, DER EIN GUTMÜTIGER MENSCH GEWESEN IST, aus dem Haus gejagt worden war.
Ich dachte an die schöne, unglückliche Marie, die zweitälteste der Töchter, die von einem im Haus arbeitenden Zimmermaler vergewaltigt worden war, sie mußte das Kind zur Welt bringen, es war ein Sohn, man brachte ihn sofort nach der Geburt zu fremden Leuten, für Marie war das Leben zu Ende, man war glücklich, als sich schließlich ein Mann dazu bereit erklärte, sie trotzdem zur Frau zu nehmen. Der Mann war Witwer, er war so alt wie Hermann, der Feilenfabriksdirektor, er hatte Krebs und hoffte auf Heilung im warmen Klima von Abbazia, Marie durfte ihn dorthin begleiten, Abbazia brachte jedoch, wie sich denken läßt, keine Linderung seiner Leiden, er starb wenige Jahre nach der Heirat, und Marie war wieder allein. Sie versuchte, ihrem verpfuschten Leben einen Sinn zu geben, pflegte Schwerkranke und die Kinder anderer Leute, während ihr eigener Sohn, den sie nicht sehen durfte, selbst krank war und mit sechzehn Jahren an Tuberkulose starb.
Wir besitzen eine Fotografie von Marie aus jener Zeit, große Augen in einem schmalen, immer noch schönen Gesicht, eine Schwesternhaube auf dem hochgekämmten Haar. IN TREUER LIEBE MIT EUCH VERBUNDEN WIRD SEIN UND BLEIBEN SR. MARIE.
Später trat sie in den Orden der Franziskanerinnen ein. Um für die Sünde zu büßen, die andere an ihr begangen hatten, soll sie die niedrigsten Arbeiten verrichtet haben. Beim Waschen der Steinfußböden in den Klostergängen im Winter zog sie sich ein Nierenleiden zu, an dem sie wenige Jahre später starb.
(Darüber nachdenken, von welchen Zufällen, Kleinigkeiten, unüberlegt getroffenen Entscheidungen ein Leben bestimmt wird, der Verlauf eines Lebens abhängt.
Wäre der Malergeselle damals nicht mit der jungen Marie alleingelassen worden, hätte Amalia, aber auch Hermann, der Feilenfabriksdirektor, hätten Maries Schwestern dem fremden Malergesellen nicht vertraut, wäre nur eines der anderen Familienmitglieder im Haus geblieben, hätte die Möglichkeit, dem Mädchen Marie GEWALT ANZUTUN, für den Malergesellen nicht bestanden, hätte Marie kein Kind geboren, hätte sie einen Mann ihrer Wahl heiraten können, wäre sie VIELLEICHT GLÜCKLICH GEWORDEN.
Hätten Amalia und Hermann anders entschieden, hätten sie den Sohn ihrer Tochter Marie nicht zu fremden Leuten gegeben, wäre er vielleicht ein gesunder, tüchtiger Mann geworden, hätte er vielleicht die Tuberkulose nicht bekommen, obwohl Tuberkulose damals sehr verbreitet gewesen ist. Vielleicht wäre er ein guter Schüler gewesen, vielleicht hätte man ihn zum Studium an die Bergakademie nach Leoben geschickt, vielleicht hätte er Überdurchschnittliches geleistet, vielleicht wäre er Feilenfabriksdirektor geworden.)
IN HOHENBERG KÖNNEN WIR JAUSNEN, sagte der Vater.
Wir fuhren nach Hohenberg hinüber, suchten den Gasthof DURST, fanden ihn unter anderem Namen, er hieß jetzt GASTHOF ZUM ROTEN HAHN.
Im Gasthof SINGER war ein SALETTL, sagte der Vater, IN DIESEM SALETTL WAR JEDE WOCHE JOUR FIXE, du kannst es im Tagebuch nachlesen.
Der Vater hätte gerne das Salettl gesehen, aber der Gasthof Singer war geschlossen. Die jetzige Besitzerin ist eine Wienerin, sagte der Wirt vom ROTEN HAHN, sie kommt erst gegen Weihnachten wieder. ZU WEIHNACHTEN KÖNNEN SIE DAS SALETTL SEHEN.
Vielleicht können wir von der Anhöhe hinter dem Gasthof Singer von rückwärts in den Garten und auf das Salettl hinunterschauen, sagte der Vater.
Hinter der Kirche führte ein sehr schmaler Weg auf die Anhöhe hinauf, aber er war steil und steinig. Der Vater versuchte einige Schritte, gab dann auf, wagte sich nicht weiter vor, aber auch nicht zurück. Ich bleibe hier stehen, sagte er, geh du allein weiter und sage mir dann, was du gesehen hast.
Ich wollte ihm nicht sagen, daß mir das Salettl, in dem die Urgroßmutter ihren Jour fixe gehalten hatte, eigentlich gleichgültig war, kletterte ein Stück weiter hinauf, blickte immer wieder zurück, fürchtete, der Vater könnte abrutschen, fallen, sich weh tun, am Ende den Fuß brechen, wagte es nicht, ohne das Salettl