Die Ahnenpyramide. Ilse Tielsch

Die Ahnenpyramide - Ilse Tielsch


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Salzgurken aus einem Faß, mit der kleinen Blechschaufel Himbeerbonbons aus einem dickbauchigen Glas. In einer Ecke des Gewölbes steht die verglaste Vitrine mit den Tabakwaren, Tante Cäcilie nimmt auf Wunsch ihrer Kunden Zigarren und Zigaretten aus Kartons, zählt sie ab. Fünf Stück DRAMA zu je einem Heller, zehn UNGARISCHE, eine SPORT kostete zwei Heller, eine MEMPHIS fünf, die ÄGYPTISCHEN zu sechs Heller das Stück werden seltener verlangt. Peschek, der Fleischhauer, raucht die dunkelbraune, duftende PORTORICO, auch die hat Cäcilie unter Glas, auch die dickbauchige CUBA, die schlanke VIRGINIA und natürlich den allseits beliebten Schnupftabak. Sonntags stapelt sie die Schachteln hinter einem ebenerdig gelegenen Fenster ihres Hauses, vor und nach dem Kirchgang kommen die Kunden vorbei, klopfen mit dem Finger an die Scheibe, dann öffnet Cäcilie ein Fensterchen im Fenster, reicht das Gewünschte hinaus, zwei Sport, sechs Drama, eine Virginia, nimmt das Kleingeld entgegen, děkují, prosim, dankeschön, bittesehr, wünscht einen guten Sonntag, dobry den, guten Tag. Ich sehe Cäcilie Schnaps aus großen Flaschen in kleine, nach unten sich verjüngende Gläser füllen. Da sitzen die Männer auf der hölzernen Bank, der Glasvitrine mit den Tabakwaren gegenüber, trinken den gelblichen Korn, den wasserhellen Kümmel, den aus Korn und Kümmel GEMISCHTEN, manche trinken auch Rum, ein leiser Petroleumduft hängt im Raum. Die Hausfrauen warten geduldig auf Salz und Gewürze, auf eine Spule Zwirn, ein paar Meter Gummiband, Zucker und Druckknöpfe, Lampendocht oder Mehl, die Männer auf ein neues, bläulich schimmerndes Sensenblatt, eine Sichel, einen Peitschenstiel.

      Ich, Anna F., beobachte meine Großtante Cäcilie, wie sie mit flinken Händen aus Säcken, Behältern, Fässern schaufelt, gabelt, greift, aus Flaschen gießt, mit Eisen- und Messinggewichten hantiert, den Zeiger der Waage beobachtet, das Geld durch einen in die hölzerne Theke geschnittenen Schlitz in die Geldlade streicht, wo es klimpernd, klingelnd, rasselnd zu den anderen Münzen fällt, Heller zu Heller, Krone zu Krone, wo es sich langsam, aber stetig vermehrt. Hundert Heller geben eine Krone, hundert Kronen geben einen Hundertkronenschein.

      Abends, wenn das Geschäft geschlossen ist, oder am Sonntagnachmittag wird Cäcilie diese Scheine auf ein Bügelbrett legen, sorgfältig wird sie die eingebogenen Ecken, die zerknitterten Stellen mit dem lauwarmen Bügeleisen glattstreichen, sie wird mit einer eisernen Zange den auf dem Herd erhitzten Stahl in das innen hohle Bügeleisen schieben, vorsichtig mit der befeuchteten Spitze des rechten Zeigefingers die Fläche des Bügeleisens berühren, auf diese Weise feststellen, ob das Eisen nicht zu heiß, nicht zu kühl ist, sie wird die gebügelten Hundertkronenscheine auf einen kleinen Stapel legen, am Ende des Monats zur Sparkasse tragen. Ich folge Cäcilie zur Sparkasse, kehre mit ihr in den Laden zurück, ich trete mit ihr in die neben dem Laden gelegene Wohnstube ein, Cäcilie scheucht ihre beste Legehenne vom Ledersofa, zwei weitere Hühner unter dem Tisch hervor, die Hühner laufen hinaus in den Hof, um in den Hof zu kommen, müssen sie ein langgestrecktes Vorhaus passieren. Im Vorhaus steht der Brotschrank, im Brotschrank steht eine Schüssel mit Krautkuchen, das Kind Anni, das hier Annele genannt wird, steht vor dem geöffneten Brotschrank, der OLMA heißt, Cäcilie nimmt einen Krautkuchen von der Schüssel und reicht ihn dem Kind, das Kind hüpft durch das Vorhaus hinaus in den steingepflasterten Hof.

      Die Sonne scheint, der Hof setzt sich in einem in allen Farben des Sommers blühenden Garten fort, nie vorher hat das Kind Anni einen solchen Garten gesehen, nie nachher habe ich im August so viele, in allen Farben schattierte Astern, Dahlien, Begonien oder Pelargonien, Fuchsien und Türkische Nelken, Ringelblumen, Löwenmäulchen und Sonnenblumen in so unglaublicher Menge auf so engem Platz beisammengesehen. Zwischen den Astern, Dahlien, Türkischen Nelken glühten im saftig grünen Strauch die reifen Tomaten, schlängelten sich Salatgurken am Boden hin, wucherten Brennesseln üppig am Zaun. Diesen Garten betrat man nicht, man tauchte in ihn ein, man ging unter in seinen Düften und Farben. Diesen Garten vergaß man nicht, man nahm sein Bild für immer in sich auf, die Netzhaut wehrt sich dagegen, ihn zu vergessen.

      Mit dem Bild dieses Gartens untrennbar verbunden, von ihm nicht abzuschneiden, ist das Bild meiner Großtante Cäcilie, klein, dick und freundlich, mit gestreifter Schürze, rundem Gesicht und abstehenden Ohren, glatt um den Kopf frisiertem, schütterem Haar.

      Ich löse mich ab von dem Bild dieses Gartens, der auf keiner der Fotografien zu sehen ist, von dem es keine Fotografien gibt, betrete die Straße, sie ist mit Granitsteinen gepflastert. Ich halte die Lupe an mein rechtes Augenglas, gehe mit Lupe und Augenglas näher an das Granitsteinpflaster der Straße heran. Ich sehe die mit Sand ausgefüllten Fugen und Spalten zwischen den Steinen, die von eisenbeschlagenen Rädern und Pferdehufen rundgeschliffenen Kanten, ich beuge mich nieder zu diesen Steinen, taste mit den Fingerspitzen ihre Rundungen ab, höre einen Pferdewagen kommen, höre das Rumpeln der Räder, das Klappern der Hufe, die mir von Kindheit an vertrauten Geräusche, weiß, daß Wagen und Pferde meinem Urgroßvater Josef gehören, daß er mit einer Ladung gefärbter oder bedruckter Leinen- und Stoffballen zu einem der Jahrmärkte unterwegs ist, die in den Städten der Umgebung in regelmäßigen Abständen abgehalten werden. Neben ihm auf dem Kutschbock sitzt seine älteste Tochter Anna, hochmütig und schön, ein Wolltuch um die Schultern geschlagen. Der aus Blaudruckleinen geschneiderte Rock reicht ihr bis an die Knöchel, die Füße stecken in schwarzen Lederschnürschuhen, das Haar hat sie zu einem Zopf geflochten und um den Kopf gelegt.

      Ich gehe weiter, überschreite ein Brücklein, höre den Mühlbach rauschen, rieche das Holz der Baumstämme an der Brettersäge, rieche Feuchtigkeit, durchquere das Erlenwäldchen, entziffere die Schrift am Wappen der Grafen von Žierotin an der Mühlenwand, erreiche einen mit Kies bestreuten Platz, niedrige Bauernhäuser stehen mit der Giebelseite zum Kiesweg hin ausgerichtet, ich sehe am Ende der Häuserzeile das Dach eines höher gebauten, mit der Breitseite zur Straße stehenden Hauses, bewege mich auf dieses Haus zu, komme dem Haus näher, das Haus kommt näher an mich heran, ich bewege mich langsam über die Fotografie, sehe mich schließlich gezwungen, über ihren Rand hinweg in ein anderes Bild zu treten, welches das Haus in seiner vollen Größe zeigt. Es ist ein großes, aber häßliches Haus, ein Haus, in dem ich nicht leben möchte. Dieses Haus hat Josef, der Färber, mit seiner Frau Anna und seinen vier Kindern bewohnt.

      Ich blicke durch Lupe und Augenglas, spüre die Kiesel des Gehweges, auf dem ich stehe, durch die Sohlen meiner leichten Schuhe. Es ist Sommer, man sieht es am Laub der Lindenbäume, am Gras, das den Sockel des Hauses umwuchert, am hellen, von Schäfchenwolken bedeckten Himmel. Trotzdem ist mir kalt, ich friere, ich fühle eine heftige Abneigung gegen das Haus, das Haus meines Urgroßvaters gefällt mir nicht, sein Anblick bedrückt mich, wie mich der Anblick der auf der Fotografie vor gemaltem bürgerlich-protzigem Prunk zum verschüchterten Häuflein zusammengedrängten Familie Josefs bedrückt. Ich würde gerne fortgehen von diesem Haus, das nicht zu den mit der Giebelseite zur Straße hin ausgerichteten viel kleineren Bauernhäusern paßt, weg aus der Fotografie, die mir der Vater gegeben hat, ich muß mir ins Gedächtnis zurückrufen, warum ich hier stehe, mitten im zweiten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts, in der Gegenwart derer, die vor mir gewesen sind, auf die meine eigene Existenz zurückgeht, zurückzuführen ist, ohne die meine Gegenwart nicht denkbar ist. Das Wort VORVERGANGENHEIT fällt mir ein. ICH STEHE IN MEINER EIGENEN VORVERGANGENHEIT, denke ich, und ich sage mir, daß ich, wenn ich die Spur derer, die vor mir gelebt haben, weiterverfolgen, mehr über sie erfahren will, keinen von ihnen auslassen, überspringen darf.

      Es GAB KEINEN LIEBLICHEREN ANBLICK ALS EIN BLÜHENDES FLACHSFELD IM SOMMER.

      Was im späten Frühjahr in den sorgfältig bearbeiteten Boden der Felder gesät wurde, hellgrün gesprießt, bald darauf hellblau geblüht hatte, schließlich bräunlich gereift war, wurde von den Mädchen und Frauen mit den Wurzeln aus dem Boden gerauft. VON WEITEM SAHEN DIE BLÜHENDEN FLACHSFELDER WIE TEICHE AUS.

      Ich sehe Frauen auf den Feldern mit von den Halmen zerstochenen, vom Raufen der Stengel wundgeriebenen Handflächen, Frauen mit Schwielen an den Händen, mit eingerissenen Fingernägeln, mit vor Anstrengung roten Gesichtern, mit schweißnassen Haaren. Sie legen den gerauften Flachs in Büscheln gleichmäßig auf den Boden, nehmen ihn von dort wieder auf, lehnen ihn in Bündeln kreuzweise an zwischen Pflöcken gespannte Drähte, binden ihn später, wenn er trocken ist, zu Garben und bringen ihn ein. Wenn das dünnhalmige Korn gemäht ist, legt man den trockenen Flachs noch einmal auf den Stoppelfeldern aus und läßt ihn dort so lange liegen, bis sich die Stengel in Regen, Nebel und


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