Die Ahnenpyramide. Ilse Tielsch
den Bäumen eines Gartens, aber nicht mehr, der Rest war von den Baumwipfeln verdeckt, mehr als der Giebel war nicht zu erkennen. Ich kehrte um, ging zum Vater zurück, der immer noch auf dem schmalen Weg stand und auf mich wartete.
Es hat keinen Sinn, sagte ich, man sieht nur den Giebel. Wir werden gegen Weihnachten einmal herfahren, wenn der Gasthof geöffnet ist.
Wer weiß, was zu Weihnachten ist, sagte der Vater.
5
Hinhören, wenn die Altgewordenen sich erinnern.
Wir hatten einen Alabasterschirm, sagt die Mutter, in den war eine Frauengestalt mit wehendem Gewand eingraviert. Den Schirm hat man vor eine Kerze gestellt, und dann hat er ein gedämpftes Licht verbreitet, es hat ausgesehen, als ob das Gewand der Frau sich bewegt hätte, wenn die Kerzenflamme geflackert hat.
Nein, sagt die Schwester der Mutter, es war keine Kerze, es war ein Petroleumlicht.
Wir, sagt der Vater, hatten auch so einen Schirm, aber er bestand aus vier zylindrisch aneinandergefügten Alabasterplatten, so daß das Licht von allen vier Seiten eingeschlossen war, er war auch nicht graviert, die Bilder waren erhaben.
Du hast recht, sagt die Mutter, nicht graviert, wenn man mit dem Finger darübergestrichen hat, hat man die Rundungen gespürt.
Ja, sagt der Vater, RELIEFS waren es.
Nachts hat immer ein Öllicht gebrannt, ein Nachtlicht, das war ein Glas mit Öl, in dem Öl ist ein Schwimmer mit einem Docht geschwommen, es war ein ganz schwaches, sanftes Licht.
Man konnte ja auch, wenn man einmal aufstehen mußte, nicht einfach den Lichtschalter andrehen, es gab ja auch noch keine Lichtschalter, es war nicht so einfach, Licht zu machen, deswegen hat das Nachtlicht gebrannt.
Ich erinnere mich genau, sagt die Mutter, einmal bin ich abends beim Tisch gesessen und die Petroleumlampe hat gebrannt, ich habe meine Schulaufgaben gemacht, da hat mir die Mutter über das Haar gestrichen und hat gesagt: Morgen haben wir schon elektrisches Licht.
Sich vorstellen, daß die Altgewordenen Kinder gewesen sind, die kleinen Köpfe über Schulhefte gebeugt, die Finger krampfhaft den Federstiel oder den Bleistift haltend, die ersten Buchstaben mit einem Kreidegriffel auf die schwarze Schiefertafel malend, bei Petroleumlicht, zwei mal zwei ist vier, fünf mal drei ist fünfzehn, man weiß nicht, was aus ihnen werden wird, aber wir, die später Geborenen, wissen, was ihnen widerfahren ist.
Noch hält die Postkutsche, schwarzgelb gestrichen, mittags gegen ein Uhr vor dem Herrenhaus in Furthof, noch bläst der Postfranzl seine Melodien auf dem Posthorn, sind auf den Straßen zweispännig, vierspännig, von Pferden gezogene Wagen unterwegs, aber schon sitzen irgendwo Herren mit schwarzen Halbzylindern oder mit weißleinenen Schirmkappen in hochrädrigen Benzinkutschen, noch nimmt das Postfräulein Helene täglich den Postsack vom Postillion in Empfang, aber bei Siemens und Halske bastelt man schon an der Herstellung eines Tasten-Schnelltelegraphen, noch staunen die Menschen mit verdrehten Hälsen dem riesigen lenkbaren Luftschiff des Grafen Zeppelin nach, aber die Brüder Wright unternehmen bereits, als Verrückte bestaunt und begafft, ihre waghalsigen, selbstmörderischen Flüge in ihren selbstgebastelten Motorflugapparaten. Noch schreiben die Kinder ihr zwei mal zwei ist vier beim Schein der Petroleumlampe aufs Papier, aber Marie und Pierre Curie ist die Entdeckung der Radioaktivität gelungen. Noch flackern Kerzen hinter Alabasterschirmen, verbreiten Öllämpchen in Kinderschlafzimmern sanftes Licht, aber ein neues Zeitalter der Technik und der Chemie hat bereits begonnen, wir, die viel später Geborenen, wissen noch nicht, was daraus werden wird.
Sich vorstellen, daß das Kind, das der Vater werden wird, in einem von Gaslicht erhellten Treppenhaus steht, an der Hand seiner Mutter Friederike, der jüngsten Tochter des Feilenfabriksdirektors, daß der Sarg mit dem toten Großvater an ihm vorbeigetragen wird. Alt geworden, wird sich der Vater an die bogenförmigen Gasflammen im Treppenhaus erinnern.
Das Kind am Fenster der Brünner Wohnung stehen, auf die Geleise der Kaiser-Ferdinand-Nordbahn hinunterschauen sehen. DIE EIN- UND AUSFAHRENDEN ZÜGE MIT IHREN QUALMENDEN LOKOMOTIVEN ZOGEN MICH AUSSERORDENTLICH AN.
Das Kind, sonntäglich herausgeputzt, mit vor Aufregung roten Wangen im Brünner Stadttheater, neben der Mutter Friederike sitzend, EINE NACHMITTAGSVORSTELLUNG DER OPERETTE PRINZ METHUSALEM VON JOHANN STRAUSS WAR MEIN ERSTES THEATERERLEBNIS. Dieses Kind auf dem eisernen Aussichtsbalkon oberhalb der Mazochaschlucht stehen sehen, erschrocken und fasziniert in die grausige Tiefe blikkend, sich am eisernen Geländer festhaltend. IN DER SOGENANNTEN MÄHRISCHEN SCHWEIZ, UNWEIT VON BRÜNN, KLAFFT EIN ETWA 140 METER TIEFER ABGRUND MIT SCHROFFEN KALKSTEINWÄNDEN UND EINEM WASSERSPIEGEL AM GRUNDE, DER VON DEM FLUSS PUNKWA GESPEIST WIRD.
Alt geworden, wird sich der Vater erinnern, wie sich sein Vater Adalbert für ihn eigens neben das Schwungrad der Lokomotive eines der Prager Schnellzüge stellte, das ihn um ein gutes Stück überragte.
Er wird sich an den schwarzen Landauer erinnern, der vor dem Bahnhofsgebäude in der nordmährischen Kleinstadt Zwittau wartete und ihn mit den Eltern nach Mährisch-Trübau brachte, das 18 Kilometer entfernt von der Hauptstrecke lag.
Die Zeit noch einmal zurückdrehen, zurückspringen lassen. Die Julisonne aufgehen lassen über Furthof, ein schöner Tag, ein sonniger Tag, Amalia hat es in ihrem Tagebuch aufgeschrieben:
(27. Juli 1892, früh aufgestanden, sehr schöner Tag gewesen. Für Friederike den Koffer gepackt.)
Amalia holt den mit Leinen bespannten Koffer vom Dachboden, staubt ihn sorgfältig ab, legt mit Spitzen besetzte Unterwäsche aus Leinen hinein, gestrickte Strümpfe aus Leinen- oder Baumwollgarn, raschelnde Unterröcke, sie holt das tags zuvor gewaschene weiße Batistkleid der jüngsten Tochter aus dem Wäschekorb, besprengt es mit Wasser, erhitzt am Küchenherd den Stahl des Bügeleisens, prüft mit der Spitze des befeuchteten Zeigefingers die Bügelfläche, horcht dem Zischen nach, greift nach dem eingerollten Batistkleid, legt es auf den Bügeltisch, bügelt die Volants, die mit Spitzen besetzten bauschigen Ärmel, die übrigen Teile des Kleides,
(Friederike ihr weißes Batistkleid gebügelt)
geht an den Schrank, holt ein blaues Leinenkleid heraus, setzt sich damit zum Tisch, trennt mit der Schere den Saum des Kleides auf, bügelt den Saum mit dem Bügeleisen, heftet den aufgetrennten, gebügelten Saum neu um, näht ihn mit kleinen Stichen fest,
(Friederike ihr blaues Leinenkleid länger gemacht)
holt weitere Kleider, Jacken, Blusen, Röcke aus dem Schrank, näht hier eine Schlaufe fest, bessert dort einige Stiche aus, näht, besprengt mit Wasser, bügelt, faltet zusammen, packt den Koffer für ihre jüngste Tochter, die von der mit Hermann und Amalie befreundeten Familie des Gutsverwalters und Alaunbergwerksdirektors Ferdinand Weinkopf nach Drnowitz in Mähren eingeladen worden ist.
(Brief von Weinkopf gekommen, Friederike nach Drnowitz eingeladen, große Freude gehabt.
Vormittags viel geplagt, nachmittags mit dem Packen fertiggeworden, Telegramm an Weinkopfs geschickt.
29. Juli 1892, Vater und ich Friederike zum Bahnhof gebracht.
3. August 1892, Brief von Friederike gekommen, ist gut in Drnowitz angekommen.)
Drnowitz oder Drnovice liegt südlich von Eiwanowitz oder lvanovice, östlich von Račice, westlich von Wischau, das heute Viškov heißt. Nordöstlich von Drnowitz liegt Boskowitz oder Boscovice. Aus Boskowitz kam Adalbert, der Sohn des Färbermeisters Josef, nach Drnowitz, er war inzwischen Tierarzt geworden, vielleicht hatte man ihn gerufen, um nach einer erkrankten Kuh, einer Zuchtsau, einem Pferd zu sehen, vielleicht quälte sich eine Stute mit der Geburt eines Fohlens ab, vielleicht lahmte das Lieblingsreitpferd des Alaunbergwerkdirektors, Adalbert kam, sah, diagnostizierte, kurierte, sah aber nicht nur die Kuh, die Zuchtsau, das Reitpferd, er sah auch Friederike aus Furthof bei Lilienfeld, sie war gerade sechzehn Jahre alt geworden, sie trug das dichte hellbraune Haar zu dicken Zöpfen geflochten, auf der Fotografie, die aus der ovalen Aussparung im vergilbten Karton des Albums blickt, fallen ihr kleine Löckchen in die glatte Stirn. Adalbert