Die Ahnenpyramide. Ilse Tielsch

Die Ahnenpyramide - Ilse Tielsch


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und numeriert gereiht sind, dazu die Musterbücher, die man den Kunden zur Auswahl vorlegt, das Lager für unbedruckte und bereits bedruckte Leinenballen, die kupferne Indigomühle. Das Haus bietet genügend Platz für Wohnräume, Arbeitsräume, Schlafräume, im Hof, von der Straße her nicht sichtbar, der Wagenschuppen, der Raum, in dem die hölzerne Mangel steht, deren Zugbalken von einem im Kreis gehenden Pferd bewegt werden, der Pferdestall.

      SCHARFE KÜPEN GEBEN BROD, SÜSSE KÜPEN LEIDEN NOTH.

      Es ist anzunehmen, daß Josef bei seinem Lehrherrn die Druck- und Färbekunst nur in bescheidenem Ausmaß erlernt, sich aber auf seiner Wanderschaft bei verschiedenen Meistern weitergebildet hat. Sein Gesicht, das ich durch Lupe und Augenglas betrachte, ist das Gesicht eines strebsamen, ehrgeizigen Mannes. Sein melancholischer Blick deutet auf künstlerisches Empfinden hin.

      Ich stelle mir vor: Josef hat beim Einkauf der geschnitzten Holzdruckformen Geschmack und Sicherheit in der Wahl modischer Muster bewiesen, er hat den Indigo in der richtigen Qualität eingekauft, ihn so fein zu mahlen verstanden, daß, WENN EIN TROPFEN AUS DER MÜHLE IN EIN CYLINDERGLAS MIT WASSER FIEL, SICH KEIN SPLITTER ODER KÖRNCHEN AUS DER SICH BILDENDEN INDIGOWOLKE ABSCHIED, er hat die Indigoküpe in der richtigen Konzentration zu bereiten gewußt. Vielleicht hat er das grundlegende Werk über die DRUCK- UND FÄRBEKUNST IN IHREM GANZEN UMFANGE VON WILHELM HEINRICH VON KURRER, erschienen in Wien 1849, besessen und immer wieder darin gelesen (vielleicht ist dieses UNENTBEHRLICHE HANDBUCH FÜR DRUCKFABRIKANTEN, COLORISTEN, FÄRBER, CAMERALISTEN UND TECHNISCHE CHEMIKER unter den alten Folianten und Büchern gewesen, die Josefs Enkel auf dem Dachboden der Tante Cäcilie liegen sah).

      Ich stelle mir vor, daß Josef nicht nur die Kunst des Blaufärbens und -druckens verstanden hat, daß er auch wußte, wie man die Krappwurzel erntet und drischt, trocknet, durch Siebe passiert, zu Pulver verarbeitet, daß er das ROTFÄRBEN MIT KRAPP beherrscht hat (vielleicht hat er FÄRBERRÖTHE aus Schlesien bezogen, nicht die billigere HERBSTRÖTHE, sondern die besonders feine, teurere SOMMERRÖTHE verwendet), das Gelbfärben mit Krapp auf Zinnbeize oder mit Gelbholz, Wau oder Rhamnusbeeren, daß er Küpenblau und Gelbholz zu Grün, Krapp mit Tonerde und Eisenbeize zu Braun, Küpenblau und Gelbholz zu Schwarz vermischt hat, daß ihm vielleicht, das Alizarin vorsichtig dosierend, ein besonders sanftes Rosa gelang. Ich stelle mir vor, daß er sich, obwohl er Wolle, Seidenstoffe, Zwirne und Garne, Federn zu färben verstand, der großen Nachfrage wegen auf das Bedrucken von Leinen-, später auch Baumwollstoffen, spezialisiert hat, in dieser Kunst ein wirklicher Meister gewesen ist. Josef, der Mann mit dem melancholischen Blick und den abstehenden Ohren, die er allen seinen Kindern vererbt hat, war vor allem seiner mit Indigo blau bedruckten Leinen- und Baumwollwaren wegen weit über das Dorf, in dem er lebte, hinaus, in allen Dörfern und Städten der Umgebung bekannt.

      Der Vater hat das Haus seines Großvaters Josef auf seinem Plan als Kästchen an das Ufer des KLEINEN GERINNES gesetzt, das kleine Gerinne ist auf der Fotografie nicht zu sehen, wahrscheinlich fließt es hinter dem Haus, also an der Hofseite des Hauses, vorbei. Das Wasser des KLEINEN GERINNES wird selten KLAR, meistens bläulich oder blau, manchmal aber auch gelb, grün oder orange, sogar blutrot gefärbt gewesen sein. Am Wasser des KLEINEN GERINNES wird sichtbar geworden sein, ob in Josefs Haus kurz vorher die HELLBLAUE VITRIOLKÜPE FÜR HELLE TÖNE, die MITTELBLAUE VITRIOLKÜPE oder die HEITERBLAUE PERLKÜPE, alle mit Indigo hergestellt, verwendet worden ist, ob er die von den Holzformen mit einer aus Gummi, Pfeifenerde und Stärke bestehenden Mischung auf das Leinen gedruckten Muster, die sich nach dem Blaufärben und Waschen weiß vom blauen Grund abhoben, im Chromorange-, Quercitron- oder im Krappbade gelb, orange oder rot, durch Kombination von Blau- und Gelbtönen grün, ob er sie rosa oder nur in einem helleren Blauton ausgefärbt, auf diese Weise mehrfarbig bedruckte Ware hergestellt hat. Da das Wasser des kleinen Gerinnes in dem vom Vater auf den Plan gezeichneten Bogen wiederum in den Mühlbach zurückgeführt worden ist, wird auch der Mühlbach in seinem unteren Lauf in mehr oder weniger sanften Farben geleuchtet haben. Ob in diesem unteren Teil des Mühlbachs Forellen, Fische, Krebse, andere Wassertiere leben konnten, ob auch dort, wo der Mühlbach in die March mündet, noch Buntes in den breiteren Flußlauf wölkte, ob ein wechselndes Farbenspiel das Auge der Wanderer, Bauern, Fischer noch kilometerweit unterhalb dieser Mündung des Mühlbaches erfreute, weiß von den heute Lebenden niemand mehr.

      Ich versuche, zurückzudenken, mich in die Zeit zu versetzen, in der mein Urgroßvater Josef, Johann Wenzels des Zweiten siebentes Kind, ein junger Mann gewesen ist, ich sehe diese ferne, weit zurückliegende Zeit indigoblau, heiterblau, mittel- bis tintenblau. Ich vertiefe mich in Heinrich von Kurrers für Färber und Coloristen unentbehrliches Handbuch der Druck- und Färbekunst, lese die Farbrezepte, an die sich wahrscheinlich auch Josef gehalten hat, trete ein in sein Haus, sehe ihn rühren, reiben, mischen, brauen, die warme Pottaschenküpe, die Sodaküpe, die Urinküpe zum Blaufärben für Sächsischgrün, sehe ihn die Reserve für den Weißdruck bereiten, in großen Behältern Flußwasser, Kupfervitriol, Grünspan, Gummi, Stärke und Pfeifenerde über dem Feuer mischen, auflösen, dann durch ein Leinwandsieb passieren, ich versuche mir vorzustellen, wie er mit Säuren, Zinnsalz und Blei, verdicktem Gummi, Alaun, Ätzkalk, gebrannter Stärke, Eisenvitriol zurechtkam, dem Kalkbrei, salpetersauren Kupfer, dem teigartigen schwefelsauren Blei, essigsaurer Tonerde, Zinkvitriol, sehe ihn auf der Klotzmaschine klotzen, auf der großen Holzmangel mangeln, endlose Leinenbahnen über Drucktische, Trockengestelle ziehen, in gleichmäßigen Falten an eisernen Ringen befestigen, die eisernen Ringe an Rollen in die Küpe hinablassen. DAS FÄRBEN WURDE NACH ZÜGEN GEMESSEN, siebenmal wurde das Leinen mit der unteren, siebenmal mit der oberen Seite in die Küpe getaucht. Zwischen den einzelnen Zügen muß das Gefärbte jeweils zehn Minuten gelüftet, mit Stäben gebeutelt werden, um das Aneinanderkleben der Stoffbahnen zu verhindern, doppeltes Blaufärben erfordert vierzehn Züge, dann wird das Leinen getrocknet, Josef wäscht den aufgedruckten Papp, ehe er die danach weiß gebliebenen Muster in verschiedenen Farbbädern ausfärbt, in einer schwachen Lösung von Schwefelsäure aus.

      Abwiegen, abfüllen, auflösen, messen, in Kesseln rühren, über dem Feuer erwärmen, abkühlen, eindicken, passieren, Kuhkot verdünnen, Säuredämpfe einatmen. Es ist kein leichtes Geschäft gewesen, das Josef betrieben hat, auch wenn er wahrscheinlich den einen oder anderen Gesellen oder Arbeiter beschäftigt hat, wenn er die durchweichte Pfeifenerde zum Beispiel nicht mit den eigenen Füßen so lange treten mußte, bis sie EINE BUTTERARTIGE GESCHMEIDIGKEIT angenommen hatte, wenn er derlei Arbeiten anderen übertragen konnte.

      Die in Landskron oder Mährisch-Schönberg (Šumperk) hergestellte Fotografie betrachtend, kann ich mir die Länge seiner Arme, die Größe und Schwere seiner Hände erklären, jener Hände, die sein Enkel beim Erwürgen der Tauben beobachtet hat, aber auch die Größe und Schwere der Hände seiner Frau.

      Denn: wer hat die gefärbten Leinenbahnen von den Trockenstangen genommen, wer hat sie in Körbe gelegt, wer hat sie zum Mühlbach geschleppt, wer hat das Leinen im Mühlbach gebadet, geschwemmt, gewässert, aus dem Mühlbach gezogen, wer hat die noch ungefärbten Leinenbahnen auf den an den Mühlbach angrenzenden Rasenflächen zur Bleiche ausgelegt, Wasser aus dem Mühlbach geschöpft, wer hat die mit Krapp gefärbte Ware mit Wasser berieselt, auf dem Rasen GESCHÖNT? Selbst wenn Josefs Frau eine Magd oder sogar mehrere Mägde beschäftigt hat, wird sie an diesen Arbeiten mitbeteiligt gewesen sein.

      Ich denke an Josef, den Färber, sehe BLAU in allen Schattierungen, Königsblau, Türkischblau, Sächsischblau, Dunkel- bis Heiterblau, sehe weiße und hellblaue Figuren auf blauem Grund, doppelseitig bedruckte Hals- und Umhängetücher MIT WEISSEN TÜPFCHEN, aber auch andere Farben, Dunkelblau mit Goldgelb, Orange oder feurigem Rot, das beliebte GÄNSEKOTHGRÜN, aber auch Apfelgrün, Seladongrün, Olivengrün, beobachtete Josef bei einer der schwierigsten Arbeiten, dem Orangefärben der weißen Muster auf blauem Grund.

      Ich sehe ihn abends beim Licht einer Ölfunzel, Tranfunzel, beim Licht einer Kerze die von Dr. Ganswindt in Wien redigierte ÖSTERREICH-UNGARISCHE FÄRBERZEITUNG lesen.

      Ich weiß nicht, ob Josef zum Bedrucken der Leinen- und Baumwollbahnen nur die von Cäcilie auf dem Dachboden gelagerten Holzmodel verwendet hat, ob er vielleicht die in der zweiten Hälfte seines Jahrhunderts entdeckten und entwickelten synthetischen Farben erprobte. Die Fotografie zeigt ihn mit weichen Zügen und melancholischem Blick, ich lese Skepsis aus seinem Gesicht.


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