Die Welt ohne Hunger. Alfred Bratt
man sich bedienen könnte, sind nicht immer zur Stelle.
Thomas François Bourdier gehörte zu jenen Wissenschaftlern, die es mit außerordentlichem Spürsinn und einer bewunderungswürdigen Anpassungsfähigkeit verstehen, Talente zu – entdecken. Er hatte es stets für vernünftiger gehalten, die Leistungen Unbekannter gewinnbringend zu verwerten, als selbst allzu tief in die so verwirrten und verwirrenden Regionen der Elemente einzudringen.
Denn es ist unbestreitbar bequemer und keineswegs weniger amüsant, diese komplizierten Neuerungen anderen zu überlassen. Wenn man nur die Glorie auf seine Seite bringt!
Man muß die Welt kennen – das ist es. Thomas François Bourdier kannte die Welt.
Auf diesem mehr ehren- als dornenvollen Wege war er mit dem Vollgewicht seiner Person die steilen Stufen zur Professur und zum Sitz und Titel eines Akademikers emporgestiegen. Seine Abstammung aus der Gascogne, die ihn mit einer nicht unbeträchtlichen Redegewandtheit begabt hatte, trug keineswegs den kleinsten Teil an seinen Erfolgen. Zudem ist häufig genug beobachtet worden, wenn auch noch nicht ganz aufgeklärt, daß fette Leute dem Fatum sympathischer sind als magere. Und in Bezug auf die erstere Eigenschaft hatte Thomas François Bourdier sich nichts vorzuwerfen. Seine von harten Fleischmassen zusammengepreßte Gestalt mit den merkwürdig beweglichen Armen und Beinen, dem zugespitzten Kopf und den runden, gleichsam auf unsichtbaren Stielen hervorquellenden Augen glich wahr- und leibhaftig dem tausendfach vergrößerten Exemplar jenes merkwürdigen Tieres, das die Zoologen Ameisenlöwe nennen. Man weiß, daß dies anmutige und ansprechende Geschöpf seine Zeit damit verbringt, eine trichterförmige Öffnung in den Sandboden zu bohren und hier auf die Ameisen zu warten, die sich etwa freundlicherweise dem Trichterrand nähern und herabfallen möchten. Das ganze Leben des Professors Bourdier war sozusagen ein solcher Raubtiertrichter, in dessen Mittelpunkt er unablässig saß und gierig eine Karriere bohrte.
Vor dem hohen Laboratoriumsfenster stehend, blickte Bourdier in einen Sonnenuntergang, der die Giebel der gegenüberliegenden Häuser, die schwanken Stahlsparren der Hochbahngleise und die Motorhauben der in der Tiefe schwirrenden Automobile in rötliche und gelbliche Linien zerflimmerte. Der sacht streichende Hauch des Abends, jener Hauch vom ersten Wipfelgrün des Bois de Boulogne und dem sanften Schlag des Seinewassers an schlammige Kaimauern, vom Brodem der in Dunstschleiern versinkenden Verkehrsplätze und der schüchternen Melodie einsamer Vorstadtgassen, von Lachen und Parfüm, von Hupenklang und dem Ruf versprengter Camelots mit druckfeuchten Zeitungen auf dem Arm – dieser aus hunderterlei Geruch- und Lautempfindungen gemengte Hauch, den jeder Pariser Frühjahrsabend in seinem Atem mitschwingt, drang nicht bis herauf in den kahlen Raum. Er berührte nur mit einem kaum sichtbaren Nebel die geschliffene Fensterplatte, flüchtig wie ein halber Gruß.
Der Professor legte den Kopf asthmatisch über die rechte Schulter: die Wartezeit schien ihm genügend lange.
»Pierre … lassen Sie den Herrn eintreten!«
Der Diener drückte den Türgriff nieder und verschwand.
Bourdier begab sich an den Schreibtisch. Er rückte den Armsessel noch tiefer in den Schatten der Ecke und schob einen zweiten Stuhl für den Besucher nach vorne in die letzte kalte Helle. Dann nahm er Platz – verborgen im Dunkel der Wand, so daß er, selbst kaum kenntlich, den Gegenübersitzenden scharf fixieren, jede Falte, jeden Muskel seines Gesichts in der prallen Beleuchtung beobachten konnte – und rief, ohne ein zweites Klopfen abzuwarten: »Herein …«
Als Alfred Bell das Laboratorium betrat, vermochte er niemand zu erblicken. Erst auf ein Räuspern des Professors bemerkte er eine Gestalt, die sich hinter dem Schreibtisch bewegte.
»Guten Abend, mein Herr.« Es klang ölig jovial aus der Ecke.
»Herr Professor Bourdier? …«
»Sehr wohl.« Der Professor hob den rechten Arm und ließ ihn gleich wieder herabfallen. »Hier, bitte.«
Der Fremde setzte sich. Das schwindende Tageslicht fiel auf sein kantig geschnittenes, knochiges Gesicht und die glattgescheitelten braunen Haare.
Der Professor warf einen beflissen interessierten Blick auf die Karte, die vor ihm auf der Tischplatte lag.
»Herr Bell, nicht wahr?«
»Ja.« – Der Fremde blickte dem Professor kühl und ruhig in die Augen.
Bourdier fühlte, daß dieser Blick ohne Scheu durch das Dunkel der Ecke bis zu ihm drang.
»Erfreut«, murmelte er. Und dann laut: »Womit kann ich Ihnen dienen?«
Er tippte gleichgültig die Fingerspitzen aneinander, ließ aber bald erstaunt und gespannt die Hände sinken, als der Fremde folgendermaßen begann:
»Ihr Name und Ihre Stellung, Herr Professor, sind mir bekannt. Ich weiß, daß Ihre Zeit nicht jedermann zur Verfügung steht. Aber – Sie werden mich anhören!«
»Mhmm …!« Der Professor rückte auf seinem Platz und gab keine Antwort.
»Ja«, fuhr der Fremde, der Bell hieß, fort. »Sie müssen mich anhören. Nicht meinetwegen, sondern um dessentwillen, was ich zu sagen habe.«
»Ich bin begierig …«
Der Fremde beugte sich kräftig zurück, wie jemand, der gesonnen ist, sich nicht unterbrechen zu lassen. Er machte eine Pause, als überlegte er noch einmal blitzschnell seine Worte.
Der Professor betrachtete ihn unter zusammengezogenen Augenlidern, ohne an diesen energischen, glatten Zügen irgendein Merkmal, ein bezeichnendes oder verräterisches Kennzeichen entdecken zu können. Der Mann, der vor ihm saß, den hageren Oberkörper mit den kantigen Schultern zurückgebogen, gab sich nicht auf den ersten Blick, das war klar.
Ein merkwürdig sicherer junger Mann. Wie? – Nun, man würde ja sehen.
»Es handelt sich um eine Erfindung«, sagte Bell laut und unvermittelt. »Eine Erfindung, die ohne Zweifel das Leben des einzelnen beeinflussen wird und die ganze zivilisierte Welt zu verändern vermag.«
Der Professor faltete die Hände wie ein erstauntes, neugieriges Kind. Aber in seinen Augen glomm ein Licht auf, das sofort wieder verschwand.
»Mein Gott«, sagte er liebenswürdig lächelnd, »wie sollte dies geschehen – wenn man fragen darf?«
Der andere sah geradeaus. »Durch Schaffung einer neuen sozialen Basis!«, sagte er. »Die Verteilung der Werte, wie sie heute besteht, ist ungesund und rechtlos. Die grenzenlose Stapelung der Kapitalien auf der einen Seite und die mit dem Mangel der primitivsten Entwicklungsmöglichkeiten verbundene Wehrlosigkeit auf der anderen Seite – diese andauernde Verstärkung der wirtschaftlichen Kontraste bis zur hoffnungslosen Erhitzung muß in absehbarer Zeit zu einer Explosion führen. Zu einer Explosion, die in ihrem elementaren Ausbruch, ihrem Umfang und ihren Wirkungen gleich fürchterlich sein kann.«
Der Professor lehnte die Brust an den Tisch.
»Kapitalismus und Proletariat, hm ja … ich verstehe. Sie sprechen von einem alten Problem, mein Herr, das ungezählte Male so heftig und stets so erfolglos diskutiert wurde, daß man nachgerade an seinem Vorhandensein zweifeln könnte. Beiläufig bemerkt, die Katastrophe, die Sie zu prophezeien belieben, scheint mir zumindest der Aktualität zu entbehren.«
Bell hob den Kopf; er saß jetzt vollkommen gerade. »Sie war nie so aktuell wie heute!«, stieß er halblaut hervor. »Wenn zwei konträre Pole sich berühren, entsteht ein Funke. Das können Sie nicht leugnen, Herr Professor … Sie sind Physiker«, fügte er mit einem Lächeln hinzu.
Bourdier erwiderte dieses Lächeln, ohne zu wissen warum.
Er empfand auf einmal eine ihm selbst unerklärliche Nervosität. Er wußte nicht recht, wie er sich diesem unbekannten Besucher gegenüber verhalten sollte.
Von ferne erdröhnte ein prasselndes Rollen, schnell anschwellend. Dann wurde es wieder schwächer und verlor sich in den Mauern. Ein Hochbahnzug war vorbeigerast.
Der