Die Welt ohne Hunger. Alfred Bratt
hatte die Ellbogen auf die gepolsterten Lehnen gestützt. Er legte ein Bein über das andere und genoß die Ruhe. Nun, da sie mit ganzer Kraft dahinschnurrten, verspürte man kaum eine Bewegung, es war, als glitte man auf stählernem Schlitten über eine magnetische Fläche. Manchmal fuhr ein blauer oder grüner Riß durch die Dunkelheit … die Telephonhäuschen der Streckenwächter.
Bell drehte sich von der Scheibe weg und senkte den Kopf. Die Spannung der letzten drei Tage begann nun zu wirken, eine leichte Erschlaffung ließ ihn fröstelnd zusammenschauern. Der helle Wagenraum versank vor seinen müden Augen in farblose, verschobene Umrisse. Sein Kopf schmerzte. Mancherlei Erwägungen kreuzten durch sein Bewußtsein. Er überdachte den Lauf dieser Reise: abgeschlossen … das war vorbei, ja … Und eigentlich war es nicht einmal überraschend – durchaus nicht! Dennoch – es war Raum für sein Projekt in dieser Welt! Und wenn dieser Raum sich nicht selbst bot, so würde er ihn schaffen! Er fühlte die Schnelligkeit der Fahrt in allen Nerven, und das beruhigte ihn. Er rechnete flüchtig und in losen Zusammenhängen seine Aussichten durch, und es dünkte ihn, daß die Rechnung stimmte. Sie mußte stimmen. Bell zog unwillkürlich die Stirne hoch und kniff die Augen zusammen. Dann wurde er innerlich ganz kühl, während er seinen Betrachtungen folgte … Und plötzlich mußte er lächeln – schon halb im Schlaf – als er sich Bourdiers erinnerte, wie er vor ihm stand und sich spreizte, knallrot und ohnmächtig; und die letzten Worte des Professors klangen ihm in den Ohren. Dann verloren auch sie ihren Sinn, und es war nur der Klang, der nachwirkte …
Der Zug flog mit bebenden Flanken. Er fraß sich durch das Dunkel, er schluckte die Kilometer, er flitzte durch sie durch und stieß sie hinter sich ab in einen lustleeren, pfeifenden Raum, der nach ihm über die Strecke fegte. Er legte sich in die Kurven, schleuderte die blanke Barre der Schiene unter sich zurück und schoß in die Schwärze wie ein spiegelglatter Pfeil.
Bell schlummerte ein.
Die Unterhaltung der Mitreisenden zirkulierte gleichförmig um ihn von Drehstuhl zu Drehstuhl. Der Geruch glimmender Zigarren krieselte von den Aschbechern auf den Mahagonitischchen. Die livrierten Diener kamen und gingen mit Teekannen und Toasttabletts.
Bell schlief. Er schlief noch immer, als unter ihnen, wie aus der Erde heraus, ein Dröhnen barst, und die Schiene splitternd sprang, und der lange Wagen wankte.
Er erwachte erst, als es ihn heiß und kalt umwehte. Irgendetwas stürzte tosend zusammen.
Bell spürte etwas Hartes, Schneidendes in den Handflächen. Es war eine aus dem Bahndamm ragende Wagenachse, die er umklammert hielt. Die scharfen Kanten des Metalls schnitten ihn ins Fleisch und verursachten ihm heftige Schmerzen – während ein marternder, an seinen Nerven rüttelnder Lärm wie eine klagende Woge um ihn brandete. Er biß die Zähne zusammen und suchte Erleichterung, indem er abwechselnd den Griff der einen Faust lockerte und die andere dem Gewicht seines Körpers standhalten ließ. Schwelende Wärme stieg unter ihm auf. Ein brandiges Etwas hinderte ihn, frei zu atmen, es legte sich um sein Bewußtsein wie eine zerfließende Wolke. Einen Augenblick war ihm, als müßte er alles verschließen, was noch an Empfindung in ihm lebte, aber dann griff er stärker um das Metall, das seine Haut zu sengen begann, er wollte durchhalten, und gleich darauf ließ er dennoch los. Aber er stürzte nicht; er rollte ganz sanft den Bahndamm hinab und blieb liegen.
Der Boden war weich und feucht. Bell genoß diese plötzliche erfrischende Nässe mit einem Dehnen der Glieder. Er öffnete angestrengt die Augen und sah, daß es hohe, betaute Grashalme waren, die seinen Kopf umstanden und ihm Stirn und Wangen streiften. Er empfand den Duft des Wachstums, der mit jedem Halm aus der Erde stieg, er bewegte den Kopf nach beiden Seiten im Grase, er hätte sich am liebsten daran gelehnt, und er dachte, daß es wüchse ohne innezuhalten, so zart war es und empfindlich vom Tau.
Bell drückte aufatmend die Schulterblätter tief in das auseinanderweichende Gras und richtete den Blick gerade empor. Über ihm ruhte die Wölbung des Himmels wie ein sehr dunkles, straff gespanntes Tuch ohne Falte; da und dort stand ein Leuchten auf dem Stoff, nicht größer als ein Punkt, aber bleich und mild wie Silber – die unendlich ferne Iris der Sterne …
Bell saß aufrecht; und als er den Kopf wandte, gewahrte er den Damm, auf dem umgestürzte und zerbrochene Waggons die hilflosen Räder ins Leere streckten. Flammen stiegen aus der Verwüstung empor, kurze Feuersäulen, aus denen es gierig tönte von knackendem Holz und schmelzendem Aluminium. Und da – während er mit einem Sprung stand und voll Verwunderung feststellte, daß er heil war und kein Knochen fehlte – hörte Bell den Chor von Rufen und Wimmern. Er unterschied – erst wie ein entferntes Gewirr, und dann entsetzlich wirklich und nah – die Stimmen, von hüben und drüben, von dem Abhang und von dem aufgerissenen Weg der Schiene; sie kamen von oben und unten, vorn vorne und rückwärts, aus dem Wust gekrümmter Metallrücken, aus den Flammen, überall her … Es war der verunglückte Zug, der schrie – oder waren es die Menschen? –, es war der Schauplatz eines Kampfes, der kurz, aber furchtbar gewesen sein mußte. Bell schritt, unsicher noch und betäubt, dem Bahndamm zu. Er kletterte über Haufen zerstörter Wagenteile, er stieg über Schuttmassen, er bückte sich unter Schwellen, er trat in Asche und Blut, und das Schreien, das Schreien des Zuges folgte ihm. Ja, das war der Nachtexpreß Dover–London, sein Zug. Er war entgleist infolge falscher Weichenstellung.
Lichter huschten an Bell vorbei – es klapperte neben ihnen von eiligen Schritten – und kletterten den Abhang hinauf. Die von der nächsten Zwischenstation telephonisch gerufene Rettungsmannschaft war an der Arbeit. Tragebahren standen auf der Wiese. Zwei Männer brachten eine durch Bandagen unkenntliche Gestalt und legten sie behutsam auf ein Feldbett. Die Wasserstrahlen der Handpritschen zischten durch die Luft und jagten den Rauch aus den Brandstellen auf. Unter halbverkohlten Wagen, zwischen den abgesplitterten Platten der Dächer, zwischen zerrissenen Kabeln und geborstenem Glas waren Menschen – sie schrien laut, sie klagten monoton oder jammerten leise, sie streckten die Hände und suchten sich herauszuarbeiten.
Bell hielt neben der Maschine. Sie hatte den Kopf, diesen Maulwurfskopf mit den stählernen Kiefern, zur Hälfte in den Sand gebohrt. Die eine der beiden Laternen war erloschen, die andere fehlte; die Öffnung, aus der sie im Sturz gebrochen war, glich einer leergeronnenen Augenhöhle. Der Leib, der noch vor kurzem von elektrischen Energien gebebt hatte wie ein Wesen, das lebendig ist und stark, der Leib, der gewohnt war zu schweben vor Geschwindigkeit, war nun still – ein breiter Riß ging mitten durch, und daraus quollen die Drähte und Kabel, Bündel von Eingeweiden. – Die Postcars waren umgekippt, die Kuppelung hielt sie noch zusammen, und vor ihnen häuften sich Stapel eingedrückter Koffer und geplatzter Pakethüllen. Der erste Passagierwagen – ein Sonderwagen der »Compagnie de Luxe« – ruhte mit dem vorderen Teil auf einer Schicht von Trümmern, der hintere Teil hing frei über den Abhang. Die Räumungsarbeiten waren an dieser Stelle in vollstem Gang. Der Wagen, dessen gewichtiger Bau sich ruckweise, aber unaufhaltsam senkte, wurde durch Pfosten gestützt, deren Holz sich bog und jeden Augenblick entzweizubrechen drohte. Eine Schar Geretteter umstand den Platz – bereit, auf das erste Warnungszeichen zurückzuspringen. Ihre Gesichter erschienen merkwürdig weiß und leer in der wechselnden Beleuchtung. Der Schutt oben auf dem Damm bewegte sich, kam ins Rutschen, ein Geröll von Steinen klinkerte herab – und dann brach ein vielstimmiger Schrei aus der Schar, er keuchte aus dem Kreis, den die Erwartung wie ein fiebriger Strom umfloß, er hallte in die Nachtluft –: zwischen den verschobenen Trümmerteilen wurde ein menschlicher Körper sichtbar. Der Unterleib war festgeklemmt, und gerade darüber schwebte der gewaltige Achsenbau des Wagens. Es war ein Mädchen. Das offene blonde Haar wehte von ihrem vorneüber geworfenen Kopf herab, das Gesicht war unkenntlich, zur Erde gerichtet. Eine Bewegung ging durch die Zuschauer, wie das erste Signal einer Panik. Die Frauen drückten sich aneinander, die Männer zauderten, sie wollten retten und wagten sich doch nicht vorwärts in den Bereich des drohenden Sturzes. In den Stützbalken knackte es von zerspringenden Holzfibern, der schwere Wagen gab ein Dröhnen von sich. Auch die Beamten wichen zurück, und die Balken, die nicht mehr festgestemmt wurden, begannen zu wanken.
Bell hatte sich mit zwei Stößen der Ellbogen in die erste Reihe gedrängt. Er stand da und starrte wie festgebannt auf dieses blonde Haar, das die Steine berührte. Er schnob in die Luft, und in seinem betäubten Hirn quälte ihn ein unsicherer, blitzartiger Gedanke. Er sah das blonde Gold dieser Haare, und