Die Welt ohne Hunger. Alfred Bratt

Die Welt ohne Hunger - Alfred Bratt


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selben Augenblick stieß er gleichsam von dem Fleck Erde ab, auf dem er stand, und fuhr voran – er landete auf dem Anhang, der unter ihm fortzugleiten schien, er hieb mit drehenden Armschwingungen in das Geröll, er riß das Mädchen empor und an sich, er schnellte in zwei, drei Sätzen wieder hinab – und gleich darauf erschütterte der Sturz des Wagens das Gelände – die Erde bebte – und ein prasselnder Regen von Erdstücken, ein Wirbel von Staub hüllte ihn ein. Er stand aufrecht in diesem Luftkreisel, er wußte nicht, daß seine Augen brannten, er hörte nicht die Rufe, er fühlte nur das lebende, elastische Gewicht der Last auf seinen Armen – die Augenlider fielen ihm herab, ein Strahl von Stärke und Unbändigkeit rann durch ihn. Dann, als er wieder zu sehen vermochte, schritt er durch eine Gasse von Menschen zum Wiesenrain und bettete das Mädchen ins Gras. Ein Arzt kniete neben ihr. Er horchte auf den Herzschlag und konstatierte einen vorübergehenden Schwächeanfall. Bell war gezwungen, den Druck zahlloser Hände zu erwidern. Doch sein Blick suchte die Gestalt des Mädchens, das schlank und leicht auf dem Rasen ruhte, kühle Tautropfen in dem blonden Haar.

      Eine kurze Strecke voran wartete der Hilfszug. Er glich seinem (nun durch den Tod entstellten) Kollegen wie ein Bruder dem anderen. Er funkelte von der Schnauze seiner Maschine bis zu den roten Lichtern am Schwanz. Er brummte aus den Dynamos und sprühte zurückgehaltene Lebendigkeit, als könne ihm so etwas nie und nimmer passieren. Und als er anzog und absurrte, schleiften die immer kleiner werdenden Schlußlaternen hochmütig ihren Schein hinterher.

      Bell hatte ein getrenntes Abteil entdeckt und die junge Dame, der er in dieser Nacht auf so merkwürdige Weise zum zweiten Male begegnet war, hineingehoben. Da saß er nun. Auf der Bank gegenüber lag sie und bewegte sich nicht. Und im Grunde war er heilfroh, daß sie sich so hervorragend still verhielt, den Kopf zwischen den Kissen verborgen. Während der Zug wie ein Pfeil flog – als wollte er gutmachen, was der andere versäumt hatte –, sandte Bell zuweilen einen raschen Seitenblick hinüber zur anderen Bank und lächelte, beruhigt darüber, daß sich dort nichts regte. Er kam sich ganz unwirklich und wie aus der Welt verschlagen vor, allein mit dieser kleinen Dame, die so vornehm und zierlich war und so überaus gebrechlich erschien unter den Falten der Decke, die er über sie gebreitet hatte. Bell war nie dazu gekommen, sich mit Frauen abzugeben, und nun saß er da und betrachtete die Situation wie ein heimliches Wunder. Er konnte sich nicht recht darein finden, daß er sie soeben in seinen Händen gehalten hatte, die ihm so grob und rauh vorkamen, so daß er niemals gewagt hätte, ihr mit ihnen das Haar aus der Stirn zu streichen. Er scharrte mit den Füßen und hielt gleich wieder erschrocken inne, damit sie nicht erwache. Er studierte die verschlungenen Buchstaben D. L. E., die auf die Polsterung gepreßt waren. Er bemühte sich, die vorbeihüpfenden Telegraphenstangen zu zählen, und schließlich pfiff er zwischen den Zähnen zum Takt der Radschwingungen eine kleine vorsichtige Melodie.

      Das Unglück hatte mehr als drei Stunden Zeitverlust gekostet. Der Tag tastete bereits herauf. Die Ausdünstung der Morgenstunde hob sich von den Feldern und wälzte sich neben dem Zuge mit. Milchweiße Schwaden verdeckten die Vegetation; es sah aus, als führe man zwischen Wassern.

      Wieder glitten sie dahin wie auf einer magnetischen Ebene.

      Draußen wurde es immer heller. Baumkronen und Dächer stiegen aus dem Dunst wie treibende Inseln. Bald war es ein fliegender Dunst von schwebenden Streifen, die sich über der grünen und braunen Landschaft zerteilten. Auch in dem Abteil wurde es hell und sonnenwarm. Bell pfiff auf einmal ganz unbekümmert, er wurde froh in all der Helligkeit. Aber dann verschluckte er den Ton in der Kehle und erhob sich unbeholfen: das fremde Mädchen sah ihn aus weit geöffneten Augen an und richtete sich langsam auf. Er war sogleich bei ihr, ließ sich auf dem Fensterplatz nieder und stützte sie mit einer Sorgfalt, über die er selbst erstaunt war. Sie faßte nach seinem Arm, ohne ein Wort zu sprechen; – er war ihr dankbar dafür. So lehnten sie am Fenster, der Sonne entgegen. Es war Bell, als tönte ein hüpfendes, übermütiges Morgenlied an sein Ohr, aus dem Summsen des Wagens, aus den Feldern dort draußen, aus der atmenden Berührung der Gestalt neben ihm. Der Linoleumboden zu ihren Füßen, die Bank, der Fensterrahmen sausten noch schneller als früher an der Landschaft vorbei. Sie fuhren eine Biegung – und dann sah man weit voraus, in einer Welt von Himmel und Schimmer, den riesenhaft gedehnten Umriß Londons. Zwei gleißende Türme stiegen vor der Stadt schwindelnd in die Atmosphäre, eine gleißende Wölbung spannte sich zwischen ihnen. Das war der Kristallpalast – die weiten Bogen standen flimmernd im Morgen, und es schien, als klängen sie in der Luft.

      Der Zug raste mächtiger denn zuvor. Er knatterte über eine Hängebrücke, er hob und senkte sich wie ein fliegendes Fahrzeug, er hämmerte über Land, er knallte pfeifend zwischen zwei kilometerlange Zäune von Plakaten – er nahm keine Notiz davon, daß Madame Feodorowna in der »Alhambra« tanzte, und es wunderte ihn nicht, daß »Pink-Flower« das beste Mundwasser ist – er preßte sich in einem Nu durch diese bemalten Wände, die schon hier draußen für die große Stadt Reklame brüllten, er fuhr – wie ein Bolzen aus dem Blasrohr – wieder aus ihnen heraus, er hatte alle Besinnung verloren, er war nicht mehr zu halten, er witterte das Ziel, er stürmte darauf los – und er streckte sich flach vor Übereilung, als die Halle der Victoria-Station sich vor ihm auftat … hinter ihrem gläsernen Abschluß konnte man den Verkehr der Straße erblicken … er sprang gleichsam in einem Satz aus dem Flachland mitten in das Herz von London, und er wieherte aus den angerissenen Bremsen, als er betäubt stillstand, atemlos und mit zitternden Aluminiumflanken – zwischen den Kolonnen von Omnibussen und Autos, die von der Straße in die Halle gefahren waren.

      Bereits um fünf Uhr hatte der Draht das Unglück in die Hauptstadt gemeldet. Die Morgenausgaben der Zeitungen brachten fett gedruckte Titelblätter. Und jetzt – neun Uhr vormittag – staute sich in der Halle von Victoria eine erregte und neugierige Menge. Verwandte und Freunde der Reisenden (man hatte die Namen der Toten und Verletzten noch nicht melden können), mühsam beherrschte Menschen, Nichtstuer, Schreiber, die auf dem Wege zum Bureau eine kleine Frühstückssensation aufschnappen wollten, Reporter, Photographen. Sie stürzten sich auf den Zug, als müßten sie ihn verschlingen, sie kletterten auf die Plattformen … unterdrücktes Aufschluchzen, Freudenschreie … die Photographen knipsten, die Redaktionsautos fuhren davon.

      Bell half seiner Reisegefährtin auf den Bahnsteig. Noch einen Augenblick hielt er eine kleine, weiße Hand in der seinen – dann drehte er sich unvermittelt herum, wie jemand, der nach einer traumhaften Luftfahrt gelandet ist und merkt, daß er wieder auf nüchterner Erde steht.

      Die junge Dame aber flog von seiner Seite, einem Herrn entgegen und an die Brust, der – elegant und massiv – die Umstehenden um einen Kopf überragte. Gleich darauf standen beide vor Bell – er hörte, wie sie »Papa« sagte, und er murmelte seinen Namen – der Herr sprach einige Worte … er hieß C. W. Graham … ja, und er sei Bell zu außerordentlichem Dank verpflichtet, da seine Tochter … Bell dachte, daß er noch nie einen so imponierenden Kopf gesehen habe – und die junge Dame reichte ihm eine Karte und forderte ihn auf, sie nachmittags zu besuchen – »ganz bestimmt, nicht wahr?«

      Als der Tumult schon lange aus dem Bahnhof geebbt war, stand Bell noch immer neben dem Zug und drehte eine kleine, bedruckte Karte zwischen den Händen.

      Viertes Kapitel

      Das weite Viereck des Trafalgar Square dröhnte von jagenden Rädern. Es war um die Mittagsstunde; die Zeit, in der die Armeen von Schreibern, Verkäufern und Schalterbeamten aller Art sich aus den Banken und Büros ergießen. Der Verkehr am Strand, von Charing Cross und Leicester Square flutete in das von Hast und Geschäftigkeit schallende Viereck und brandete um den Sockel der Nelson-Säule.

      Auf einer der kleinen Straßeninseln, an der Mündung des Strand, stand Bell mit ermüdeten Augen. Er war den ganzen Vormittag durch London gegangen, ohne ein bestimmtes Ziel. Er schob sich zwischen die Mauern angehaltener Wagen und ließ sich vor den Portalen der Geschäftshäuser drängen. Er kreuzte an den gefährlichsten Stellen über die Fahrdämme, mit der blinden Unbekümmertheit eines Mondsüchtigen. Und jetzt war er auf dieser Insel gelandet, die nicht mehr als einige Schritte breit war und doch so sicher und unberührbar lag inmitten des ewig vorwärts schiebenden Chaos. Die ermattende Reaktion, die Bell in der Halle von Victoria überkommen hatte, hielt noch an.


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