Die Welt ohne Hunger. Alfred Bratt
daß Graham sein Gegner war, daß er von Natur aus sein Gegner sein mußte.
Aber Bell gab sich keine weitere Rechenschaft über diesen Gedanken, und, von Graham abgleitend, sah er auf die Hände des jungen Fräuleins, die Tee einschenkten. Sie waren ihm merkwürdig vertraut, diese Hände, und das war das einzige, was ihm in seiner sonstigen Abwesenheit hier zu lebendigem Bewußtsein wurde.
Auch Graham betrachtete seine Tochter und sagte, weniger laut, mit einem Lächeln, das auf seinen breiten, von feinen Furchen gestrafften Zügen überraschend weich wirkte:
»Vivian freute sich so, daß Sie Ihr Versprechen hielten, Herr Bell! …«
»Vivian« … dachte Bell … »Vivian« … – –
Später, als er wieder auf der Straße stand und sich in der frischen Abendluft, wie von einer ungewohnten Last befreit, aufrichtete – trotzdem es hier draußen finster und betrübend feucht war –, dachte er, daß »Vivian« ein seltener Name wäre. Er schritt in Gedanken das Parkgitter entlang, fuhr aber jäh aus seinen Betrachtungen auf, als hinter der nächsten Laterne ein Mann hervorglitt, der gleich darauf im Nebel verschwunden war.
Bell hatte die Vorortgegend erreicht, die aus dem Villenviertel in die Stadt überleitet. Die Häuser waren hier bunt und bescheiden, in einem Stil, der zwischen bürgerlichem Geschäft und Herabgekommenheit schwankte. Und die Menschen, die sich dazwischen bewegten, waren wie sie ein Gemisch von prosaischem Wert und Dürftigkeit. Sie waren Kaufleute allesamt, noch nicht Unternehmer. Sie wohnten vor den Toren der City, und das gab ihnen einen Abglanz von aktiver Bedeutung. Sie trieben mit ihrer Arbeit, ihrer kleinen Münze nach dem Zentrum hin, wie die Adern dem Herzen zuströmen, und sie hofften, dereinst in den großen Kreislauf aufgenommen zu werden, ein Teil von ihm zu sein.
Durch den Nebel rieselte eine kleine Spreu von Nässe, die Laternen spiegelten sich langgeschweift in dem glitterigen Pflaster. Es war ein Abend wie die meisten Londoner Werktagsabende – düster, lebhaft und fröstelnd.
Bell schritt unentschlossen durch das schäbige Gewimmel. Er war mißgestimmt und hatte keine Lust, nach Hause zu kommen. Er achtete nicht auf Weg und Richtung. Ziellos wanderte er durch häßliche schmale Gäßchen, er tauchte zwischen dumpfige Häuserblocks mit geheimnisvoll geschlossenen Fensterläden, stieg wieder ans Licht unruhiger Plätze, bog um eine von Menschen belagerte Haltestelle der Subway – und dann stand er wieder in der Regent Street vor dem gleichen hohen Gebäude, das ihm wenige Stunden zuvor im Vorbeifahren aufgefallen war, und las die Lichtlettern hoch droben auf dem Dachsims: »Graham Meat Company«.
Von den Scharen auf dem Piccadilly Circus durch die Häuserschlucht des Strand getrieben, geriet Bell in den Strom der nach Osten führenden Commercial Road. Erst als er sah, daß er in dem Gewühl heimkehrender Arbeiter mitgerissen würde, wenn er sich nicht dagegenstemmte, blieb er resolut stehen und beschloß, die ruhigen Ufer der Themse aufzusuchen.
Bell hielt vor den alten Mauern des Tower und blickte über die runden Türme und breiten Zinnen hinweg in die schwarz abschließende Himmelswand. Er hörte London bis hierher, er hörte es rumoren mit einzelnen betonteren Lauten aus dem Gemurmel eines entfernten Riesenorchesters, aber er sah es nicht, geborgen durch die dicken Towerwälle. Er spürte wohl das Leben auf der anderen Seite, doch es konnte ihn nicht erreichen.
Die Towerbrücke hing wie eine schweigsame, breite Kette über einem Abgrund tiefer Ruhe, der die Themse war. Bell lehnte an der steinernen Wehr; er beugte sich weit hinaus und roch das Wasser, das so langsam floß, daß man es kaum klickern hörte. Nun sah er: weit drüben war London, glasig, lichtflutend und nebelhaft – wie eine gläserne Kugel über dem Krater eines Vulkans, wie der Widerschein einer entflammten Welt. Die Brücken waren zuckende Lichtschnüre über schwarzem Sammet. Schnüre von Lichtern zogen zwei Säume an den Ufern des Flusses.
Wie ruhig es hier war – das fühlte man, wenn man hinübersah und an den Lärm dachte, der dort aus dem Kessel stieg.
Nur einmal flog ein Komet von der Stadt herüber, wie eine flüchtige, aber grelle Mahnung. Die Brücke und Bell tauchten in eine Flut von Licht. Bell hob den Kopf: es war der Reflektor eines Reklameschiffs, das zwischen ihm und den Sternen nach Osten glitt.
Dann stand er wieder inmitten von Dunkelheit und dem feuchten Atem, der aus dem Wasser stieg. Er hörte singende Stimmen, die näher kamen, und laute Flüche. Drei Burschen und ein Mädchen gingen vorüber. Sie gröhlten das Lied der Dockarbeiter. Ein Schutzmann zeigte sich vor dem Tower und verschwand wieder. Dann war alles still wie vorher …
Bell faßte die Brücke, das Wasser und den heißen Glanz, der von der Stadt herwehte, in einem langen Blick und fühlte, wie sich das Bild in seine Brust senkte. Er sah die Stadt dort ohne den gleißenden Schutz ihrer Strahlen, er blickte durch den Mantel, den ihre eigene Wärme, die Nacht und das Licht um sie gelegt hatten, er blickte in jedes der ungezählten Häuser, in die Menschen, die darin wohnten – ja, und er dachte, daß er selbst in die Seele jedes einzelnen zu schauen vermöchte.
Ein strömendes Empfinden füllte ihn – für jene, deren Stimmen schwach und ungehört sind, und auch für jene, die glauben, zufrieden sein zu dürfen. So ragte er auf der Brücke stark und unbeirrt über der Stadt, die wie geöffnet vor ihm lag.
Ein Schritt hallte in der Nähe. Noch ehe Bell zur Seite blicken konnte, fühlte er körperlich die Anwesenheit eines Menschen neben sich und hörte die mit gedämpfter Stimme gesprochenen Worte:
»Erwarte nichts von denen, die Graham heißen!« …
Bell war reglos vor Überraschung – dann trat er heftig zurück. Aber der Platz neben ihm war leer. In der Mitte der Brücke erblickte er eine Gestalt, die sich schnell entfernte. Sie trug einen Lodenmantel … wie der Mann, dem er vormittags im Green Park begegnet war.
Mitternacht war vorüber, als Bell mit der Straßenbahn nach Hause fuhr.
Fünftes Kapitel
Einige Wochen vergingen, und die staubige Hitze, die der kurze Sommer über die Stadt gelagert hatte, verschwand so unvermittelt, wie sie gekommen war. Die brodelnde Atmosphäre, die wie eine pulverisierte Welle über der City lastete, wich dem Herbst, der von der See herüber wehte.
Bell verbrachte Tage und Nächte – wochenlang – vor dem Schreibtisch, über Papieren, die mit Zahlen und Formeln bedeckt waren. Aber die Arbeit schritt nicht vorwärts. Er verließ kaum das Haus; Frau Trimbles brachte ihm die Mahlzeiten auf sein Zimmer. Er nickte bloß und sprach kein Wort. Auch sie war gegen ihre Gewohnheit stiller geworden, betroffen von soviel starrer Schweigsamkeit. Manchmal dachte sie, Bell müsse entweder auswärts oder gestorben sein, da Stunden vergingen, ohne daß ein Laut aus dem Zimmer kam. Nur nachts, wenn der Schein der Lampe durch die Türritzen auf den Flur fiel, konnte sie wahrnehmen, daß der Mann in der stillen Stube noch am Leben war.
Bell arbeitete mit der halsstarrigen Energie und dem Trotz eines Verzweifelten. Er hatte einen neuen Weg der arithmetischen Analyse eingeschlagen, er versuchte eine Ableitung nach der anderen. Aber – die Arbeit ging nicht vorwärts. Immer wieder kam er auf den toten Punkt, und er mußte einsehen, daß an ein Weiterkommen ohne die erforderlichen technischen Hilfsmittel nicht zu denken war. Den größten Teil der Nächte brachte er damit hin, ruhelos zwischen den öden Wänden auf und ab zu schreiten – er brauchte Geld, Geld, Geld … alles andere war zwecklos!
Er war noch nicht gesonnen, klein beizugeben … aber – das war nicht zu leugnen – es war nicht leicht, weiß Gott! In zwei Wochen würde er Frau Trimbles das letzte Geld bezahlt haben. Was dann? …
Es war Abend. Draußen schlugen die Regentropfen auf das Wellblech vor dem Fenster.
Bell saß auf dem harten Sofa. Sein Blick irrte durch das Zimmer. Die beiden Negerköpfe aus billigem Messing glänzten trübselig aus der dunklen Nische über dem Schrank. Die Vase auf dem Kaminsims war leer, die Lavendel waren schon lange zu nichts zerfallen. In der Ecke neben der Türe stand ein Koffer. Es war ein großer, fester