Die Ahnenpyramide. Ilse Tielsch
gefältelten Taft gekleidete, verschreckt ins Objektiv blickende Mutter, die großen Hände ungeschickt im Schoß haltend, sichtlich eingeengt durch ein wahrscheinlich ungewohntes Mieder, halbrechts hinter der Mutter die jüngere Tochter Cäcilie, in (wahrscheinlich blau bedrucktem) geblumtem Kleid, rundköpfig, ein Samtband um den Hals. Im Vordergrund, eng an die Mutter gedrängt, je ein Knabe, der etwa achtjährige Johann und der fünfjährige Adalbert, beide rundköpfig, beide je einen großen runden Hut mit aufgebogener Krempe in der Hand. Alle vier Kinder haben die abstehenden Ohren des Vaters geerbt.
Im Hintergrund ist ein Marmorkamin zu sehen, auf dessen Sims Porzellanfiguren zwanglos verteilt sind, die Wand hinter dem Kamin ist mit Stuck verziert, der Stuck deutet Wohlstand an, ein Vorhang hängt mit schweren Falten von rechts in die Fotografie.
Kamin, Stuckzierat, Porzellan und Vorhang sind kunstvoll auf Pappe gemalt.
Josef, das Bauernkind aus den böhmischen Wäldern, aus dem IN DEN WÄLDERN FAST VERLORENEN DORF, hat es zum selbständigen Färbermeister gebracht, ein sozialer Aufstieg, der Beachtung verdient.
Ich stelle mir Josef vor, einen kleinen, mageren Bengel mit abstehenden Ohren und melancholischem Blick, wie ihn Johann Wenzel, der Vater, nach Schildberg ins Haus seines Lehrherrn bringt.
Schon daheim hat er tüchtig mithelfen müssen, man rechnete mit der Arbeitskraft der Kinder in jener Zeit, Bauernjungen hatten im Flachsfeld, im Heu, bei der Kartoffel- oder Getreideernte frühzeitig zuzupacken, die Kinder der Weber hatten die aus Holunderholz gefertigten Spulen für das Garn herzustellen, auch sonst kräftig mitzuhelfen. Aber auch Lehrlinge hatten nicht viel zu lachen. Der kleine Josef wird, wie die meisten seiner Altersgenossen, die ein Handwerk erlernen wollten, ein hin- und hergehetzter, zu Botengängen und niedrigen Arbeiten mißbrauchter, auf jeden Fall ein bedauernswerter, wahrscheinlich spindeldürrer, niemals ganz sattgefütterter Junge gewesen sein, der die Fußböden der Meisterin schrubbte, die Wege und das Haus kehrte, die Kinder beaufsichtigte, der Töpfe und Pfannen zu reinigen, blank zu reiben hatte, der schwere Lasten schleppte. Er mußte die großen, in der Färberei verwendeten Holzgefäße säubern, die schweren Leinen- und Stoffballen tragen, auf hohen Leitern balancierend Gefärbtes auf Stangen hängen, von diesen wieder herunterholen, er war seinem Meister und dessen Frau, überhaupt sämtlichen Mitgliedern der Familie des Meisters, auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
In einem Jahrzehnte später im »Mährischen Gewerbeblatt« abgedruckten Aufsatz zum Lehrlingsproblem findet sich die Bemerkung: DIE ERZIEHUNG DER LEHRLINGE RUHT EINZIG UND ALLEIN IN DER HAND DES MEISTERS. Daß diese Erziehung gelegentliche Püffe, Schläge, Ohrfeigen mit einschloß, wenn nicht vom Meister und seiner Frau, dann doch von den Gesellen, ist mit Sicherheit anzunehmen. Der Lehrling war der Kleinste, der Jüngste, er nahm die unterste Stufe der sozialen Rangordnung im Hause des Lehrherrn ein, er hatte nebenbei noch das Kunststück fertigzubringen, das Handwerk seines Meisters tatsächlich zu erlernen, was er schließlich durch eine Gesellenarbeit zu beweisen hatte.
Josef hat diese harte Zeit überstanden, er hat sein Gesellenstück fertiggebracht, er ist auf Wanderschaft gegangen, hat hier oder dort bei einem Meister Arbeit gefunden, hat diesen Meistern das eine oder andere Geheimnis bei der Bereitung der Farbmischungen abgeguckt, seine Kenntnisse erweitert, schließlich sein Meisterstück, vielleicht einen besonders kompliziert bedruckten Leinenballen, geliefert, nach einem Ort gesucht, an dem noch kein Färbermeister sich niedergelassen hatte, diesen Ort gefunden. Sein Wanderbuch ist bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs im Besitz seines Enkels gewesen, es ist, zusammen mit vielen anderen Dokumenten, Briefen und Papieren, in den ersten Tagen nach dem Ende des Krieges verlorengegangen.
Den Ort, in welchem Josef sich niederließ, kann ich im DEUTSCH-TSCHECHOSLOWAKISCHEN ORTSVERZEICHNIS (ETWA 2500 ORTE MIT DEN EHEMALS DEUTSCHEN UND NUNMEHR TSCHECHOSLOWAKISCHEN BENENNUNGEN, UNENTBEHRLICH FÜR DEN BAHN- UND POSTVERKEHR, VERLEGT IN WIEN 1946) nicht finden. Der Vater, Josefs Enkel, Johann Wenzels des Zweiten Urenkel, gibt die geographische Lage des Ortes mit ETWA 20 KM SÜDLICH VON MÄHRISCH-SCHÖNBERG, DAS HEUTE NUR NOCH ŠUMPERK HEISST, an. Nördlich des Ortes lag Lesche, östlich lag Janoslavice, südlich lag Lukavetz, westlich lag Unter-Heinzendorf. Somit scheint die Lage des Dorfes SCHMOLE eindeutig festgestellt.
Mein Vater, Adalberts Sohn, Josefs Enkel, Johann Wenzels des Zweiten Urenkel, hat mir dreißig Fotografien des Dorfes gebracht, in dem Josef sein Färberhandwerk betrieben hat. Er hat das Dorf, in dem sein Großvater geboren wurde, gekannt, er hat, über die Dorfstraße gehend, DAS KLAPPERN DER WEBSTÜHLE IN DEN HÄUSERN gehört.
Erzähle mir bitte, was du noch weißt, sage ich, und er nimmt einen Stift und ein Stück Papier und zeichnet einen halbkreisförmigen Bogen vom linken äußeren zum rechten äußeren Rand des Blattes.
DAS IST DIE MARCH, sagt er, hier oben liegt Hohenstadt, hier unten Lukavetz oder Lukavice, hier zweigt die ZAZAVA ab, von der Zazava der Mühlgraben, der Mühlgraben beschreibt einen Bogen und mündet bei Lukavetz in die March. HIER IST DIE MÜHLE, sagt Adalberts Sohn, zeichnet ein rechteckiges Kästchen, schreibt MÜHLE daneben hin. HIER IST DIE HOLZBRÜCKE, AUF DER HOLZBRÜCKE BIN ICH OFT GESTANDEN, HABE DEN SCHÄUMENDEN WASSERSTURZ BESTAUNT.
Hinter der Mühle lag ein von einer Steinmauer umschlossener Garten, daneben waren Wiesen, auf denen die Frauen und Mädchen Wäsche zum Bleichen auslegten, die sie mit Mühlgrabenwasser begossen. DEM GARTEN ENTFLATTERTEN DIE BUNTESTEN SCHMETTERLINGE.
Vom Mühlbach her, sagt der Vater, zweigt ein KLEINES GERINNE ab, fließt in einem Bogen durch das Dorf und mündet wieder in den Mühlbach ein.
Der Vater hat das Bild des Dorfes, in dem seine Großeltern lebten, genau im Gedächtnis behalten. Er zeichnet das kleine Gerinne, er zieht einen halbkreisförmigen Bogen vom Mühlbach weg, um die Mühle herum, wieder zum Mühlbach zurück. HIER WAR EIN ERLENWÄLDCHEN, sagt er, die Ortsbewohner nannten es ŠKARPI. Er deutet mit einem Strich das Erlenwäldchen an.
Das Feld zwischen dem Bogen der March und der halbkreisförmigen Linie, die den Mühlbach bezeichnet, schraffiert er leicht mit dem Stift, sagt: DAS SIND DIE MARCHWIESEN. Seine Stimme bekommt einen sehnsüchtigen Klang. DIE MARCHWIESEN DEHNTEN SICH GEGEN OSTEN BIS AN DAS UFER DER MARCH, DAHINTER RAGTEN WALDIGE BERGKUPPEN. Auf einem schmalen, ausgetretenen Steig ging man, zwischen duftenden Gräsern und Blumen, zum Fluß. DORT HABE ICH OFT GEANGELT UND DIE FISCHE, DIE ICH GEFANGEN HABE, ÜBER EINEM HOLZFEUER GEBRATEN.
Durch die Marchwiesen zieht der Vater einen dünnen Strich, die Bahnlinie, die von Böhmisch-Trübau nach Olmütz führt. MANCHMAL LEGTEN MEIN VETTER UND ICH KLEINE MÜNZEN, EIN- ODER ZWEI-HELLERSTÜCKE, AUF DIE SCHIENEN.
Schließlich zeichnet der Vater die Hauptstraße in den Plan ein, setzt kleine Rechtecke an beide Straßenseiten, schreibt: Tante Cäcilie, Schule, Meierhof, Tante Anna Peschek. Zuletzt zeichnet er ein Rechteck an das Ufer des KLEINEN GERINNES, schräg gegenüber der Mühle, schraffiert das Rechteck mit dem Stift und schreibt mit zitternder Hand daneben: MEINES GROSSVATERS HAUS.
Ich breite auf der hellen Holzplatte meines Schreibtisches dreißig Fotografien aus, lege sie neben- und untereinander, habe das Dorf Schmole vor mir mit allen für die Erinnerung wichtigen Straßen und Gassen, Brücklein und Bäumen, Toreinfahrten und Türen, mit dem Kirchturm, der die Kirche spitz überragt, mit der steinernen, von Pflanzen umwucherten Mariensäule, Maria mit dem Sternenkranz über dem Haupt, betrete das Dorf durch Lupe und Augenglas, trete in die Vergangenheit ein. Ich stehe auf dem Platz mit den Lindenbäumen, höre den Wind in den Blättern rauschen, spüre den Wind auf der Haut, gehe am Meierhof vorbei, sehe durch die Einfahrt hinein in den Hof, sehe die weiß gekalkten Arkaden, die Bogen und Laubengänge, Kummet und Zaumzeug hängen im Dämmerlicht an der Wand, hinter den Stalleingängen weiß ich die Pferde, höre sie schnauben, höre die Ketten klirren, rieche den warmen Duft ihres Fells, rieche Stallgeruch, greife mit den Händen in ihre Mähnen, lege die Wange an ihren Leib, reiße mich los, gehe weiter, die staubige Straße entlang. Ich komme erst an der deutschen, dann an der tschechischen Schule vorbei, da spielt die schöne Tochter des tschechischen Lehrers Musik von Smetana auf dem Klavier, an der Fleischerei, da schneidet Tante Anna Peschek Fleisch ab für ihre Kunden, am Kaufmannsladen, dort steht meine Großtante Cäcilie hinter dem Verkaufspult, sagt abwechselnd mouka und Mehl, chleb oder Brot. Co si přejete, pani Hartmannova, sagt sie zu einer