Die Welt ohne Hunger. Alfred Bratt

Die Welt ohne Hunger - Alfred Bratt


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besaß nur die Gegenwart Geltung und Bestand – ohne Vergangenheit und Zukunft.

      Wer wollte von Morgen und Abend sprechen, von Tätigkeit und Erholung – hier, wo nichts war und nichts sein wird? Fensterläden schlugen auf, Hunde ließen sich hören, ein Kind heulte, weil es am Leben war … aber das sollte beileibe kein Erwachen bedeuten, es war nur die fortbrummende Resonanz eines Akkordes, der aus grenzenlosem Überdruß kein Ende nimmt.

      Jetzt löste die temperaturlose Sonne den Nebel an einigen Stellen auf, aber auch sie vermochte die Menschen, die hier zu sehen waren, nicht ihrer Farblosigkeit zu entrücken.

      Noch immer lavierte Schebekoff unverdrossen vor Bell einher. Schließlich aber stoppte er den gleichmäßigen Maschinentakt seiner Beine und hielt unvermittelt an.

      Sie standen vor einem Haus, das wie ein schiefer, rauchgeschwärzter Zahn eine Reihe von Schuppen unterbrach.

      Siebentes Kapitel

      Das Lokal, in das Bell von Schebekoff geführt wurde, war höchst primitiv, aber ohne abenteuerlichen Anstrich. Ein vierkantiger Raum wenig über Straßenhöhe, kahl, mit einem Feldbett in einer Ecke. Ein roh gezimmerter Holztisch und drei Rohrstühle standen in der Mitte; das einzige Fenster – ohne Gardinen – wirkte nackt und fremd. An einer im übrigen leeren Wand stand eine Kiste mit aufgesprungenem Deckel, die anscheinend als improvisierter Schrank diente. Sonst gab es nichts, was der Beachtung wert gewesen wäre.

      Schebekoff ließ seinen Gast ohne weitere Förmlichkeit stehen und verschwand hinter dem Vorhang, der ein paar abgetretene Kellerstufen verdeckte. Bell trat an das Fenster und stellte fest, daß der einzige Riegel sich sehr leicht zurückschieben ließ, und daß es niedrig genug war, um einen gefahrlosen Sprung ins Freie zu gestatten. Allerdings wirkte das graue Wetter draußen nicht gerade einladend, und überdies verspürte Bell die Lust, vorläufig noch ein wenig auszuharren, um zu sehen, wie weit dieses Original Schebekoff es treiben würde. Er war ehrlich gespannt, und außerdem gab es ja auch weiß Gott nichts, was für ihn jetzt dringender gewesen wäre.

      Neben dem Fenster bemerkte Bell zu seiner Überraschung ein Bücherregal. Augenscheinlich bildete es ein Lieblingsstück seines Besitzers, denn es war aus gutem Holz und sorgfältig mit schwarzer Farbe gestrichen. Auf den Bücherrücken waren die Namen Karl Marx und Friedrich Nietzsche zu lesen. Es waren hauptsächlich Werke sozialphilosophischer Natur, aber … sieh an, auch ein Roman befand sich darunter – der »Raskolnikoff« von Dostojewski. In diesem verborgenen Zimmer in einer Baracke am Ende eines düsteren Viertels wirkten die einfachen Bände wie die geheim vorbereiteten Explosionswerkzeuge eines Verschwörers.

      Bevor Bell weiteren Betrachtungen nachhängen konnte, hörte er ein Klirren, und als er sich umwandte, sah er Schebekoff, der lautlos wieder eingetreten war, beladen mit einem Teller und einer Flasche, die er schwungvoll auf den Tisch setzte. Auf dem Teller lag ein Stück Brot und kaltes Fleisch, und die verstaubte Flasche sah ganz so fragwürdig aus, als ob sie jene Sorte »Gin« enthielte, die einen nicht völlig abgehärteten Mann unweigerlich nach kurzer Zeit zu Boden wirft. Aber Bell hatte schon zu lange gehungert und gedurstet, um wählerisch zu sein. Erst jetzt entsann er sich der Not der letzten Tage, und diese Erinnerung ließ ihn die Leere im Magen mit so starker Plötzlichkeit verspüren, daß ihm fast übel wurde. Er drängte das Bedürfnis, Schebekoff auf seiner noch immer verschleierten Absicht festzunageln, bis auf weiteres zurück und begann wortlos zu essen. Schebekoff blickte ihm aufmerksam zu. Es war wirklich der Mühe wert, Bell bei der Arbeit zu sehen. Dann aber, als Bell so weit mit sich in Ordnung war und aufsah, schob Schebekoff mit einer Armbewegung den Teller beiseite, als wollte er damit ausdrücken, daß dies nun erledigt sei und man getrost zu etwas anderem übergehen könne. Es war klar, daß Bell jetzt mit einer begreiflichen Frage herausrücken würde, aber Schebekoff hielt es offenbar noch nicht an der Zeit, ihn nach Belieben reden zu lassen. Er setzte sogleich kräftig ein, und man konnte feststellen, daß er trotz der kurzen Unterbrechung gut im Fahrwasser war.

      »Es freut mich, Herr Bell, Sie bei mir zu sehen«, begann er seinen Sermon mit einer Dosis anzüglicher Gutmütigkeit, als handle es sich um die Fortsetzung einer verständnisinnigen Erörterung zwischen zwei alten Bekannten.

      »Ich weiß nicht, ob Sie an Schicksalsfügungen glauben. Aber ich halte es für möglich, denn Sie sind – dies wollen wir als feste Voraussetzung betrachten – ein Mann mit Idealen. Darum habe ich nichts dagegen, wenn Sie die Meinung gewinnen, das Schicksal habe uns zusammengeführt.« Er beugte sich vor, langte eine Riesenpfote über den Tisch und legte sie jovial auf Bells Schulter.

      Aber das passte Bell durchaus nicht. Er wollte gerne noch eine Portion Geschwätz anhören, die diesen merkwürdigen Fuchs veranlaßte, aus seiner Reserve herauszutreten. Aber keine Berührungen bitte – das war völlig überflüssig. Er hob den Kopf und rückte ein Stück vom Tisch ab. Diese unscheinbare Bewegung konnte Schebekoff, der gleichsam alle Sinne auf Horchposten geschickt zu haben schien, nicht entgehen. Er parierte schnell und gewandt, indem er ein sehr korrektes und höfliches Lächeln zwischen seine brutalen Backenknochen hängte und glatt den winzigen Mißton übersprang.

      »Es ist kein Zufall, daß Sie hier mit mir an einem Tisch sitzen«, sagte er dann gewichtig, fast belehrend; »ich habe es so gewollt. Und auch Sie müssen es gewollt haben, ohne es zu wissen. Da Sie von Ihrem kleinen Ausflug zurückkehrten, konnte Ihnen nichts Besseres passieren, als einen Führer zu finden, der seine Sache versteht. Ich will mich beileibe nicht überheben – ganz gewiss nicht. Meine Kenntnisse liegen nur auf einem anderen Gebiet und darum meine ich, daß beide Teile profitieren müßten.«

      Er machte eine kleine Atempause, und nun dachte er wohl, daß Bell gut seine Frage anbringen könne. Aber Bell rührte sich nicht. Jetzt, da man von ihm ein Wort erwartete, schwieg er sich mit einer Gründlichkeit aus, in der deutlich ein obstinates Reagieren erkennbar war. Doch Schebekoff war offensichtlich ein sehr geübter Steuermann. Er räusperte sich nicht einmal in dieser auf ihn gemünzten Pause, sondern zog mit frischer Bravour den ersten Trumpf aus seinem Spiel:

      »Sie brauchen mich, Herr Bell«, sagte er trocken und obenhin. »Sie sind, rundheraus, auf mich angewiesen! Aber da ich keine schmutzigen Karten mag, will ich gut und gerne bekennen, daß auch ich bis zu einem gewissen Grade Ihrer bedarf.«

      Nun wollte Bell wirklich etwas sagen – und sicherlich keine besondere Liebenswürdigkeit –, aber Schebekoff ließ dies nicht zu. Da Bell vorher nicht den Mund aufgemacht hatte, als eine Äußerung der Neugier oder zumindest des Interesses am Platz gewesen wäre, sollte er seine kleine Strafe erhalten. Und darum ging Schebekoff ohne Unterbrechung hochtrabend weiter:

      »Sie haben sich verrannt, Herr Bell, wollen wir dabei bleiben. Aber ich strecke Ihnen die Arme entgegen. Das ist mehr, als Sie billig erwarten konnten.«

      »Ich wüßte nicht«, bemerkte Bell kühl. Er saß und strömte Kälte aus – in seinem Dunst unbewegter Reserve.

      »Aber ich weiß es!«, fuhr Schebekoff auf, und er zeigte sich zum ersten Male von seiner cholerischen Seite. Da ihn aber ein schneller Seitenblick davon überzeugte, daß Bell für laute Geräusche durchaus unempfindlich war, fand er ohne Übergang seinen gemäßigten Ton wieder:

      »Sie werden es schon noch glauben, Mann Gottes, das werden Sie! … Oder haben Sie bereits eine neue Fährte für Ihre Weltbeglückungspläne?«

      Nun war es an Bell, sich wenigstens scheinbar zu fügen; denn hier gab es etwas … diese klebrige Eingebildetheit des »ich weiß alles« … etwas, das er erfahren mußte.

      »Na also«, sagte Schebekoff rauh, ganz als ob Bell ihm kräftig beigestimmt hätte. Dann erhob er sich mit einem hörbaren Knacken in seinen breiten Hüftgelenken und schritt quer über den fleckigen Estrich.

      Draußen kämpfte der Nebel mit dem Wind, es war ein wogender, prustender Kampf im Zwielicht, und einige harte Wassertropfen schlugen wie Sandkörner an das Fenster. Schebekoff ließ den Roll-Laden herab, der knatternd niederfiel. Sogleich wurde es dämmrig in dem Zimmer, die Wände traten zurück, die Schrankkiste verkroch sich hinter einen breiten Schattenstreifen. Aber dieser tiefe Dämmer gab dem Raum etwas Wohnliches, indem er


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