Die Ahnenpyramide. Ilse Tielsch

Die Ahnenpyramide - Ilse Tielsch


Скачать книгу
einfahren, Heu auf diesen Heuboden bringen wird. Er ist ahnungslos, spielt, wie andere Kinder spielen, er weiß nicht, daß er sich Jahre später an einem Dachbalken erhängen wird, weil es ihm unmöglich erscheinen wird, die Untreue seiner schönen, LEIDER LEICHTFERTIGEN Frau zu ertragen.

      Ich, die viel später Geborene, weiß es. Ich sitze vor meinem Schreibtisch, halte die Lupe vor mein rechtes Augenglas, kneife das linke Auge zu, versuche mir vorzustellen, wie sie um den Tisch sitzen, Ignaz der Erste, alt geworden, sein Sohn Ignaz der Zweite und dessen schöne, leider leichtfertige Frau. In der Wiege greint Otto, den Ignaz der Zweite noch für seinen eigenen Sohn hält, Ignaz der Zweite schaukelt die Wiege mit dem Fuß, während er die Knoblauchsuppe löffelt, blickt hin und wieder liebevoll nach dem greinenden Otto hin, blickt seine schöne junge Frau an, wünscht sich weitere Kinder von ihr.

      (Auch das Rezept der Knoblauchsuppe ist, von der Frau Ignaz’ des Ersten aufgeschrieben, in meine Hände gekommen: EIN HÄUPERL KNOBLAUCH IN SALZ ZERRIEBEN, IN FETT EIN WENIG ANGERÖSTET, MIT DER ENTSPRECHENDEN MENGE HEISSEN WASSERS ÜBERGOSSEN, GESALZEN, BROTSTÜCKE HINEINGESCHNITTEN. DAZU KARTOFFELN IN DER SCHALE.)

      Wer von den im Dorf Lebenden, wer von den Nachbarn oder Verwandten, wer von den Jescheks, Koblischkes, von den Kröglers hat von dem Geheimnis gewußt, hat die sehr schöne Frau Ignaz’ des Zweiten mit jenem anderen im Wald, im Heu, im Flachsfeld, in der Scheune ertappt? Wer ist ihr nachgegangen, wenn sie, um Beeren zu pflücken, Schwämme zu suchen, vor Sonnenaufgang in die Wälder gegangen ist? Wer hat ihr nachspioniert, wenn sie, um jenen anderen heimlich zu treffen, ihr Haus verlassen hat, wer hat, hinter üppig blühenden Fuchsienstöcken, Petunien, Pelargonien, hinter gestärkten Vorhängen aus dem Fenster geblickt, wenn sie vorbeigegangen ist, hat kurz nach ihr ebenfalls das Haus verlassen, ist ihr nachgeschlichen? Wer hat, lange nachdem das Kind Otto geboren war, Ignaz dem Zweiten verraten, was er gesehen, erlauscht, ausgekundschaftet, spioniert oder von anderen gehört, diesen anderen, weil redlich, gottesfürchtig und nicht leichtfertig, geglaubt hat? Wer hat es Ignaz dem Zweiten ins Ohr geraunt, zugeflüstert, versteckt angedeutet, mit vorsichtig gesetzten Worten, wer hat es ihm zugerufen, offen ins Gesicht gesagt? Wer hat es mit Ignaz dem Zweiten so gut gemeint, daß er ihm die Wahrheit unbedingt mitteilen mußte, die Wahrheit über das Kind seiner so schönen, leider so leichtfertigen Frau? Wer hat im Zusammenhang mit der Affäre den Namen des Flachsbrechers gedacht, geflüstert, vor sich hingesagt, ausgesprochen, wer hat den Namen weitergegeben? Wer hat, kurze Zeit nach Ignaz’ des Zweiten furchtbarem Tod, FEUER an die Flachsbrecherei gelegt?

      Es steht nicht in den Taufbüchern, Sterbe- und Hochzeitsbüchern, aus denen der Oberlehrer aus Wildenschwert seine Daten geschrieben hat, und es hat ihn wahrscheinlich auch gar nicht interessiert. Ich, Krautkuchen essend und den kleinen Ignaz den Ersten im Kreise seiner noch ahnungslosen Familie betrachtend, weiß um die Tragödie des letzten Hoferben seines Namens, ich sehe ihn vor mir, obwohl wir von ihm keine Fotografie besitzen, sehe ihn vielleicht deshalb umso deutlicher, seinen Schmerz, seine Verzweiflung, sehe ihn in den Wäldern umherirren, zwischen den Hügeln, den felsigen Koppen, zwischen den zum Trocknen aufgereihten Flachsbündeln auf den Feldern, ich sehe ihn in jener Nacht die hölzernen Stufen hinauf auf den Scheunenboden klettern, den Strick zur Schlinge legen, an einem der Balken befestigen, ich sehe ihm zu, wie er das Gräßliche tut, das er vor nun schon mehr als achtzig Jahren getan hat, sehe ihn sterbend hängen. Ich sehe am nächsten Morgen die verzweifelte, vor Schrecken und Reue schreiende Frau, den gebrochenen Ignaz den Ersten, die mitleidigen, hämischen, verschreckten, lüsternen Blicke der Dorfbewohner, das abweisende Gesicht des Pfarrers, der dem Selbstmörder kein kirchliches Begräbnis geben will, keinen Segen am Grab, kein Glockengeläut, ich sehe, wie sie ihn einscharren, an der Friedhofsmauer, ohne Blumen, ohne Weihrauch, ohne priesterlichen Trost.

      Ich sehe die Flammen aus dem Dach der Flachsbrecherei schlagen. Daß das Feuer gelegt worden ist, steht fest, denn das Gebäude brannte an mehreren Stellen zugleich. Obwohl bald nachdem der Brand bemerkt worden war, die Kirchenglocken WIE RASEND zu läuten begannen, obwohl die Feuerspritze aus dem Depot gezogen wurde, so rasch dies möglich war, Männer, Frauen und Kinder mit Eimern und Kannen Wasser schleppten, das Wasser in den hölzernen Kasten gossen, obwohl die Hebel der Pumpe VON ZWEI REIHEN KRÄFTIGER ARME betätigt wurden, der Wasserstrahl kräftig hervorschoß, konnte das Feuer nicht eingedämmt werden. Ein rasender Südoststurm soll die brennenden Flachsbündel aus den Lagern der Flachsbrecherei bis auf die Gipfel der umliegenden Koppen getragen haben. Die Flachsbrecherei brannte bis auf die Grundmauern ab. Obwohl für beinahe alle Dorfbewohner feststand, daß der Brand gelegt worden sei, konnte niemand der Tat überführt werden. Bringe ich, die viel später Geborene, das Abbrennen zu Unrecht mit dem Unglück in Verbindung, das Ignaz dem Zweiten angeblich durch jenen Flachsbrecher widerfuhr? Ist jener Flachsbrecher wirklich der Vater des Kindes gewesen, das Ignaz der Zweite anfangs für seinen Sohn gehalten hat? Wir werden es nie erfahren.

      Otto jedenfalls blieb im Ersten Weltkrieg in Rußland vermißt. Seine Mutter heiratete ein zweites Mal, gebar jedoch keine Kinder mehr. Nach ihrem weiteren Schicksal wurde, da sie nicht blutsverwandt war, nicht geforscht. Ob sie und ihr Mann noch vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges vor der näherrückenden Front als alte Leute das Land verließen, Hausrat, Geräte und Kleidung auf einen Wagen gepackt, ob dieser Wagen von einer Stoffplane überspannt war, die sie über eiserne Reifen gezogen hatten, die ein Dach bildete, einen primitiven Schutz gegen den Regen und gegen die Kälte der Nächte, ob die Frau vorne im Wagen saß, auf einem als Sitz quergelegten Brett, der Mann neben dem Wagen herging, um die Zugpferde zu entlasten, ob sie über das Ende des Krieges hinaus geblieben sind, dann, weil sie Deutsche waren, das Land Böhmen verlassen mußten, einen Rucksack auf dem Rücken, ein Bündel mit dem Nötigsten in der Hand, WOHIN sie gegangen sind, wo sie schließlich bleiben durften, was sie erlitten haben und wie lange sie noch lebten, ist nicht bekannt.

      Mein Schreibtisch hat eine Platte aus hellbraunem Holz, er steht in der Ecke eines Zimmers, dessen Fenster nach Süden gerichtet sind. Die Fotografie des Hauses, das wahrscheinlich schon Adam, der erste unseres Namens, von dem wir wissen, erbaut hat, das von seinen Kindern und von den Kindern dieser Kinder nur erweitert worden ist, hebt sich, schwarzweiß schattiert, von der hellbraunen Holzfläche ab.

      Das Haus, durch dessen nach Süden gerichtete Fenster ich einen kleinen Garten mit Blumen, Bäumen und Sträuchern sehe, liegt am äußersten Nordrand Wiens. Wien, die Stadt mit der großen Vergangenheit, einst Mittelpunkt eines riesigen Reiches, Residenzstadt, Kaiserstadt, heute zu groß für den Rest, der geblieben ist, für das kleine neutrale Land, dessen Hauptstadt sie ist. Wenn ich groß bin, sagte das Kind Anni, will ich nach Wien.

      Als wir jung waren, sagt der Vater, Urenkel Johann Wenzels des Zweiten, wollten wir alle nach Wien.

      Wir sind also da, wohin wir immer schon wollten.

      Das Haus, in dem mein Schreibtisch steht, durch dessen Fenster ich in den Garten sehe, gehört Bernhard und mir. Nach unserem Tod wird es vielleicht eines unserer Kinder bewohnen. Bevor wir es bezogen, lebten wir in einer kleinen Wohnung mit winzigen Zimmern. Die ersten Möbel für diese Wohnung schenkte uns die Hilfsgemeinschaft SOS: zwei flache, geschnitzte Schränke, einen ovalen Tisch mit geschnitztem Fuß und einer Platte aus poliertem Nußholz, einen Schreibtisch, einige Stühle. Wir holten die Möbel in einem Handwagen ab, Bernhard zog den Handwagen durch die ganze Stadt, ich schob rückwärts an und achtete darauf, daß nichts verrutschte und nichts vom Wagen herunterfiel.

      Vorher besaßen wir ein Ausziehbett im Wohnzimmer von Bernhards Eltern.

      Vorher lebten Anni und ihre Eltern in einer Küche mit einem Steinfußboden.

      Vorher bewohnten sie einen schlauchartigen Raum im ersten Wiener Gemeindebezirk, gleich hinter dem Stephansdom. Anni gab sich Mühe, ihre von Wanzen zerbissenen und vom Kratzen rot geschwollenen Arme und Beine vor den Augen der Mitschülerinnen zu verbergen. Vorher bewohnte Anni der Reihe nach zuerst die Toilette eines mit Menschen vollgestopften Eisenbahnwaggons, dann ein Gebüsch an einem Bahndamm, der von Tieffliegern beschossen wurde, dann eine Kammer in einem oberösterreichischen Bauernhaus, dann ein Bett in einem Haus auf dem Froschberg in Linz an der Donau. Das Bett war frei geworden, weil man das Oberhaupt der in Linz ansässigen Familie in ein Lager für politische Gefangene abgeholt hatte.

      Annis Eltern bewohnten ungefähr zur selben


Скачать книгу