Die Ahnenpyramide. Ilse Tielsch
seine Nachkommen haben sich nicht dafür interessiert.
Keines von Josefs Kindern hat das Färberhandwerk erlernt.
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Altgewordene erinnern sich gerne vergangener Zeiten. Wenn der Vater und die Mutter beisammensitzen, sprechen sie häufig davon, wie es FRÜHER war. Das Wort HEIMAT gebrauchen sie nicht, sie sagen: DAMALS ZU HAUSE. Weißt du noch, die Caramelle-Zuckerln, sagt die Mutter, während sie an einem Schal für die Enkelin häkelt, und der Vater sagt: JA, ICH ERINNERE MICH. Meine Mutter hat sie gemacht, die Caramelle-Zuckerln. Ich weiß noch, wie sie geschnitten wurden. Man konnte sie mit Zitronensaft machen, dann waren sie weiß, oder mit Kaffee oder mit Schokolade oder mit einem Tropfen Himbeersaft. Dann waren sie rosarot.
Weißt du noch, sagt die Mutter, wie ich die Grillage gemacht habe, von irgendwoher hatte ich Nüsse bekommen und Zucker hatte ich auch gespart.
DAMALS ZU HAUSE. Wir saßen im Wohnzimmer unter der Hängelampe, im Ofen, AMERICAN HEATING, glühte das Feuer hinter den Marienglasscheiben, die Mutter verpackte kleine, haltbare Näschereien in braune Packpapiersäckchen, die Packpapiersäckchen wurden an die Front geschickt. Statt einer Anschrift gab es eine Feldpostnummer.
Manchmal lebten die Empfänger nicht mehr, wenn die Päckchen ankamen. Manchmal trafen, lange nach dem Abschicken der Päckchen, Feldpostkarten oder graue Faltbriefe mit überschwenglichen Dankesworten ein.
Weißt du noch? Die Köchin Fanni hatte das Rezept, die herrlichen Fondant-Zuckerln, ich bin zu ihr gegangen und habe sie darum gebeten.
An den Zweigen unserer Christbäume hingen Fondant-Zuckerln, nach dem Rezept der Köchin Fanni gemacht, Caramelle-Zuckerln, nach dem Rezept der Mutter des Vaters. Die Großmutter hatte die Herstellung der Caramelle-Zuckerln wiederum von ihrer Mutter im an der steirisch-niederösterreichischen Grenze gelegenen Furthof erlernt.
Weiß du noch, damals die Forellen, wir haben sie in die heiße Butter gelegt, erst hat man sie auf der einen Seite gebraten, dann auf der anderen.
Sie zerfallen leicht, die Forellen.
Nun, in Furthof hat man den Forellen nicht das Rückgrat eingeschnitten. Das habe ich überhaupt noch nie gehört, sagt der Vater. Und den Schleim hat man den Forellen in Furthof auch nicht abgewaschen. Der Schleim muß draufbleiben, sonst schmecken sie nicht so gut.
Meine Großmutter in Furthof hat die Forellen immer in Sardellenbutter gebraten.
ICH MÖCHTE NOCH EINMAL NACH FURTHOF FAHREN, sagt der Vater, Urenkel Johann Wenzels des Zweiten, Großneffe des unglücklichen Ignaz, der sich seiner untreuen, leider leichtfertigen Frau wegen auf dem Scheunenboden seines Hauses im Adlergebirge erhängte, Enkel Josefs, der Färber in jenem mährischen Dorf Schmole südlich von Mährisch-Schönberg war, aber auch Urenkel des k. k. Waldübergehers Karl, der mit seiner Familie, Frau und zwei Kindern, im burgenländischen Rosaliengebirge lebte, und wiederum ein Sohn des FRANZISKUS aus der königlich freien Bergstadt Kremnitz war.
Karl zeugte zwei Kinder mit seiner Frau, einer geborenen Apfelbeck, die ebenfalls Anna hieß, wie jene Anna Josefa in Böhmen, wie Josefs, des Färbers, Frau, wie deren ältestes Kind, er wurde, noch jung, in seinem Revier eines Nachts von Schmugglern erschossen, seine Frau blieb mit den Kindern mittellos zurück. Ich habe das Forsthaus, in dem sie mit Mann und Kindern gelebt hat, gesehen, ich bin mit dem Vater dort gewesen, es liegt auf einer einsamen Höhe, umgeben von dichten Wäldern, ich kenne den Ort, an dem sich das traurige Schicksal des k. k. Waldübergehers Karl erfüllte, ich brauche, um mir das furchtbare Geschehen vorzustellen, keine Lupe, kein Augenglas, keine Fotografie.
Ich stelle mir eine Neumondnacht vor, kein Stern am Himmel, kein Schimmer von Licht zwischen den hohen Bäumen, ich sehe Karl nicht, von dem wir kein Bild besitzen, aber ich weiß ihn im Wald, auf schmalen, finsteren Wegen, das Gewehr über der Schulter, in Erfüllung seiner Pflicht den Schmugglern auf der Spur, vielleicht ist er gewarnt worden, vielleicht hat eine Schmugglerbraut ihren ungetreuen Liebsten verraten, vielleicht hat Anna, die Frau, ihn gebeten, den gefährlichen Gang zu unterlassen, auf die beiden unmündigen Kinder gezeigt, versucht, ihn zurückzuhalten, er aber, eingedenk seiner Pflicht, ist trotzdem gegangen, hat das Knacken der Zweige im Gebüsch gehört, sein Gewehr in Anschlag gebracht, er hat vielleicht HALT, WER DA! gerufen, hat die Schmuggler erschreckt.
Vielleicht hat er auch einen oder mehrere Warnschüsse in Richtung des Knackens abgegeben, aus dem Gebüsch haben die Schmuggler zurückgeschossen, Karl ist auf dem Waldweg niedergesunken, am nächsten Morgen haben ihn Holzarbeiter gefunden und seiner Frau Anna ins Forsthaus gebracht. Ich stelle mir Anna, geborene Apfelbeck, vor, wie sie niedersinkt an der Bahre, vielleicht hat sie geschrien, vielleicht hat sie geweint, vielleicht war sie stumm, ohne Tränen, versteinert, erstarrt in furchtbarem Schmerz. Ich sehe sie, Wochen später, aus der grün gestrichenen Tür des Forsthauses treten, das ich ja kenne, die beiden Kinder an der Hand, das Forsthaus für immer verlassen. Wo sie hingegangen ist, wo sie gelebt hat, gestorben ist, wissen wir nicht, nur, daß sie, weil sie arm war, gezwungen war, sich von ihren Kindern zu trennen.
Alle Fotografien, Dokumente und Briefe, alle die Familie betreffenden Erinnerungsstücke, die der Vater gesammelt hatte, sind in den ersten Tagen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges verlorengegangen. Nachdem die Artillerie der deutschen Wehrmacht ihre letzten Schüsse über die Häuser der Stadt hinweg in die gegenüberliegenden Weinberge und Weinkeller, aber auch in die Häuser und Gärten der Stadt hinein abgefeuert hatte, nachdem die Stalinorgeln von den der deutschen Artillerie gegenüberliegenden Hügeln zu heulen aufgehört hatten, nachdem sich in den Häusern, Hauskellern, Weinkellern, in den Straßen und Gassen, sogar im Hause des Pfarrers, in das sich Frauen, Mädchen und Kinder geflüchtet hatten, beinahe Unbeschreibliches zugetragen hatte, nachdem es also in der Stadt wieder einigermaßen ruhig geworden war, die Eltern aus dem Obst- und Gemüsekeller in das erwähnte Badezimmer übersiedelt waren, richtete man in der Wohnung, die sie vorher bewohnt hatten, ein Lazarett für die verwundeten russischen Soldaten ein. Man entfernte die überflüssigen Möbelstücke und warf, was man nicht brauchte, einfach aus dem Fenster auf die Straße hinaus. Bücher und Briefe, Klavierauszüge und Noten, Czernys Schule der Geläufigkeit, aber auch der Fingerfertigkeit, Annas Schulhefte und Zeugnisse, überhaupt alles, was aus Papier war, womit man nichts anzufangen wußte, soll in einem großen, beinahe bis an das Fenster der im Halbstock gelegenen Wohnung hinaufreichenden Haufen auf dem Gehsteig gelegen sein. Auch das Wanderbuch von Josef, dem Färber, ist auf diese Weise abhanden gekommen.
Da auch aus den Fenstern der Wohnungen und Häuser der anderen in Böhmen und Mähren ansässigen Verwandten Papiere, Dokumente, Briefe und Fotografien auf die Straßen und Gehsteige geworfen, von dort auf Abfallhaufen gebracht oder einfach vom Wind weggetragen, vom Regen aufgeweicht, von den Schuhen darüber wegsteigender Leute zerrissen und zertreten worden sind, ist es später nicht mehr möglich gewesen, auch nur einen Teil davon wiederzubekommen. Es ist aber auch von den in Wien und in der Umgebung von Wien, in Graz und in der Umgebung von Graz, in Niederösterreich und in der Steiermark lebenden Verwandten und anderen der Familie befreundeten Personen beim Entrümpeln von Schubladen, Schränken, Dachböden, bei Übersiedlungen, Wohnungswechsel oder nach dem Tod einiger schon alt gewordener Familienangehöriger, von anderen ungenügend Informierten vieles weggeworfen, verbrannt, vernichtet worden, was nicht hätte vernichtet werden müssen. Trotzdem sind durch Schenkung und Erbschaft einige wenige Erinnerungsstücke in meinen, beziehungsweise in den Besitz meiner Eltern gekommen. Vor allem von dem aus Niederösterreich und aus der Steiermark stammenden Teil der Verwandtschaft, also der Familie der Mutter des Vaters, ist einiges erhalten geblieben, es wurde uns zu verschiedenen Anlässen geschenkt, beziehungsweise von noch lebenden Verwandten ins Haus gebracht, manchmal auch von Verwandten an uns verkauft.
In meinem Besitz sind zum Beispiel ein mit rotem Samt überzogener Osterhase mit Butte, der einst der Tochter des Waldübergehers Karl gehörte, sowie ein Mörser aus Messing samt dazugehörigem Stössel und eine eiserne Kaffeemühle mit verborgener Kurbel, beides von Karls Tochter wiederum ihrer Tochter als Heiratsgut mitgegeben. Außerdem besitzen wir ein Kästchen, das Franz Joseph, der Kaiser, anläßlich einer Jagd im Lainzer Tiergarten der dort bei ihrem Onkel