Die Ahnenpyramide. Ilse Tielsch
dann einen kleinen Raum in einem niederösterreichischen Bauernhaus.
Bevor Annis Eltern das Badezimmer bezogen, bewohnten sie mit mehreren Verwandten und Bekannten den erwähnten Gemüse- und Obstkeller. Über ihren Köpfen heulten von der einen Seite her die Stalinorgeln, von der anderen donnerten die letzten Schüsse der deutschen Artillerie. In den umliegenden Obst- und Gemüsegärten detonierten kleinere und größere, jedenfalls die allerletzten der aus Flugzeugen abgeworfenen Bomben des Zweiten Weltkriegs. Aus einem der benachbarten Höfe drangen die furchtbaren Schreie einer Frau, der eine Granate beide Beine weggerissen hatte, in jenen Obst- und Gemüsekeller, in dem Annis Eltern saßen. Die Frau wurde noch während des Beschusses von Sanitätern abgeholt und soll trotz ihrer schweren Verletzungen nur langsam gestorben sein.
Bevor die Eltern den Gemüse- und Obstkeller bezogen, lebten sie zusammen mit Anni in einer normalen, geräumigen Wohnung in der südmährischen Kleinstadt B. Anni verließ die Stadt wenige Tage, bevor die Front B. erreicht hatte. Ihre Eltern, Heinrich, der Urenkel Johann Wenzels des Zweiten, und seine Frau Valerie, mußten, wie beinahe alle Deutschen, das Land nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges verlassen.
Wie bin ich auf diese Gedanken gekommen? Wieso liegt die Fotografie des Hauses, in dem vielleicht schon Adam, der erste unseres Namens, gelebt hat, auf meinem Schreibtisch, wie ist sie dorthin gekommen?
Ich ziehe die mittlere, große Lade meines Schreibtisches auf, nehme einen Fragebogen heraus, der darin liegt, den mir die Post ins Haus gebracht hat, den ich gelesen und weggelegt, wieder hervorgeholt, wieder gelesen habe, den ich ausfüllen und abschicken soll, den ich aber immer noch nicht ausgefüllt und abgeschickt habe, über den ich mir die verschiedensten Gedanken gemacht habe.
Ich lege den Fragebogen auf die Schreibtischplatte, schiebe die Fotografie des Hauses, in dem Johann Wenzel der Zweite mit seinen Kindern gelebt hat, das sein Sohn Ignaz der Erste von ihm übernommen, in dem sein Enkel Ignaz der Zweite sich aus Kummer das Leben genommen hat, zur Seite, lese noch einmal den Satz, den man als den wichtigsten Satz einer Umfrage rot unterstrichen hat.
Ich fülle nur ungern Fragebogen aus. Obwohl ich die Notwendigkeit der Beantwortung gewisser, mir in Ämtern und bei Behörden, in Kanzleien und Büros, in Versicherungsanstalten und Sparkassenfilialen, bei den verschiedensten Dienststellen und Schaltern immer wieder gestellten Grundfragen natürlich verstehe, schreibe ich doch jedesmal nur widerstrebend hin, wie ich heiße, wo ich jetzt wohne, wo ich vorher gewohnt habe, wo ich in der nächsten Zeit wohnen werde, warum und wieso. Ich hieß früher, heiße jetzt, war vorübergehend, habe besucht, habe absolviert, habe beendet oder nicht beendet, war bei, war nicht bei, habe die Absicht, habe sie nicht, bin geimpft gegen, bin nicht geimpft, habe erlernt oder nicht erlernt, habe geboren, hatte als Kind die Masern, Scharlach und Keuchhusten hatte ich nicht. Ich erkläre, versichere, verspreche, bezeuge, ich schwöre niemals, werde jedoch dazu gezwungen, an Eides Statt zu erklären, nach bestem Wissen und mit dem besten Gewissen. Eine Stadt zählt ihre Bewohner, ein Land gibt die Zahl seiner Einwohner an, ein Wahlkreis ermittelt die Zahl der zur Wahl Berechtigten, ich werde erfaßt, ich werde mitgezählt, ich bin ein winziger, vielleicht wichtiger Bestandteil einer größeren oder kleineren Zahl. Das alles verstehe ich, sehe es ein, wehre mich nicht dagegen. Ich habe das Lesen und Schreiben erlernt, bin in der Lage, den Kugelschreiber oder Bleistift zu halten, Fragen zu beantworten, also lebe ich noch.
SCHREIBEN SIE IN HÖCHSTENS DREISSIG ZEILEN AUF, WAS IHNEN DER BEGRIFF HEIMAT HEUTE BEDEUTET.
Ich soll diese Frage beantworten, ich soll meine Antwort in höchstens dreißig Zeilen hinschreiben, knapp formulieren, ich soll, wenn mir nicht gleich eine Antwort einfällt, über eine Antwort nachdenken. Drei Monate habe ich Zeit.
Nicht nur ich habe diesen Fragebogen bekommen. Fragebogen werden zu Hunderttausenden gedruckt. Vielleicht haben diesen Fragebogen Hunderttausende bekommen. Hunderttausende sollen in dreißig Zeilen aufschreiben, was sie über den Begriff HEIMAT zu sagen wissen.
Hunderttausende sollen ihr Gewissen erforschen, sollen nach bestem Wissen und Gewissen erklären, glaubwürdig formulieren, zusammenfassend feststellen. Hunderttausendmal dreißig Zeilen sollen gesammelt, sortiert, wahrscheinlich in einem Computer gespeichert werden. Tasten werden gedrückt werden, Lampen werden aufleuchten, der Computer wird das Ergebnis auswerfen: HEIMAT IST …
Das Ergebnis wird publiziert werden, es wird in Nachschlagewerken neben das Wort HEIMAT gesetzt werden, es wird genützt und benützt werden. Es wird als Ergebnis gewertet werden.
Bis auf weiteres, bis zur nächsten Aussendung von mehreren hunderttausend Fragebogen, bis zur nächsten Umfrage also, wird angeblich geklärt sein, WAS HEIMAT IST.
Ich will nicht zusammenfassen, ich will nicht beantworten, ich will nicht in den Computer gespeichert werden, ich will nicht benützt werden. Ich lege den Fragebogen in die Lade zurück, ich schiebe die Lade wieder zu.
2
Olle meine Herrn
A Oppl is keene Bern
A Berne is kee Oppl
De Worscht hot zwee Zoppl
Zwee Zoppl hot de Worscht
Dr Bauer dar hot Dorscht
Dorscht hot dr Bauer
S Laba werd’m sauer
Sauer werd’m s Laba
Dr Weinstock treet Raba
Raba treet dr Weinstock
A Kolb is kee Ziechabock
A Ziechabock is kee Kolb
Meine Prediche is holb
Holb is meine Prediche
Mei Brudr is noch leediche
Leedich is mei Brudr
De Kotze is a Ludr
A Ludr is de Kotze
De Maus is a Frotze
A Frotze is de Maus
Meine Prediche is aus.
Es gibt keine Kinder mehr, die diese Reime beim Spiel hersagen. Ich versuche, die mir fremd klingenden Worte zum Leben zu erwecken, ich löse sie ab vom Papier, unterschiebe ihnen eine kleine, selbst erfundene Melodie, es ist eine Melodie, die nur aus wenigen Tönen besteht, die Tonfolgen wiederholen sich, plötzlich weiß ich, daß es Auszählreime sind.
Es, zwee, dreie, vere,
Stond a Mannla of dr Teere,
Hot a Flaschla ei dr Hand,
Kom’m Bohla ro gerannt.
Rannte über Wewrsch Haus,
Soch ’n schiene Fraue raus.
Kiephohn, Haushohn,
Dich wan mr naus john.
Ententinus, sauerracka minus,
Sauerracka, tickatacka,
Elle, helle, bums.
Ich sehe eine Gruppe von Kindern auf einem grasbewachsenen Hügelchen stehen, die Kinder heißen Vinzenz, Josef und Anna, auch Ignaz ist dabei, sie leiern den Text nach einer von mir erfundenen Melodie.
Ich lese in einer Chronik nach, die einer der letzten deutschsprachigen Bewohner des Dorfes geschrieben hat, zeichne einen Kranz grasbewachsener und bewaldeter Koppen um ein kesselförmig geweitetes Tal, nenne zwei der östlich gelegenen Koppen mit Namen: Ebereschenberg und Buchberg, lasse von ihren Hängen rieselnde Quellen zum Bach zusammenfließen. Der Bach schlängelt sich durch das Tal, einer Senke zu, stürzt dann steiler ab, zwischen felsigen Hängen, dem breiteren Wasserlauf der Stillen Adler entgegen. Ich setze Forellen in den Bach, die ruhig gegen die Strömung stehen, große dunkelgrüne Krebse unter die flachen Ufersteine, im Grün der Baumkronen lasse ich die feuerroten Beerenbüschel der Ebereschen leuchten. Dieses gedachte Bild ergänze ich durch Gerüche, Geräusche und Bilder, die mir das Kind Anni, obwohl es gerade