Die Welt ohne Hunger. Alfred Bratt

Die Welt ohne Hunger - Alfred Bratt


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ihrer mitgebrachten »Tribüne« auf das Pflaster und schwangen das nebelfeuchte Fähnchen, das sich durch keine noch so scharfe Windrichtung zum Flattern bewegen ließ. Wie sonst war der Inhalt der Reden schal oder verärgert, die ganze Leier vom pietistischen Reklameprädikanten bis zum entkräfteten Plebejerhaß auf und ab schwankend, wie das unendlich zwecklose Geplärr eines überflüssigen Gesellen, der sich betrunken hat. Wie sonst lungerten Männer, Frauen und Kinder vor den Haustüren herum, aus denen Branntweinduft sichtbar in die einsetzende Herbstkühle kroch.

      Wer als Uneingeweihter noch so aufmerksam den ganzen Distrikt durchmaß, von Nord nach Süd, von Ost nach West, suchte vergeblich, wenn er überhaupt etwas zu finden gedachte. Nichts zeigte sich zwischen den Scharten und Rissen der Oberfläche, nichts Verfängliches war zu registrieren, nichts Geheimnisvolles zu deuten, das geheimnisvoller gewesen wäre als in den früheren Tagen, Wochen, Monaten und Jahren. Als wäre der ganze Distrikt in all seinen Teilen und Teilchen mit einer Schicht zähen Lehms bedeckt, in der jeder Versuch näherer Sondierung hoffnungslos stecken bleiben mußte.

      Und dennoch kam Whitechapel. In der Tiefe seiner Abgründe begann es sich zu regen, lautlos vorerst und unsichtbar. Nicht einmal die bewegungslosen Steine und die ungreifbare Nacht wußten etwas davon. Und auch die Bewohner – jeder für sich – wußten von nichts. Das eben war das Sonderbare: daß jeder allein ebenso unwissend war wie früher, daß er aber den anderen verborgene Kenntnisse zuschrieb. So entstanden Reibungsflächen, wo früher hoffnungslose Leere gegähnt hatte, die Abstände wurden enger, füllten sich mit geladener Atmosphäre, man begann seinen Nebenmann zu beachten und zu betasten, man spürte den Dunstkreis des anderen, der bisher abgeschieden und für sich einhergewandelt war, nun aber in die eigenen Kreise drang und so ein fremdes Gemisch erzeugte, das man irgendwie zu durchschnuppern sich unterfing.

      Das war Schebekoff, der unsichtbar seine Arbeit betrieb.

      Noch trat er nicht hervor, noch blieb er hinter den Kulissen verborgen; aber diese Kulissen verschoben sich nach seinem Geheiß und bildeten die stimmungsvolle Umgebung, die er brauchte. Er schwieg – und dieses Schweigen war das erste, was den Leuten auffiel, die ihn kannten und fürchteten.

      Es raunte von Ohr zu Ohr, dieses Schweigen, hinter dem tausend Worte versteckt lauerten, um plötzlich – wer weiß – hervorzubrechen und alles fortzureißen, was sich in ihrer Bahn vorfand.

      Schebekoff begann mit dem kleinen demagogischen Trick, daß er anstelle der Rede ein glattes Verstummen setzte. Dieses Verstummen des Mannes, der den Leuten da und dort uneingestandenermaßen als eine Art Führer galt, wirkte lauter als ein Fanfarenton. Es stellte ihn mehr in den Vordergrund, als die aufreizendste Predigt, die wildeste Beschwörung, das gewaltigste Versprechen es vermocht hätten. Andere hätten die Zukunft zitiert und eine donnernde Gegenwart gefordert, um das Trugbild irgendeiner Fata Morgana an den Erdball zu fesseln. Schebekoff verlangte nichts, versprach nichts, wollte nichts. Er schwieg mit einer hörbaren Eindringlichkeit, der sich niemand zu entziehen vermochte.

      Und eben dieses Schweigen war, was er seinen Ruf genannt hatte. Es teilte sich dem einzelnen mit, machte ihn selbst verschlossen und darum empfindlich und hellhörig für alle Äußerungen seiner Umgebung, ließ ihn die anderen fühlen, die er bisher wohl gesehen, deren Dasein er sich jedoch nicht bewußt geworden war. Man begann zu ahnen, daß man einer war unter vielen, daß man wohl allein nichts bedeutete, in geschlossener Berührung mit den anderen aber – wer weiß …

      Whitechapel besann sich auf sich selbst, auf die Vielheit, die es barg, deren jeder ein winziges Teilchen bildete, das keinen anderen Sinn und Zweck haben konnte, als eben Bestandteil aller zu sein. Die Menge wurde sich ihrer selbst bewußt, und das ließ sie aufhorchen, brachte sie langsam in wogende Bewegung, die immer mehr an Ausbreitung und innerem Schwung gewann, wie die langen flachen Wellen, die zu Beginn der Flut über die Düne rollen.

      Noch wußte man nicht, daß Schebekoff diese aus bewegungsloser Trägheit erwachenden Wellen streichen ließ. Noch blieb er äußerlich unbeachtet, ungenannt.

      Sowie aber die Bewegung erst eine Anziehungskraft verspürte, ordnete sie sich von selbst um den Mittelpunkt, nach dem sie verlangte. In diesem Augenblick mußte das Zusammenwirken der zahllosen Einzelregungen in eine neue Phase treten.

      Man stellte ein gemeinschaftliches Empfinden, ein gemeinsames Vorgehen fest, und das gab den Kitt, der bisher gefehlt hatte. Man rieb sich aneinander, trat einander – bildlich gesprochen – auf die Füße und entschuldigte sich nicht, da man darin nichts Feindseliges erblickte, sondern eher eine sehr ursprüngliche Versicherung der Brüderlichkeit. Man war nicht mehr stumm unter Stummen, einsam unter Einsamen, man roch den Nächsten und war zufrieden, daß seine Poren nicht wohlriechender waren … man konnte einander verstehen, elend wie man selbst war … man überragte nicht und wurde nicht überragt, man schleppte sich kameradschaftlich nebeneinander her, mit den gleichen Lasten, den gleichen Gebrechen, den gleichen Begierden. Jetzt hatte man es heraus, daß man gar nicht ausgestoßen gewesen war all die verdammten Jahre hindurch, man hatte die Strafe mit anderen geteilt, mit Hunderten, Tausenden, und das gab neue Wärme in die erkalteten Knochen.

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