Die Welt ohne Hunger. Alfred Bratt
gewiß, sehr schön … aber noch hier auf unserer höckerigen Erde, wenn ich bitten darf! Ich will zugeben, daß es vielleicht schade ist, Herr Bell … Sie würden wirklich einen wunderschönen Propheten abgeben mit Ihrem leichten Gang und den dunklen Augen, die sich jetzt so angestrengt bemühen, abweisend dreinzublicken. Unter anderen Umständen brauchten wir weder Ihre geniale Erfinderkraft noch die Chemie. Aber man will kein Manna mehr, man will Brot. Behalten wir darum die für uns einzig gültige Wahrheit im Auge, daß Sie mit den Leuten gehen müssen, denen Sie helfen wollen. Die Sonne muß mitten aus dem Sumpf steigen – das und nichts anderes ist vonnöten … Nicht Sie allein können und dürfen die Medizin brauchen, und auch die Leute in der City dürfen nicht helfen … Die Massen, denen Ihr Mittel gilt, müssen es selbst schaffen, die Massen müssen in Ihre Dienste treten, die Massen müssen die große Fabrik bauen, die das Präparat erzeugt. Nur dann hat es Wirkung, nur dann ist es vollkommen … Das Elixier, das Ihrem Hirn entspringt, muß von der Masse hergestellt werden. Der Pöbel braucht Musik, er will spielen. Und Sie sind das Instrument dazu. Sie sind der Gedanke, die schweißige Menge aber ist die Tat … Begreifen Sie jetzt, daß Sie inmitten Ihrer Arbeiter stehen, die nur darauf warten, Ihnen dienstbar zu sein? Sie sollen nicht helfen und nicht schenken; Sie sollen nur befehlen. Ja, nun sind Sie in Ihrem Haus … und Ihr Handwerkszeug liegt vor der Tür. Hier ist alles, was Sie brauchen und nirgends sonst erhalten konnten. Die Mittel, derer Sie bedürfen – oho, da liegen Sie vor Ihnen ausgebreitet, das Heer der Elenden, das Volk der Arbeitslosen, die Menge will sie Ihnen geben!«
Schebekoff hatte den Schädel in den Nacken geworfen, sein Kopfhaar schien sich borstig in Büscheln hochzusträuben.
»Aber vergessen Sie niemals – und hören Sie gut auf das, was ich jetzt sage – vergessen Sie niemals, daß ich es bin, dem dieses dunkle Heer gehorcht!«
»Ich glaube, mich Ihnen deutlich genug vorgestellt zu haben, Herr Bell, um jetzt von der Unterhaltung zum Geschäft übergehen zu können.«
Schebekoff kam wieder mit seinem breiten Oberbau über den Tisch vor. Er stützte sein blaurasiertes Kinn auf eine Handfläche, die in dem Dämmer der Stube weiß zu schimmern schien.
»Wir wollen uns verbünden, Bell«, sagte er, und zum ersten Mal ließ er das förmliche »Herr« ostentativ beiseite. »Sie haben Ihr Talent, Ihre Kenntnisse, den Apparat der Wissenschaft, die uns nützen sollen. Ich aber verfüge über die Möglichkeit, durch die allein Ihre Theorie in die Praxis umgesetzt werden kann … Sie sind im Schatten von Whitechapel groß geworden, mit einem heißen und feuchten Blick nach jenem London, das sich jenseits der Towerbridge mit Kuppeln, Türmen und hohen Dächern in den Widerschein seines eigenen Glanzes aufschwingt. Was sich hier bei uns zwischen Verfall und Moder fortschleppt, haben Sie wohl betrachtet und mitgefühlt, aber nicht verzehrt und verdaut … dazu hatten Sie keine Zeit, Sie sahen nach vorne, über das Gewimmel hinweg, das Sie vom Boden aufheben wollen. Ich aber bin zwischen den anderen gekrochen … oh, ich bin im Schoße der Erde gewesen und habe in die glimmende Asche geblasen, bis sie sich zu jener Glut rötete, die auf mein Geheiß zur verzehrenden Flamme wird. Und ich will Ihnen dieses Feuer bringen, Sie sollen der Gott des Feuers werden, der Herr über das Meer von Feuer, das ich Ihnen schaffe … Ich weiß nicht, ob Sie all die verdeckten Zusammenhänge kennen, die auch hier in den niedrigsten Menschheitsquartieren bestehen. Man muß gute Augen haben, um diese Dunkelheiten zu durchforschen, gute Ohren, um das Ungesprochene zu vernehmen. Es sind schlüpfrige Wege, die durch Whitechapel führen, Wege ohne Richtungstafel und ohne Echo. Doch wer die Wege kennt und doch nicht an sie gebunden ist, vermag alles. Glauben Sie nicht, daß Whitechapel machtlos ist, glauben Sie nicht, daß es arm ist. Geeinigt durch einen Gedanken, beseelt von einem Verlangen, geordnet unter einer Führung, bedeutet die Gesamtheit eine unüberwindbare Potenz. Es ist das Geheimnis der Massensuggestion, Bell, vor dem das mächtigste Einzelwesen erzittern muß! … Wer den Ruf kennt und ihn erschallen läßt, besitzt in Wahrheit den Stein der Weisen.«
Schebekoff öffnete den Mund weit und zog die ganze Luft ein, die er zu erreichen vermochte. Er sättigte sich an einem langen, innigen Atemzug, er füllte sich wie ein Pumpwerk mit Betriebsstoff, und jetzt rauschten seine Worte machtvoll über Bell hin:
»Ich besitze den Schlüssel, der die schweigenden Tore öffnet, ich kenne das Wort, das in alle Schlupfwinkel dringt und die Menge in ihrer ganzen primitiven Glorie um uns versammelt. Nicht umsonst habe ich mich geduckt und gewartet, nicht umsonst bin ich in diese Seelen gekrochen, die so wild und kindlich sind. Ich habe ganz Whitechapel in meiner Faust, und ich öffne sie, um es Ihnen als Morgengabe darzubringen. Hier sollen Sie Ihren Tempel bauen, der Armseligste soll daran beteiligt sein. Im Herzen von Whitechapel muß das Laboratorium stehen, aus dem das neue Heil hervorgehen wird … Sagen Sie, daß Sie es wollen, Bell – sagen Sie, daß Sie meine Hand ergreifen! Oh, Sie können ja nicht wissen, wie ich mich nach Ihnen gesehnt habe, Tage und Nächte, im Wachen, im Traum und selbst im traumlosen Schlaf. Sehen Sie mich nicht an, Bell – bitte, sehen Sie mich jetzt nicht an. Sie sollen nicht sehen, daß ich häßlich bin, daß ich den Fluch und die Krankheit von Generationen mit mir trage. Sind Sie nicht der junge Held, von dem die Sagen erzählen, sind Sie nicht die Umformung meines Wollens in körperliche Wirklichkeit, die Inkarnation, die Wiedergeburt? Ich will nichts für mich … keinen Ruhm, keinen Namen, in Ihnen will ich sein, weil ich es in mir nicht kann!«
Schebekoff sprach jetzt wirklich gut. Alles Falsche und Schleichende, alle Überlegung und List war von ihm gefallen. Er war nur noch Schwung, Bewegung und Schall, es strömte aus seinen innersten Kammern voll und rund heraus und breitete sich aus, füllte das kleine Zimmer bis an die Decke, wie ein elektrischer Starkstrom in Berührung mit dem Kontakt, der ihn auslöst in seiner ungehemmten, knatternden Wucht. Der ganze Mann war eine einzige Energiequelle, für die es – da nun einmal der aufgespeicherte Überdruck das letzte Hemmnis gesprengt hatte – keinen Widerstand mehr gab. Er saß unbeweglich und erzeugte nur ohne Pause rasende Kraftmengen, die selbständig wurden und dann keiner Kontrolle mehr unterlagen.
Er selbst aber blieb hinter diesem Gewitter zurück. Er konnte wohl die Windsbraut erzeugen und loslassen … mochte sie stürmen wohin sie wollte. Aber er konnte nicht selbst mit, er klebte am flachen Erdboden mit allen Knochen und Fibern seines klappernden Körpers. Er komponierte das Lied, aber keine Macht der Welt konnte ihn bewegen, es selbst zu singen. Er mußte es frei im Raum tönen lassen und brauchte einen anderen, einen Bell, der es einfing und mit menschlicher Kehle erst wirklich sang. Er aber, Sergej Schebekoff, blieb zurück und lauschte dem Choral, der aus ihm geholt hatte, was zu holen war. Er blieb zurück als ein häßlicher, nicht mehr junger Mann, mit plumpen Gliedmaßen an einem hageren Rumpf, mit schütterem Haar, trüben Augen und einer fahlen, knitterigen Haut.
Wohl eine Minute verging, bis alles verdampft und verraucht war und der aschgraue Alltag wieder die Stube füllte.
Dann erst fand Schebekoff die Kraft zu neuer Rede:
»Ich werde rufen«, wiederholte er gedämpft und heiser, »ich werde rufen, und sie werden kommen.«
Es war eine abgenützte Stimme, die diese Worte sprach, eine Stimme, die noch im Kampf lag mit dem verhallenden Brausen aus einer anderen Welt.
Bell führte leise die Hand an die schmerzende Schläfe. In dem Krampf, dem er ohne den Schutz kalter Überlegung Einlaß gewährt hatte, wurde nur eine Frage völlig automatisch zu Schall – eine Frage, die er seit dem Morgen in sich getragen hatte:
»Woher wissen Sie? …«
Schebekoff war aufgestanden. Er beugte die Arme wie nach einer anstrengenden Turnübung.
»Das …«, erwiderte er und gähnte fast, »… das sage ich Ihnen ein andermal.«
Er war jetzt wieder der alte – ein robuster Bursche mit schiefem Blick und nicht abzuschätzender Haltung, von dem man alles erwarten kann.
Achtes Kapitel
Whitechapel kam … es kam wirklich. Zuerst war es nur wie ein ganz fernes, ganz unscheinbares Beben, das man kaum zu ahnen, noch viel weniger zu sehen oder gar in seiner Wirksamkeit zu erkennen vermochte.
Commercial Road dehnte sich unverändert durch ihr