Die Ahnenpyramide. Ilse Tielsch

Die Ahnenpyramide - Ilse Tielsch


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Kästchen, die wiederum durch schräg auseinanderlaufende Linien mit vier weiteren Kästchen verbunden waren, die Großeltern waren noch alle vier am Leben, ich dachte sie mir in die für sie bestimmten Kästchen hinein, sah weitere Linien auf weitere Kästchen zulaufen, in diesen Kästchen lagen die schon Verstorbenen, also die Toten, ich bekam Angst vor der Pyramide, die auf das Blatt gezeichnet war, ich hatte das Gefühl, die Pyramide auf meinen Schultern tragen zu müssen, alle die noch Lebenden und die schon Verstorbenen, die vor mir gelebt hatten, ich fühlte plötzlich ihr furchtbares Gewicht auf meinen Schultern, ich versuchte, meine unsichtbaren Flügel zu entfalten, es gelang mir nicht, ich war kein Elfenkind mehr, ich war ein ganz gewöhnliches Kind, von Menschen geboren, die von Menschen zur Welt gebracht worden waren, die wiederum menschliche Eltern gehabt hatten und so fort. Ich fühlte die Gewichte der Vergangenheit auf meinen Schultern, einer Vergangenheit, die aus Menschen bestand, die Menschen hatten in mir unbekannten Gegenden gelebt, vielleicht in unheimlichen Tropfsteinhöhlen, vielleicht in Schluchten, ich fürchtete mich, mir blieb nur die Möglichkeit, meine Tarnkappe überzustreifen, mich unbemerkt fortzuschleichen, aus dem Zimmer zu laufen, aber auch die Tarnkappe rettete mich nicht, ich war nicht unsichtbar geworden, meine Mutter sah mich trotzdem, ich hörte, wie sie zum Vater sagte: Laß das Kind, belaste es nicht mit dem, was gewesen ist.

      Dann hörte ich noch, wie sie sagte: Später einmal wird sie sich vielleicht dafür interessieren.

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      Wir wissen nicht, woher sie gekommen sind und wann sie ins Land zogen, was sie mitbrachten an Hausrat, Geräten, Kleidung und vielleicht Sämereien, Tieren. Wahrscheinlich hatten sie, was sie besaßen, auf Wagen gepackt, einfache Bauernwagen mit eisenbeschlagenen Holzrädern, wahrscheinlich sind diese Wagen von Pferden gezogen worden, vielleicht waren sie von Stoffplanen überspannt, die sie über eiserne Reifen gebreitet hatten, die ein Dach bildeten, einen primitiven Schutz gegen den Regen und gegen die Kälte der Nächte, vielleicht lagen unter diesem Dach ihre Kinder auf einem Häufchen Stroh, saßen die Frauen vorne auf einem als Sitz quergelegten, mit Eisennägeln befestigten Brett, hielten die Zügel in den Händen, gingen die Männer neben dem Wagen her, um die Zugpferde zu entlasten.

      Als man sie geworben hatte, als man sie überredete, das Land, in dem sie gelebt hatten, zu verlassen, Hab und Gut, alles, was beweglich war und was sich mitnehmen ließ, aufzuladen, mit Stricken festzubinden an Karren, als man sie dazu brachte, nach dem fernen, fremden Land Böhmen aufzubrechen, das sie nicht kannten, dessen Sprache sie nicht sprachen, was hat man ihnen damals versprochen? Reiches Bauernland, fruchtbare Erde, guten Absatz für im Handwerk gefertigte Waren, eine sorgenfreie Zukunft für ihre Kinder? Hat man Werber in ihr Land geschickt, Männer, die der überzeugenden Rede fähig waren, die die anfangs Zögernden überredeten, den Unentschlossenen Mut machten, MENSCHENFÄNGER, die von Haus zu Haus gingen, auf den Marktplätzen sprachen? Waren es einzelne, die aufbrachen, aus den Dörfern und Städten, die sich zu Trecks zusammenschlossen, oder sind miteinander verwandte, befreundete Familien aufgebrochen, halbe Dorfgemeinschaften, ganze Straßenzüge? Wir wissen es nicht.

      Sie könnten aus Sachsen gekommen sein, wo heute noch Familien ihres Namens leben. Wahrscheinlich sind sie lange unterwegs gewesen auf holprigen Straßen, schlechten Wegen, auf denen die Wagenräder einsanken, wenn es regnete, die Pferde strauchelten, die Wagen kippten, nur mit viel Mühe sich wieder aufrichten ließen, durch Wälder, in denen habgieriges Gesindel lauerte, Räuber ihr Unwesen trieben, Durchreisende überfielen und um ihren geringen Besitz brachten. Sie müssen unter den letzten gewesen sein, die kamen, als das fruchtbare Bauernland schon vergeben war, als in den offenen, dem Handel freundlichen Tälern schon andere, Mutigere, Entschlossenere saßen. Für sie blieb ein Stückchen Land in einem hochgelegenen Tal, felsiges Hügelland, Grasland, Urwald, von Felskoppen umgeben, karge Erde, auf der nur dünnhalmiges Korn und Gebirgshafer gediehen, später die genügsame Kartoffel. In den Wäldern wuchsen die wilden Erdbeeren und Heidelbeeren, die Kirschen reiften erst im August und wurden nicht groß, die Beeren der Eberesche machten die Zähne stumpf und die Mundschleimhaut bis in den Hals hinein rauh, so herb schmeckten sie. Viel später Geborene sollten sich erinnern: NUR DER FLACHS GEDIEH ÜPPIG AUF DEN HÄNGEN, BLAU BLÜHEND WARF ER WELLEN IM WIND. Ob sie enttäuscht waren, ob sie an Rückkehr dachten? Sie waren als Freie gekommen, nach eigenem Willen und aus eigenem Entschluß. Sie hätten umkehren und dorthin zurückkehren können, woher sie gekommen waren. Aber kehrt man dorthin zurück, wo man alles, was man besaß, was man nicht mitnehmen konnte, verkauft, verschenkt, anderen überlassen hat, geht man dorthin zurück, wo man Abschied für immer genommen hat, zu jenen, die abgeraten, vielleicht Enttäuschung vorausgesagt haben, von denen man vielleicht verlacht und verspottet werden wird? Wagt man die beschwerliche Reise, die man unter gefährlichen Umständen unternommen, hinter sich gebracht hat, ein zweites Mal?

      Sie blieben, nahmen das Land, das man ihnen zuwies, rodeten es, schlugen die Wälder, gruben die Steine aus der roten Erde aus. Immer wieder wurden die Häuser, die sie gebaut hatten, niedergebrannt, von den Hussiten, von den Schweden, von kaiserlichen Truppen, wurde gemordet, geplündert, geraubt und zerstört. Immer wieder flüchteten sie sich in die Wälder, kehrten zurück, begannen neu, bauten Hütten und Häuser wieder auf, brachten die zertrampelten, verwüsteten Felder wieder in Ordnung. Sie gaben nicht auf, blieben im Land, überlebten Hungerjahre und Katastrophen, Mißernten und Seuchen, sie zeugten unzählige Kinder, die, sofern sie überlebten, zum Teil im Ort selbst seßhaft blieben, zum Teil in die umliegenden Dörfer und Städte zogen. Manche dieser Kinder sind später wieder fortgegangen, weit weg aus Böhmen, sogar nach Amerika. Die meisten aber blieben, ließen sich in der Umgebung nieder, waren Bauern, Feldgärtner oder übten ein Handwerk aus. Ein Oberlehrer aus Wildenschwert im Bezirk Landskron stieß bei heimatkundlichen Forschungen auf den ersten eingetragenen Namen. ADAM muß um 1580 geboren worden sein. Neben dem Sterbedatum im Kirchenbuch befindet sich die Berufsbezeichnung RUSTICUS.

      Einer von Adams Söhnen zeugte Georg, den wir der besseren Übersicht wegen GEORG DEN ERSTEN nennen, Georg der Erste zeugte GEORG DEN ZWEITEN, Georg der Zweite zeugte PAULUS, Paulus zeugte GOTTLIEB, Gottlieb zeugte JOHANN WENZEL DEN ERSTEN, Johann Wenzel der Erste zeugte JOHANN WENZEL DEN ZWEITEN. Johann Wenzel der Zweite zeugte zehn Kinder mit ANNA JOSEFA, einer geborenen BÜHN.

      Wir besitzen eine Fotografie des Hauses, das sie erbauten und in dem sie lebten, in dem sie ihre Kinder zur Welt brachten und starben. Es ist ein gut erhaltenes Bauernhaus, über dem Steinsockel weiß gekalkt, das Obergeschoß aus Holz. Zwei Fenster auf der Seite der Eingangstür, die in einen kleinen, gemauerten Windfang mündet, drei Fenster an der Giebelseite, gegen den bescheidenen Vorgarten hin, mehrere Fenster wahrscheinlich an der auf der Fotografie nicht sichtbaren Breitseite, an die sich ein Stallgebäude (Scheunentrakt) mit breiter Einfahrt anschließt. Der hinter dem Windfang wieder in die Normallinie zurückspringende Hausteil enthielt wahrscheinlich Kammern und Stall. Das Dach in zwei Stufen abfallend, die untere flach, als Wetterschutz über die Fenster gezogen, mit Holzbalken abgestützt, die obere steiler, vielleicht später aufgesetzt, mit Holzschindeln gedeckt. Vor der offen stehenden Haustür zwei ausgetretene Steinstufen, dann ein schmaler Weg über ein aufgeschüttetes grasbewachsenes Hügelchen hinunter zur Straße. Grasumwachsen das ganze Haus, der steinerne Sockel, der aus schmalen Holzlatten gezimmerte Vorgartenzaun, Gras gegen den gewölbten Torbogen zur Einfahrt hin, nach rückwärts zur Stalltür, wo der hölzerne Karren steht. Gras auch im Vordergrund der Fotografie, in die, vom Rand her, die hölzerne Wagendeichsel ragt. Vor dem Windfang ein Kirschenbaum, mehrere kleine, ruppige Bäume mit dünnem Geäst.

      Ein gutes Haus, sicher mehrere hundert Jahre alt. Ein kleines Haus, wenn man Vergleiche zieht zu den wuchtigen Vierkanthöfen anderer Gegenden, solche Vergleiche darf man nicht anstellen, sonst schrumpft es sofort, wird zur engen Behausung bescheidener Bauersleute. Ein großes Haus, wenn man die Hütten und Keuschen der Häusler in der Umgebung betrachtet, aus Holzbalken gezimmert, mit Kalk bestrichen, der Fußboden aus gestampftem Lehm, in der Kammer oft nur ein einziges Bett, in dem die Eltern mit den jüngsten Kindern schliefen, die anderen lagen auf Strohsäcken, auf der hölzernen Ofenbank, auf dem Fußboden. Die Ställe fensterlos, die Stallwände mit einer Laubschicht gegen die Kälte des Winters umgeben. Ein großes Haus, wenn man vergißt, was man an größeren Häusern gekannt hat, wenn man die Armut und Kargheit der Felder


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