Die Ahnenpyramide. Ilse Tielsch
Wieder sind es vor allem Frauen, die den grau gerösteten, gedörrten, geriffelten Flachs mit der linken Hand ruckweise über zwei Hartholzbrettchen schieben, die Hartholzbrettchen sind auf einem massiven Gestell parallel nebeneinander angebracht, ihre Oberkante ist geschärft, ein drittes Brett mit ebenfalls scharfer Unterkante wird mit der rechten Hand auf den Flachs geschlagen, dieses Brett, durch ein Scharnier beweglich gemacht, schlägt in den Zwischenraum der beiden stabilen Holzbrettchen hinein, der Flachs wird auf diese Weise GEBROCHEN, die Holzteile von den Stengeln fallen ab. Frauen mit Spreu in den Haaren, mit vom Staub verkrusteten Lippen, den fertigen Flachs nach Feinheit sortierend, zu Strähnen drehend. Frauen, die mit Kämmen die Fasern von den noch an ihnen haftenden Holzteilen befreien, die schließlich, was von dem Flachs nicht an den Händler verkauft worden ist, auf ihren Spinnrädern zu Garn verspinnen, das Garn zu den Webern bringen. Kinder, die mithelfen, die Garnspindeln zu spulen.
Ich sehe Frauen, die das Webgut in großen Bahnen auf den Wiesen zur Bleiche ausspannen, anpflocken, mit Wasser begießen.
Was zu Röcken, Schürzen, Kleidern, Tüchern verarbeitet, also nicht weiß bleiben sollte, wurde zum Färber gebracht. Einer dieser Färber war Josef, Johann Wenzels des Zweiten siebentes Kind.
Es ist wenig, was von Josef, dem Färber, überliefert ist. Er sei, heißt es, ein überaus ernster Mensch gewesen, er habe niemals gelacht. Er habe es in dem Dorf, in dem er sich niedergelassen hatte, durch Fleiß und Können zu einigem Wohlstand gebracht, jenes Haus gekauft, von dem wir die Fotografie besitzen, einige Grundstücke erworben. Ehe er sich in Schmole niedergelassen habe, sei er längere Zeit auf Wanderschaft gewesen. Einmal habe er bei einem Unfall zwei seiner Pferde verloren, es habe viel Mühe und Arbeit gekostet, den Verlust zu ersetzen. Er sei mit seinen Leinen- und Stoffballen, mit dem von Pferden gezogenen Wagen weit gefahren, um seine Ware auf den Märkten der Städte zu verkaufen, auf diesen Fahrten habe er am liebsten seine älteste Tochter Anna mitgenommen. Einmal, sagte der Vater, habe er seinem Großvater zugesehen, wie er ZWEI TAUBEN IN EINEM SACK ERWÜRGT habe. EIN EINZIGES MAL HAT ER MEINE ELTERN BESUCHT. BALD DARAUF HÖRTE ICH VON SEINEM TOD.
Der Vater beschreibt Cäcilies Haus, beschreibt den Laden, den er DAS GEWÖLB nennt, die über diesem Laden gelegenen Räume, ZIMMER MIT VERBLICHENER MALEREI AN DEN WÄNDEN, Glasvitrinen mit Porzellan und alten Gläsern, einen Vorratsraum, der nach Gewürzen duftete, auf einem großen Tisch Stöße der Zeitschrift ÜBER LAND UND MEER.
Über diesen Räumen der Dachboden, auf dem er sich gerne aufgehalten habe, HIER TÜRMTEN SICH IM DÄMMERLICHT BÜNDEL ALTER SCHRIFTEN UND IN SCHWEINSLEDER GEBUNDENE BÜCHER. Blau-weiße Steinkrüge habe es dort gegeben und seltsam geformte Glasgefäße, Überbleibsel des Inventars einer Apotheke, die früher in diesem Haus gewesen sei. Auf einem alten Schrank habe er, damals ein Junge von vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahren, alte Druckformen aus der Färberei seines Großvaters entdeckt, damit aber nichts anfangen können.
Wie diese Druckformen ausgesehen haben? Rechteckige Holzscheiben, mit geschnitzten Mustern bedeckt. Ja, einige hätten in das Holz eingefügte Messingstiftchen gehabt.
ICH ERINNERE MICH NICHT MEHR GENAU, sagt der Vater.
Nachdenken über Menschen, die es nicht mehr gibt, die vor mir gelebt haben, Witterung aufnehmen, ihre Spur verfolgen, sie herauslösen aus einer alten Fotografie, aus ihrer vom Fotografen befohlenen Erstarrung lösen, erlösen, Josef die schwere Hand von der Schulter seiner Tochter nehmen lassen, die Tochter, vom Druck der väterlichen Hand befreit, aufatmen, sich strecken, aufrichten lassen.
Josefs Frau erhebt sich von ihrem Stuhl, schüttelt die beiden Kleinen von der Rockfalte ab, ordnet die Falten der Seidenschürze über dem Rock, steht linkisch da, im zu eng geschnürten Mieder, Cäcilie, die Zweitälteste, wendet das runde Köpfchen, blickt sich um im Ungewohnten, läßt die flinken Augen wandern, tappt mit schnellen Fingerchen über den gemalten Marmorkamin, die gemalten Vorhangfalten, die Mutter hebt eine ihrer großen Hände, zieht die Vorwitzige mit sicherem Griff zurück, verzieht das strenge Gesicht, schon sind die beiden rundköpfigen Knaben bei dem mit schwarzem Tuch geheimnisvoll verhüllten Wundergerät, einer hebt vielleicht ein Zipfelchen des Tuches hoch, die Mutter packt ihn mit der zweiten großen Hand, der Fotograf bringt seine Glasplatten in Sicherheit, Josef zieht verlegen die Uhr an der Kette aus der Westentasche, läßt den silbernen Deckel aufspringen, wirft einen melancholischen Blick auf das Zifferblatt, schnappt den Deckel zu, steckt die Uhr wieder ein. Der Fotograf hat inzwischen ein Zettelchen geschrieben, überreicht Josef das Zettelchen, Josef zieht den gestickten Geldbeutel aus der Tasche, legt Geld auf ein Tischchen, sammelt die Seinen mit den Augen ein, bedeutet ihnen, daß es Zeit sei, das Lokal zu verlassen. Nacheinander reichen sie dem Fotografen die Hand, erst Josef, dann seine Frau, dann knicksen die Mädchen, dann verbeugen sich linkisch die Buben, dann gehen sie durch die Tür, draußen wartet der Wagen.
Vielleicht ist die Fotografie, die über viele Umwege in meinen Besitz gekommen ist, in Landskron gemacht worden, oder in Mährisch-Schönberg, das heute Šumperk heißt, auf der Rückseite findet sich kein Hinweis auf den Entstehungsort.
Bewegung in die auf der Fotografie seit eineinhalb Jahrhunderten fixierte Gruppe bringen, Eltern und Kinder aus der Tür auf die Straße treten lassen, sie steigen auf den Wagen, Josef nimmt die Zügel in die Hand, die Pferde ziehen an, ihre Hufe klappern, die mit Eisen beschlagenen Holzräder des Wagens rumpeln über das Steinpflaster.
Den Wagen am schlichten, wenige Jahre vorher renovierten Renaissancebau des Rathauses von Landskron vorbeifahren lassen oder an der spätgotischen Dekanalkirche St. Wenzel, oder am Rathaus von Mährisch-Schönberg mit Sonnenuhr und wuchtigem, kupfergedecktem Turm, an der Mariensäule, Maria mit dem Sternenkranz über dem Haupt, am LANGEN TEICH vorbei, dessen Ufer mit rotem Sand bedeckt sind, WENN DER STURM IN DIE WELLEN FUHR, FÄRBTE DER SAND DAS WASSER ROT, zwischen Feldern, deren Erde rot leuchtet, zwischen Wiesen und bewaldeten Hügeln.
Sie sitzen sehen im Wagen, über ihr Schicksal Bescheid wissen, das Schicksal derer, die zu diesem Zeitpunkt noch Kinder sind.
Anna, die Älteste, wird einen Fleischhauer heiraten, im Laden stehen, Schweinefleisch, Rindfleisch, Kälbernes in Stücke schneiden, Knochen mit dem Beil zerhacken, co si přejete pani Koblischkova, wieviel darf es sein, prosim, dankeschön, beehren Sie uns bald wieder. Adalbert wird in Mährisch-Trübau an Blasenkrebs sterben, Johann wird als alter Mann aus Verzweiflung darüber, daß man ihm nach seiner Pensionierung die Dienstwohnung in der Taubstummenanstalt gekündigt hat, deren Direktor er lange Jahre gewesen ist, einen Strick nehmen und sich erhängen, wie sein Onkel Ignaz Jahre vorher, an seinem Grab werden taubstumme Kinder singen, wie es ihnen nach seiner Methode beigebracht worden ist, die Umstehenden und die Trauergäste werden vom Gesang der taubstummen Kinder ergriffen sein. Cäcilie wird als Neunzigjährige in einem Viehwaggon über die Grenze nach Deutschland abgeschoben werden, aus Verzweiflung im Krankenhaus der Stadt Forchheim ununterbrochen reden müssen. Sie wird auch nachts nicht zu reden aufhören, die diensthabende Schwester wird nichts von Cäcilies Leben, nichts von ihrem Heimatort wissen, sie wird überarbeitet, übermüdet sein. Zu viele Kranke, zu viele Flüchtlinge, Vertriebene in jener anstrengenden Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, zu viele, die von irgendwoher gekommen sind, wo man sie nicht mehr haben wollte. Die Schwester wird das viele Gerede der alten Cäcilie nicht mehr ertragen können, sie wird ihr eine Beruhigungsspritze geben, am Morgen wird Cäcilie tot in ihrem Bett gefunden werden.
Zurückdenken, eineinhalb Jahrhunderte zurück. Noch ist das alles nicht geschehen, noch sind sie Kinder, Johann, Adalbert, Anna und Cäcilie, Josef legt Geld für sie zusammen, sie sollen es besser haben, als er es gehabt hat, uralter Elternwunsch, mehr erreichen, als er erreicht hat, sollen Schulen besuchen, vielleicht sogar studieren. Nicht Flachs raufen mit bloßen Händen sollen die Mädchen, nicht die blaue Indigoküpe bereiten die Jungen, nicht immer blau gefärbte Finger haben, nicht immer diese Farbspuren unter den Fingernägeln, die sich so schwer entfernen lassen, in der Westentasche eine goldene, nicht nur eine silberne Uhr. Johann wird die Lehrerbildungsanstalt in Olmütz besuchen, Adalbert wird Tierarznei studieren. Johann wird keine Kinder zeugen, Adalbert nur noch zwei.
Ich halte die Lupe vor mein rechtes Augenglas, kneife das linke Auge zu, stehe vor meines Urgroßvaters Haus, das geräumig genug ist, um