Die Welt ohne Hunger. Alfred Bratt

Die Welt ohne Hunger - Alfred Bratt


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wiederholte Schebekoff vom Fenster her. Er kam lautlos zurück und setzte sich wieder, wobei er die Beine von sich streckte und man sehen konnte, daß seine großen Füße in plumpen Filzpantoffeln steckten. Darum also war er früher so lautlos über die Kellerstufen hereingeschlichen! Da saß er nun mit großväterlichen Filzpantinen anstelle der knarrenden Stiefelungetüme. Das nahm ihm das sonore Auftreten und machte ihn zu einem Biedermann in einer schmucklosen, dunklen Stube.

      Bell bemerkte zum ersten Male, daß Schebekoff trotz seiner Boxermaße kein kräftiger junge Mann mehr war.

      »Herr Bell!«, ließ Schebekoff sich nun in einer neuen Tonart vernehmen, in der etwas Beschwörendes fast melodisch mitzitterte. »Herr Bell, Sie sind ein bedeutender Kopf! … Ich sage frei heraus, daß ich mir dessen bewußt bin, und sonst säßen Sie ja auch nicht hier in meinem Haus. Sie haben weiterhin, wie schon einmal bemerkt, Ideale – und das ist gut so. Ich habe nichts dergleichen, wenn ich mich auch nicht immer von einer gewissen Sentimentalität frei fühle – und das ist auch gut so. Spannen wir Ihr Aktivum mit meinem Passivum zusammen, und wir erzielen einen Akkord, der aus dem Buch der vortrefflichsten Orgel kommen könnte, die jemals ihre Schäflein zum Festgottesdienst rief … Wo aber sind diese Schäflein, diese gläubigen Gemüter kurzsichtiger Denkungsart? Sie sind in den Bankshops, in den Bureaus und Magazinen der City, in den Palästen des Westends und in den Gassen von Whitechapel. Ganz besonders in Whitechapel, mein Herr! Es gehört zu den paradoxen Wahrheiten, daß der Mensch umso glaubensfreundlicher wird, je tiefer er im Dreck versinkt. Stellen Sie das Tier mit zwei Beinen auf ein spiegelglatt gescheuertes Parkett, und es wird die Nase in die Luft recken vor gemästeter Aufgeblasenheit, und in der Sonntagsgebetstunde Gott mit einem feierlichen Seufzer danken. Das ist dann, was es seinen Glauben nennt. Stecken Sie denselben Kerl in einen Sumpf wie Whitechapel, lassen Sie das Morastwasser über seinem Kopf hochschlagen – und er wird Ihnen mit »gottverdammich« und anderen unflätigen Redensarten versichern, daß er bei dieser netten Behandlung seinen Glauben völlig, aber auch wirklich völlig mit allem Drum und Dran eingebüßt habe … Das aber ist gerade der echte Glaube.«

      Schebekoff blies kräftig die Luft von sich und schraubte sich stimmlich zu prophetischer Höhe empor:

      »Erst wenn das Durchschnittsindividuum überzeugt ist und es nicht genug versichern kann: daß es nichts, rein gar nichts mehr glaubt, erst dann glaubt es wahrhaftig! … Sie, junger Bell, wissen nichts von alledem; denn Sie haben eine Seele mit geölter Außenseite, an der alles herabrinnt, wie der Tau an einem Maimorgen von den feuchten Gräsern. Wir anderen, wir kennen das höllische Vergnügen, wenn es beißt und zwickt, wenn man aufatmen möchte vor Verderbnis und Schadenfreude, wenn das Böse einem zum Halse herauskriecht wie ein blendender entpuppter Schmetterling.«

      Schebekoff atmete tief, als schwelgte er in wunderbaren Erinnerungen.

      »Haben Sie schon einmal gestohlen, Herr Bell?«, platzte er dann unversehens heraus, »haben Sie schon einmal genommen, was vor Gott und den Menschen nicht Ihnen gehörte? Haben Sie etwas getan, was Sie sehr wohl als ein Unrecht empfanden, und haben Sie gefühlt, wie schön es war, es zu tun? Haben Sie schon einmal gewußt, daß es das Böse ist, das Brennende, Stechende, Sengende, wodurch das Leben in Wahrheit versüßt wird? Haben Sie etwas geplant, was Sie banal für »schlecht« hielten, haben Sie es in sich getragen und gewiegt und genährt wie ein Kind, wie ein Sohn, einen herrlichen Sohn, der wuchs, immer wuchs und immer größer wurde, größer als Sie … bis er Sie anpackte mit seinen Fäusten, die Blut sind aus Ihrem Blut, Kraft aus Ihrer Kraft, … und vorwärts stieß, um es zu vollbringen? Und dann haben Sie gefühlt, wie Ihre Hand zitterte von glücklichem Fieber, wie es in Ihrem Kopf rauschte und dröhnte von Urgesängen, von den Wäldern, in denen die wilden Tiere sich zerrissen und fraßen, von den Wäldern der Urzeit, auf deren schlammigem Tropengrund es nach Fäulnis roch und Gärung, die nichts ist als der Prozeß des Befruchtens und Werdens. Und Sie waren mit dabei, Ihr Kopf war dabei und Ihre Hand, Sie taten etwas – und es war so erlösend, so befreiend, daß Sie es getan hatten, Sie waren so erfüllt, von dem Vollendeten, nicht wieder Gutzumachenden, Sie hatten Ihren Teil geleistet, und nun richteten Sie sich auf und betrachteten die Bescherung. Sie hatten zerstört, wie die Allmutter zerstört, weil sie muß … Sie waren Gott gewesen, einen Augenblick lang, und nun wischten Sie sich aber und leckten sich die Lippen … Und dann wurde Ihnen bewußt, was Sie getan hatten. Sie waren wieder allein, ganz allein zwischen Himmel und Erde, so einsam daß Sie Ihre Knochen, Ihre Haut, Ihr ganzes körperliches Selbst als Gewicht und als Schmerz empfanden. Sie waren zurückgeblieben mit dem Geschmack Ihrer Tat, Sie schmeckten es auf der Zunge, auf dem Gaumen, Sie schluckten es bis in die Herzgrube hinab, und nun begann das Bohren, das in die Tiefe geht wie ätzender Höllenstein. Dann waren Sie froh … ho, wie man zu sagen pflegt … Sie hatten, wonach Sie sich sehnten, es saß in Ihnen fest und konnte nicht heraus. Es mußte sich erst ganz durchdrängen, um als Schlacke auf dem Grund Ihres Wesens liegen zu bleiben bei – bei allem anderen, was schon da lag.«

      Schebekoff sprach bewegt, in vibrierenden Brusttönen, er holte die Worte zwischen den Rippen hervor und befühlte sie gleichsam noch schnell mit den Lippen, wie ein gewiegter Feinschmecker, ehe er sie Schall werden ließ. Er hatte sich weit vorgebeugt, die langen affenartigen Arme vor sich ausbreitend, die Handflächen fest an die Kanten des Tisches gelehnt.

      »Ach nein, Bell«, hauchte er nach einer kurzen Pause, die ihn aus Zeit und Raum entrückt zu haben schien, »ach nein, das können Sie ja nicht wissen! Sie sind der Sonnenvogel mit den leuchtenden Schwingen, Sie fliegen, wo ich wandere. Glauben Sie – oh, glauben Sie heiß und hell an Ihren Gott der himmelblauen Engel, wie ich an Beelzebub glaube!«

      Schebekoff schnob wie ein Arbeitspferd, das eine schwere Last über die Steigung gebracht hat und nun die Beine hinstemmt, wie Säulen, zwischen denen die Flanken zucken. Er schnob warme Luft, und Bell konnte heraushören, daß er aufrichtig war.

      »Nun, aber wollen wir von dem sprechen, was Sie interessiert«, kam es wieder fest und ruhig über den Tisch. »Von dem, was Ihnen … am Herzen liegt.«

      Schebekoff unterbrach sich von neuem, aber diesmal war es nur eine Kunstpause, wie sie jeder Redner gebraucht, um seinem Publikum Zeit zu lassen, sich bereitzuhalten und empfänglich zu machen für das kommende.

      »Es ist gut, auf die Jagd zu gehen, Herr Bell, oh, es ist vortrefflich … aber man muß Gewehr, Proviant und Munition besitzen, wenn man nicht bestenfalls auf halbem Weg liegen bleiben soll. Ich kenne Ihren Willen – er ist ganz in Ordnung, und er ist Ihr wesentlichster Besitz. Ich kenne auch meine Kraft – und wie es sich damit verhält, werden Sie selbst beurteilen können. Ich kenne Ihre Gedanken, denn ich habe mit Ihnen gedacht und mit Ihnen gearbeitet. Ich war mit Ihnen in der heißen Welle Ihres Entschlusses – obwohl ich es damals selbst noch nicht wissen konnte. Ich war mit Ihnen in den Träumen von künftiger Vollendung, die sich wie ein betäubender Duft um das Hirn legen, in den Qualen des Zweifels und dem knabenhaften Trotz, der so recht zu Ihrem schlanken Körper und schlanken Geist paßt. Sie aber merkten nichts von alledem. Erst ging ich auch um Ihr Revier herum, obwohl Ihr aufrichtiges Gemüt die Tür beständig weit offen hielt. Dann aber trat ich ein, und ich blieb gerne bei Ihnen zu Gast. Sie müssen es gefühlt haben, daß ich bei Ihnen war, daß Ihr Schritt mit dem meinen klang, Ihr Blick in den meinen traf. Aber erst sollten Sie sich selbst müde laufen, bis Sie wohl oder übel einsehen mußten, daß es genug war; erst sollten Sie Ihr eigenes Stop formulieren. Ich wußte ja so genau, daß ich bloß zu rufen brauchte, und Sie würden mir folgen wie der abgehetzte Wanderer dem winkenden Licht. Aber Sie sollten es nicht zu leicht haben, Sie, der einzig und allein am Hindernis seine Muskeln stählt. Sie sollten den Ruf herbeiwünschen, Sie sollten von selbst nach Hause gehen. Und erst da wollte ich Sie erwarten, in meiner Heimat, die auch die Ihre ist.«

      Schebekoff sprach mit bewußter Schlichtheit, wie jemand, der mit bescheidenem Behagen seinen eigenen Worten lauscht:

      »Nun brauchen Sie die Maschine, die Sie sicher trägt, und nun, da Sie ratlos sind, schon jenseits aller Grübeleien – nun, da Sie es am wenigsten vermuten, sollen Sie diese Maschine haben.«

      Schebekoff zog die Hände gleitend über den Tisch zurück und richtete den Oberkörper gravitätisch auf, wie ein Prediger über der Kanzelbrüstung.

      »Die Zeit der


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