Die Welt ohne Hunger. Alfred Bratt
und Fugen des stöhnenden Schachtes tönte der Gang der Maschine.
Ja – das war der Gesang von Metall, dem er so oft gelauscht hatte … als er später als Schiffsjunge auf einem Frachtboot fuhr. Es war ein schmieriger Kahn gewesen, auf den er damals geraten war.
Vergeblich versuchte Bell sich dies Boot, auf dem er seinen ersten Schiffsdienst getan, in seinen Einzelheiten zu vergegenwärtigen. Der große Frachtdampfer, auf dem er bald darauf Dienst genommen und der die Chemikalien von Deutschland nach England beförderte, schob sich gewaltsam dazwischen.
Hamburg–Edinburg! Edinburg–Hamburg! Wie die Zeit vergangen war! Wie der Tag, an dem er seine letzte Schiffslöhnung einsteckte, weit zurück lag! Wie die rote Glut, die aus den Fronten der Edinburger Fabrikblocks schlug, ihn damals gelockt und gerufen hatte! Ja, er war allein gewesen, weiß Gott! Aber er hatte die Zähne zusammengebissen und war seinem inneren Drang gefolgt! …
Bell wandte sich von dem Maschinenhaus ab und ging wieder über das rollende Deck. Er sah nicht mehr die Mastlichter der »Lady Grace«, wußte nichts vom Heulen des Windes. Nach innen gekehrt, die Hände auf dem Rücken, durchwanderte er weiter die Vergangenheit.
Dann war die Anstellung in der Raffinerie zu London gekommen. Die Zeit, da er von jäh erwachtem Wissensdurst getrieben zum erstenmal erfuhr, daß es mit der bloßen Körperkraft ohne Kenntnisse kein Vorwärtskommen gab in dieser Welt.
Schwer, aber schön war es gewesen … tagsüber im Fabriksaal, am Abend das Studium der geliebten Bücher, bis ihn der Schlaf übermannte. Und dann war aus dem Wirrwarr all der Wissensgebiete, mit denen er sich, jede Feiertagsstunde nutzend, herumschlug, die Chemie als sein ureigenstes Gebiet herausgetreten. Bis ihn der leitende Chemiker der Fabrik eines Tages »entdeckte«.
Bell lächelte.
Entdeckt! Bis der Entdecker merkte, daß er ihm über den Kopf wuchs. Bis sie schließlich dahinter kamen, daß er über Wege nachsann, die ihre ganze geldbringende Fleisch- und Gemüsekonservierung gefährden konnten. Bis sie ihm, aus Furcht vor drohender Konkurrenz, lieber zwei kontraktlich ausstehende Jahresgehälter bezahlten und ihm rieten, die Chemie an den Nagel zu hängen.
Bell fuhr mit der Hand über seine Brusttasche. Einige hundert Schilling! Das war der Rest. Dann aber …
Eine breite Sturzwelle schlug über Bord; ihre Schaumketten klirrten an die Oberlichtfenster des Schiffssalons.
Bell ließ die Reeling los und lavierte zum Mitteldeck.
Er beugte sich über die Kajütentreppe und wollte hinabsteigen, als ein zuckender Lichtstreif über die Stufen zu ihm emporlief. Unwillkürlich trat er einen Schritt zur Seite; in der Helle, die aus dem sich erweiternden Spalt drang und gelbe Reflexe auf das Holz der Stufen warf, erblickte er eine Hand, die sich mit ruhigem Griff auf das Treppengeländer legte. Es war eine schmale Hand, und sie wuchs weich aus dem Gelenk, mit dünngliedrigen Fingern von einem außerordentlich zarten, fast durchscheinenden Weiß … die Hand einer Frau. Und gleich darauf tauchte unter dieser Hand ein Kopf empor, blond, schlank und aufrecht … Bell trat in das Dunkel neben der Treppenmündung und ließ die junge Dame vorbei. Sie trug einen Reisemantel, der sich eng um den Rücken legte. Es war ihm unmöglich, das Gesicht zu erkennen. Er sah nur ihre Schultern, die rund schienen von Jugend und Wärme. Das Licht aus dem Salon, das hinter die zufallende Türe zurückglitt, glänzte mit einem letzten Schimmer auf den Absätzen ihrer kleinen Stiefel. Bell sah ihr nach – wie sie auf dem Holzboden stehen blieb vor den ersten Stößen des Windes … Atem holend und mit den Füßen Halt suchend … und wie sie dann den Kopf aufwarf und tapfer weiterging, voran in die stürmende Seeluft. Er bemerkte, während sie im Nebel sacht seinem Blick entglitt, ihren Gang mit dem leichten Wiegen der Hüften; es schien viel Frische und Kraft in dieser Bewegung, und eine stumme Zärtlichkeit. Und als die Nebelwand sich hinter ihr zusammenschloß, undurchdringlich wie zuvor, da war es ihm, als hätte sie – mit einem kurzen Neigen des Kopfes – sich umgewandt.
Bell stellte sich mit dem Rücken gegen die Windrichtung und steckte seine Pfeife in Brand. Dann fuhr er mit den Händen tief in die Taschen seines Gummirocks und schritt breit und vorsichtig über die rollenden Planken.
Die einsame Mädchengestalt lehnte gegen den zweiten Mast, auf dem Hinterdeck. Bell erspähte sie wie einen etwas helleren Streifen in der Finsternis. Er ging weiter, kehrte um und blieb dann ohne Gedanken vor ihr stehen. Sie bewegte sich nicht und sah auch nicht zur Seite. Er zog in kleinen Rucken den Rauch aus der Pfeife; das Aufglühen des Tabaks entblößte sekundenlang ihr Profil in einem roten Leuchten.
Bell spürte, wie die Wärme des Rauches in seinem Mund zerging. Sein Blick war nicht mehr starr wie vorhin, als er dem Sturm ins Antlitz sah. Eine merkwürdig glättende Milde stieg in ihm auf und verbreitete sich in seinem ganzen Körper. Er hatte die Empfindung eines, der nach starker physischer Anspannung aufatmet. Er grübelte nicht mehr; es hatte plötzlich den Anschein – so meinte er –, als sei alles in ihm ganz ordentlich und richtig und an seinem Platz.
Man steht, sozusagen, ganz einfach auf dem Meere und hält seine Pfeife in Brand.
Sehr natürlich.
Er spreizte alle zehn Finger in den Taschen und rauchte mit Bewußtsein. –
Die »Lady Grace« bäumte sich und schwankte heftig. Das aus der Tiefe bullernde Geräusch der Maschine wurde schwächer. Der Sturm heulte auf und verhallte in mehrfachem Echo. Vom Vorderdeck schrillten abgerissene Töne des Läutewerks. Im bleichen Flimmer des Scheinwerfers wuchsen Felsen aus dem Wasser, schwarz, triefend und gezackt. Hinter ihnen kleine, helle Punkte. Das waren die Leuchtfeuer der Hafeneinfahrt. Ermattete Wellen strichen den knarrenden Eisenrumpf entlang. Die salzige Luft wurde wärmer, es roch nach Tank und Teer.
Wieder fiel ein Lichtband von der Salontreppe über Deck, unruhig gefleckt von beweglichen Schatten. Die Fahrgäste drängten herauf.
Bell nahm die Pfeife aus dem Mund und klopfte sie am Handrücken aus.
»Wir sind angekommen«, sagte er laut und freundlich.
»Ja«, erwiderte die Gestalt vor ihm – »das ist Dover.«
Er hörte ihre Stimme zum erstenmal; und fast wunderte er sich darüber …
Ein heftiger Stoß ging über den Rücken der »Lady Grace«. Die Maschine stand still. Das Schiff neigte sich seitwärts und trieb dann schaukelnd an die Mole.
Drittes Kapitel
Der breite Abfahrtsperron de D. L. E. (Dover-London-Expreß) war von hunderten gestikulierender, hastender, in allen Sprachen durcheinanderrufender Menschen besetzt. Die niederen, dreirädrigen Gepäckloren ratterten vom Registriersaal über den betonierten Damm zu den beiden unendlich langen Postwagen, die am Kopf des Zuges hinter die Maschine gekuppelt waren. Die Linie Dover–London war, wie London–Folkstone, London–Harwich und die anderen Kontinentallinien, seit fast zwei Jahren nach dem Schnellverkehrssystem des deutschen Ingenieurs Daniel Forster eingerichtet. Die Forster-Züge waren einschienig. Der ganze Zug war grau wie ein Gigantenmaulwurf, die Untergestelle, Achsen und Räder aus Stahl, alles übrige aus Aluminium. Die Reflektoren, die das Licht von der Bahnhofsdecke herabschleuderten und die Signalaugen der Maschine abblendeten, gossen wellige Strahlenschnüre über die flachen Dächer der Cars. Der Führungswagen empfing seine letzte Ladung Elektrizität aus den Akkumulatoren, es surrte in den Kautschukisolatoren der Kabel, den ganzen Zug entlang surrte der elektrische Strom, die Gleichgewichtskreisel zwischen den Tragachsen der Wagen feilten denselben feinen, rastlosen Ton. Die große Hauptuhr zeigte 11:24 – um 11:25 mußte der Zug ausfahren.
Bell kam als einer der letzten durch die Sperre. Er überblickte unschlüssig die Knäuel der Einsteigenden und sprang erst im letzten Augenblick auf den nächsten Wagentritt. Die Kupplungen ächzten knirschend unter der plötzlichen Anspannung, das Feilen der Kreisel setzte lauter