Die Ahnenpyramide. Ilse Tielsch

Die Ahnenpyramide - Ilse Tielsch


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die Blätter der Bäume zu unterscheiden. Die kleinen, ruppigen Bäumchen vor den Vorgartenfenstern, denke ich, könnten magere Apfelbäumchen sein. Ich will es genau wissen, noch genauer, um noch besser zu sehen, halte ich eine Lupe vor mein rechtes Augenglas, gehe nahe an die Fotografie heran, kneife das linke Auge zu. Etwas Seltsames geschieht. Das Bild wird plastisch, dreidimensional, die Kanten der Mauern treten hervor, die Fensterflügel mit den kleinen gläsernen Scheiben stehen von der Hauswand ab, ich sehe die Zwischenräume in den Holzschindeln des Daches, die Spalten unter den Steinen der Stufen, der hölzerne Karren steht da, als könnte ich ihn greifen, die Wagendeichsel ist rund und glatt. Ich erkenne, daß die schmale Tür hinter dem Windfang aus weiß gekalkten Holzbrettern gemacht ist, daß von unten her ein feuchter dunkler Streifen in die weiße Farbe hochkriecht, auch die aus Steinen gefügte Rampe vor der Tür ist dunkel und feucht, die Nässe steigt aus dem Stallmist hoch, der unterhalb der steinernen Rampe gelagert ist. Ich sehe die Schattenstellen auf den Blättern der Bäume, sehe, daß die Blätter sich alle nach einer Seite hinneigen, biegen, also haben sie sich, als die Fotografie gemacht worden ist, leicht im Wind bewegt. Ich halte die Lupe vor mein rechtes Augenglas, neige mich noch näher zu dem Bild hinunter, das vor mir auf dem Tisch meines Wohnzimmers liegt, da streift mich ein Windhauch, ich fühle ihn auf der Haut. Ich stehe auf der schmalen Dorfstraße, die Sonne scheint, die Blätter der Bäume bewegen sich, ich höre sie rauschen, die nach außen geöffneten Flügel eines der Fenster klappern, die kleinen, ruppigen Bäume werfen dünne Schatten, die Schatten bewegen sich. Ich rieche Gras, rieche Erde und Staub, fühle Sonne und Wind auf der Haut. Nein, Stimmen höre ich nicht, nicht die Stimmen von Erwachsenen, auch keine Kinderstimmen. Aber ein Flügel der Haustür steht offen, ich sehe durch den Spalt in den schattigen Hausflur hinein.

      Gottlieb zeugte Johann Wenzel den Ersten, Johann Wenzel der Erste zeugte Johann Wenzel den Zweiten, Johann Wenzel der Zweite zeugte IGNAZ DEN ERSTEN, Ignaz der Erste zeugte IGNAZ DEN ZWEITEN. Ignaz der Zweite war der letzte der Familie, der den Hof übernahm. Wenige Jahre nach seiner Hochzeit mit einem sehr schönen Mädchen kam ein Sohn zur Welt, der nicht der Sohn Ignaz’ des Zweiten war. Als Ignaz der Zweite dahinterkam, daß seine sehr schöne Frau es mit einem anderen getrieben hatte, nahm er einen Strick, ging auf den Dachboden seiner Scheune und erhängte sich. Als er starb, war er dreiunddreißig Jahre alt, sein Vater, Ignaz der Erste, überlebte ihn um wenige Jahre.

      Ich halte die Lupe vor mein rechtes Augenglas, kneife das linke Auge zu, betrachte die Fotografie des Hauses, in dem sie gelebt haben. Ich stehe auf der staubigen Straße, das Haus ist von der Sonne beschienen, ich höre die Blätter des Kirschbaumes im Wind rauschen, höre die Fensterflügel klappern, ein Geräusch, das ich seit meiner Kindheit nicht mehr gehört habe, weil es nach außen zu öffnende Fenster kaum noch gibt, ich rieche Grasgeruch, Unkrautgeruch, in den sich Stallgeruch mischt, ich sehe durch den offenen Türspalt in den Hausflur hinein. Obwohl auf der Fotografie keine Eberesche zu sehen ist, habe ich den Geschmack von Ebereschenkompott im Mund.

      Ich, Anna F., möchte wissen, wie sie gelebt haben. Ich bin durch mein rechtes Augenglas und die davorgehaltene Lupe in eine Landschaft eingetreten, in der ich nie vorher gewesen bin, habe aber das deutliche Gefühl der Vertrautheit, des Wiedererkennens. Ich weiß, daß ich, würde ich nach der Wagendeichsel greifen, diese glatt und rund in meiner Hand fühlen würde, in Jahrzehnten glattgeriebenes Holz, wieder und wieder umspannt vielleicht schon von den Händen Johann Wenzels des Zweiten, der das Haus, vor dem ich stehe, vielleicht neu mit Kalk bestrichen, vielleicht um ein Nebengebäude erweitert, im ganzen aber von seinen Eltern übernommen hat, umspannt von den Händen seiner Söhne, die ihm halfen, das Heu einzufahren, das dünnhalmige Korn mit den zu kleinen Ähren, den mit den Händen gerauften und sorgfältig in Büscheln getrockneten Flachs. Es hilft nichts, daß ich mir sage, daß Wagendeichseln nicht jahrhundertelang halten, daß sie in Regen und Sonnenhitze verwittern, Sprünge bekommen, ausgewechselt, durch neue ersetzt werden müssen. Der Kirschbaum auf dem Hügelchen kann auch höchstens zwanzig Jahre alt gewesen sein, als Johann Wenzels des Zweiten Urenkel Adalbert nach Böhmen reiste, um das Haus seiner Vorfahren zu fotografieren. Das allerdings ist nun auch schon ein halbes Jahrhundert her.

      Im April 1827 wurde das letzte Kind Johann Wenzels des Zweiten und seiner Frau Anna Josefa geboren, Paten waren die Tante des Kindes, die Feldgärtnerin Marianne Koblischke, und der Müller Wenzel Jeschek, dies geht aus den Kirchenbüchern hervor, aus denen der Oberlehrer aus Wildenschwert seine Daten geschrieben hat. Ich versuche mir vorzustellen, wie sie am Tag, an dem das Kind getauft werden soll, aus der auf dem Bild offenstehenden Haustür treten, über das grasbewachsene Hügelchen hinunter, über die Straße zur Kirche gehen, gefolgt von den Kindern, die noch im Hause leben, dem zehnjährigen Vinzenz, dem siebenjährigen Benedikt, dem fünfjährigen Josef, auch die sechzehnjährige Josefa wird dabeigewesen sein, hat vielleicht den vierjährigen Ignaz an der Hand geführt. Albert, vierzehnjährig, wird um diese Zeit schon in Schildberg mitgeholfen haben, die Küpe für den Blaudruck zu bereiten, wird Stoffballen geschleppt, Druckformen in die Regale zurückgestellt, der Frau seines Meisters Töpfe und Fußboden geschrubbt, sonstige, Lehrlingen früherer Zeiten gerne übertragene Arbeiten verrichtet haben, Franz, der Älteste, zweiundzwanzig Jahre alt, knetete Lebkuchenteig in Liebau und versah Lebkuchenherzen mit der damals sicherlich schon beliebten Zuckerglasur. Ob Johann, achtzehnjährig, ob sein zu diesem Zeitpunkt zwanzigjähriger Bruder Johann Nepomuk noch im Land gewesen sind, ob sie schon auf der Reise nach Amerika waren, ist nicht bekannt.

      Dreiundzwanzig Jahre alt ist Anna Josefa, geborene Bühn, gewesen, als sie ihr erstes Kind gebar, Franz kam fünf Monate nach ihrer Hochzeit zur Welt. Jetzt, als sie ihr Letztgeborenes, ein Mädchen, das Anna heißen wird, durch diese Tür trägt, deren rechter, halb geschlossener Flügel durch geschnitzte Hölzer in drei gleich große Felder unterteilt ist, ist sie fünfundvierzig und wird keine Kinder mehr gebären. Ich versuche sie mir vorzustellen, wie sie, nicht mehr jung, in der Kirche steht, neben der Patin, die das Kind über das Taufbecken hält, der Pfarrer gießt aus einem Krüglein geweihtes Wasser über den kleinen, flaumigen Schädel des Täuflings, die Kinder sehen neugierig zu, der heilige Laurentius blickt milde vom Altarbild herab, Johann Wenzel steht ein wenig hilflos dabei, er hat nun durch Arbeit und Fleiß und mit Gottes Hilfe ein weiteres Familienmitglied zu versorgen, eine Tochter zu verheiraten, er ist, als das Kind getauft wird, beinahe fünfzig Jahre alt.

      Ich stelle mir die kleine Menschengruppe vor, die da in der Kirche steht, ich sehe sie etwas später in der Stube ihres Hauses um den Tisch sitzen, Anna Josefa stellt eine Schüssel mit Krautkuchen auf den Tisch, die sie am Tag vorher gebacken hat, Hefekuchen, mit fein geschnittenem, geröstetem Weißkraut gefüllt, ich weiß, wie sie schmecken, ich weiß, wie sie duften, das Rezept der Krautkuchen ist durch direkte Erbfolge auf mich gekommen, der Geschmack des gesüßten Krautes im Hefeteig überrascht mich nicht.

      Ich sitze beim Tisch, esse Krautkuchen und sehe sie der Reihe nach an, die beiden Paten und das Paar, Anna Josefa und Johann Wenzel den Zweiten, beide nicht mehr jung, ihre Krautkuchen essenden Kinder, ich sehe die junge Josefa an, die einen Illichmann heiraten und nach Schildberg ziehen wird, Vinzenz, der in Ziadlowitz Bier brauen wird, ich weiß, daß der eben fünfjährige Josef in dem Dorf Schmole Blaudruck erzeugen, mit seinen gefärbten Leinen- und Stoffballen zu den Jahrmärkten fahren wird. Und während Anna Josefa, geborene Bühn, aufsteht und die greinende, eben getaufte Anna, die den Bäckermeister Langhammer heiraten und mit ihm in die nahe Stadt Landskron ziehen wird, aus der Wiege nimmt, um ihr die Brust zu geben, wandert mein Blick zu dem kleinen, ahnungslos Krautkuchen kauenden Ignaz hin. Ich sehe ihn als erwachsenen Mann hier in der gleichen Stube, am gleichen Tisch, auf dem gleichen Platz, sehe neben ihm seine Frau, die den neugeborenen, eben getauften Ignaz den Zweiten im Arm hält, sehe Ignaz den Zweiten in rasender Eile den Windeln entwachsen, ich sehe ihn, zusammen mit seinen Geschwistern, bei der Arbeit im Heu oder im Flachsfeld, mit der Heugabel die Zeilen wendend, das trockene Heu zu Schobern schichtend, von denen es der Vater und die Mutter aufnehmen und auf den Heuwagen laden, dessen Deichsel in den Rand der Fotografie hineinragt. Die Mutter steht oben auf dem Wagen, schichtet das Heu, achtet darauf, daß der Wagen gleichmäßig beladen ist, Ignaz der Erste bindet den hölzernen Wiesbaum fest, der die Fuhre hält, fährt den Wagen zur Scheune. Auf dem Scheunenboden verteilen die Kinder das Heu, treten es fest, stopfen es in die Ecken und Winkel, auch der kleine Ignaz der Zweite ist dabei, weiß nicht, daß er eines Tages, wenn er erwachsen sein wird, aus Kummer


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