Die Ahnenpyramide. Ilse Tielsch

Die Ahnenpyramide - Ilse Tielsch


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vergangen, schon fällt es schwer, sich vorzustellen, daß sie es überhaupt konnte, heute, da diese Arbeit nur noch von Maschinen geleistet wird, da die menschliche Hand nur noch die Hebel dieser Maschinen bedient. Nicht nur von der Feinheit und Weichheit der Flachsfaser hing es ab, je nachdem, wie viele Fasern Anna Josefa vom Rocken zog, je nachdem, wie stark oder weniger stark der Druck gewesen ist, den Daumen und Zeigefinger auf diese vom Rocken gezupften Fasern ausübten, so wurde der Faden, den die Spindel aufrollte: fein oder weniger fein, dünn oder dick, hart oder weich. Faden zum Weben von Kinderhemdchen, von Kissenbezügen, von Laken und Mehlsäcken. Schon ist zu viel Zeit vergangen, um sich, weiterdenkend, vorstellen zu können, daß die Hausweber auf ihren einfachen, aus Pfosten und Latten gefügten Webstühlen zustande brachten, was dann zu Wäsche oder zu Bettuch verarbeitet werden konnte. Tausende feiner Fäden mußten gespannt werden, viele tausend Male mußte der Weber mit den Füßen die Tritte bedienen, das Schiffchen werfen, mit dem Weberkamm den durchgeschossenen Faden an das Webgut anschlagen, zweimal, dreimal, nicht zu stark, nicht zu schwach, zehntausendmal die gleiche Bewegung der Arme, der Beine, der Hände, zehntausendmal der Griff nach dem Schiffchen, das die Spule enthielt, den auf dem Spulenstock gleichmäßig über ein Stück Schilfrohr oder Holunderholz gewickelten Faden. Zehntausendmal hin und her, hin und her, auf und nieder, vor und zurück, tagelang, nächtelang, bis ein Stück Leinwand gewebt war, dann verkauft werden konnte, oft für sehr wenig Geld. Reich wurden die Weber nicht. Was sie verdienten, reichte für Kartoffeln, für Knoblauchsuppe, selten für Fleisch, für Fett, für Eier und für das Mehl, das sie für den Teig der Krautkuchen brauchten. Das Kraut für die Krautkuchen zogen sie auf einem Stückchen Land, das sie vielleicht besaßen. So jedenfalls stelle ich, die viel später Geborene, es mir vor. Johann Wenzel dem Zweiten und den Seinen mag es besser gegangen sein. Sie zogen Korn und Kartoffeln auf ihren Feldern. Die Winter waren schneereich, der Boden enthielt viel Feuchtigkeit. Obwohl der Flachs erst Anfang Mai gesät werden konnte, gedieh er gut. Wenn der Acker frei von Unkraut blieb, wenn der Südwind nicht kam, den sie den BÖHMISCHEN WIND nannten, der die jungen Pflänzchen welken ließ, verbrannte, wenn sich die Erdflöhe nicht stark vermehrten, wenn Spätfröste nicht alles noch verdarben. Der Flachs stellte zwar, was die Qualität des Bodens betraf, keine Ansprüche, brauchte aber Feuchtigkeit zur richtigen Zeit, MAIREGEN BRINGT SEGEN. Setzte vor der Ernte eine Regenperiode ein, konnte es geschehen, daß die Pflanzen noch einmal zu blühen begannen. Lösten sich die Zöpfe der Frauen und Mädchen beim Faschingstanz, daß die Haare flogen, waren die Eiszapfen im Winter lang, dann war eine gute Flachsernte zu erwarten.

      Grüß dich Gott mei liebr Flochs,

      tu nimmer nix, wie immer wochs,

      long wie a Weid,

      klor wie a Seid,

      dr Mutter Gottes of a Kleid.

      Ich sage LEINEN und weiß mehr als andere, die ebenfalls Leinen sagen. Ich höre, rieche, taste dieses Wort, ich sehe Farben, die mit dem Wort in Verbindung stehen, auf deren Hintergrund das Wort schwimmt, von dem es sich abhebt, das Wort liegt in langen Bahnen ausgespannt, an den Enden angepflockt, auf grasbewachsenen Flächen, wird aus Gießkannen berieselt, liegt in Ballen gerollt, zusammengefaltet im Schrank. Ich sage LEINEN und höre Unterröcke rascheln, die vor dem Bügeln in Kartoffelstärke getaucht worden sind, ich sehe WEISS, wenn ich Leinen sage, aber dieses Weiß ist umgeben von Grün, ich sehe Sonne über dem Grün, stehe mit nackten Füßen bis zu den Knöcheln im Bach, schöpfe Wasser, wate im Wasser.

      Ich verlange Leintücher von einer Verkäuferin in einem Bettwarengeschäft, sie bringt in durchsichtige Kunststoffhüllen Verpacktes, ich lese die Aufschrift, sage: das ist Baumwolle, das wollte ich nicht, die Verkäuferin antwortet, das sei Baumwolleinen.

      Sie können auch Mischware haben, sagt die Verkäuferin, Baumwolle mit Kunstfaser, beinahe bügelfrei, jedenfalls PFLEGELEICHT, ich rate Ihnen dazu, ich habe selbst nur pflegeleichte Bettwäsche.

      Schon dreht sie sich zu den Regalen um, greift nach weiteren Bettüchern, in Klarsichtfolie verpackt, legt sie mir auf das Pult.

      Nein, sage ich, das wollte ich nicht. Ich wollte Leintücher aus LEINEN.

      Das wird bei uns nicht mehr erzeugt, sagt die Verkäuferin, das gibt es nicht mehr. Vielleicht in der Tschechoslowakei, wenn Sie einmal hinüberfahren.

      (Einige Wochen vor ihrem Umzug in den erwähnten Gemüse- und Obstkeller wurde von Annas Eltern in der zu diesem Zeitpunkt noch völlig intakten Wohnung ein großer, mit grünem Leinen bespannter Koffer gepackt. In diesen Koffer legte die Mutter Leib- und Bettwäsche, einige warme Kleidungsstücke, Strümpfe, Handtücher und Taschentücher. Nach sieben Kriegsjahren gab es nicht mehr viel Entbehrliches, das man verpacken konnte. Selbst die Abschnitte auf den Kleiderkarten, die zum Bezug von Textilien berechtigten, waren nicht mehr einlösbar, die Geschäfte hatten kaum noch etwas zu verkaufen. Zwei oder drei Kleider aus verschiedenfarbigen Stoffen ergaben ein neues.

      DAMALS WAREN DIE KOMBINIERTEN KLEIDER IN MODE, sagt die Mutter, erinnerst du dich?

      Für Schuhe mußte man einen Bezugsschein beantragen, einmal im Jahr gab es ein Paar Sandalen aus buntem Baumwoll- oder Zellwollstoff, die Sohlen waren aus Holz.

      Als die Mutter alles verpackt hatte, was irgendwie entbehrlich war, war in dem Koffer immer noch Platz. Sie holte ein rotsamtenes Abendkleid aus dem Schrank, das sie Jahre vor Kriegsbeginn zum Feuerwehrball getragen hatte, legte es sorgfältig zusammen und verstaute es im Koffer. Vielleicht würde man sich, wenn man nichts anderes mehr hatte, nicht scheuen, ein Kleid aus feuerrotem Samt zu tragen. Die noch verbliebenen Hohlräume im Koffer füllt sie mit gestrickten mehrfarbigen Wollsocken, Fäustlingen, schließlich mit Tischwäsche aus. Zuletzt ging sie noch einmal zum Schrank und entnahm ihm ein sehr großes, über und über besticktes Leinentischtuch mit zwölf dazugehörigen ebenfalls bestickten Servietten, deckte mit Tischtuch und Servietten das feuerrote Abendkleid zu und schloß den Koffer sorgfältig ab.

      Der Koffer wurde mit einem der damals noch verkehrenden Züge FÜR ALLE FÄLLE zu Bekannten nach Österreich geschickt.

      Leib- und Bettwäsche, Handtücher und Taschentücher, Strümpfe und Wollsocken haben Anna und ihren Eltern schon kurze Zeit später ein Vermögen bedeutet. Das rotsamtene Abendkleid ist gegen Lebensmittel eingetauscht worden. Das kostbar bestickte Leinentischtuch und die zwölf dazugehörigen Servietten haben sich als unverkäuflich erwiesen, weil jedes Stück mit einem kunstvoll gestickten Monogramm versehen war. Leute, die sich in der ersten Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gestickte Leinentischtücher und dazugehörige übergroße Servietten leisten konnten, wollten diese mit ihrem eigenen Monogramm versehen haben.

      Nachdem wir, Bernhard und ich, die uns von der Hilfsgemeinschaft SOS geschenkten Möbel, die beiden Schränke, die vier Stühle, den ovalen Tisch mit dem geschnitzten Fuß und den Schreibtisch, vom Handwagen abgeladen und ins Haus getragen, in den Zimmern der Wohnung gleichmäßig und gerecht verteilt hatten, fuhren wir noch einmal mit dem Handwagen durch die Stadt und holten das Ausziehbett ab.

      Die Eltern schenkten uns zur Komplettierung unseres Haushaltes das bestickte Leinentischtuch und die zwölf dazugehörigen, ebenfalls bestickten Servietten, von denen jede einzelne so groß war, daß wir sie als Tischtuch für einen kleineren Tisch, den wir später noch kauften, verwenden konnten.

      Das bestickte Tischtuch und die Servietten sind die einzigen Wäschestücke in unserem Haus, von denen ich mit Sicherheit sagen kann, daß sie wirklich aus LEINEN gewebt sind.)

       3

      Fast hundertzwanzig Jahre alt ist die oval zugeschnittene, schon stark verblichene Fotografie, aus der mir Johann Wenzels des Zweiten siebentes Kind, Josef, der Färbermeister, mit melancholischem Gesichtsausdruck entgegenblickt. Mit stark abfallenden Schultern, modischem Halstuch, abstehenden Ohren und Backenbart steht er hinter seiner zu einem verschüchterten Häuflein zusammengedrängten Familie. Er trägt eine Weste aus bedrucktem Samt, die Kanten der Weste sind mit Seide eingefaßt. Die Uhrkette liegt, gut sichtbar, halbkreisförmig über dem mageren Leib. Einer der merkwürdig langen Arme hängt seitlich unbeholfen herab, einer ist abgewinkelt, die Hand liegt schwer auf der Schulter seiner


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