Die Welt ohne Hunger. Alfred Bratt

Die Welt ohne Hunger - Alfred Bratt


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bekehren. Nichts liegt weniger in meiner Absicht!«

      Bell gab keine Antwort.

      Bourdier sträubte sich, als hätte er Federn am Leibe: »Aber verdammt noch einmal, kommen Sie dann nicht und besetzen meine kostbare Zeit – mit Ihren Narreteien! Sie – glorioser junger Mann, Sie!«

      Bell streckte den Arm nach der Türe aus: »Ich sagte Ihnen schon, daß ich bedauere.«

      »Mein Herr«, schrie Bourdier, »meinetwegen können Sie sich zum Kuckuck …«

      Er schluckte heftig, mit hüpfendem Halsknorpel. »Und überhaupt – das lassen Sie sich gesagt sein – was denken Sie sich denn eigentlich?! Bilden Sie sich etwa ein, Sie brauchten nur mit den Fingern zu knipsen, um ein neues Paradies erstehen zu lassen? … Ho! Sie glauben an die Massen! … Seit Adam ist der Gang der Welt von einzelnen bestimmt worden. Stets waren es einzelne, die den Massen den Fortschritt aufzwingen mußten. Aufzwingen, hören Sie? … Glauben Sie – glauben Sie meinetwegen an den Teufel! … Und Sie wollen Ideale haben? Ja, sind Sie denn verblendet genug, um nicht zu sehen, daß Sie gerade diejenigen ins Verderben reißen, denen Sie helfen wollen! … Knechten Sie die Masse tausendmal härter – und Sie haben die Revolution! … Sie wollen das größte Verbrechen begehen, das Verbrechen der Schwäche. Sie – Demoralisationsfanatiker!«

      Und, während Bell wortlos die Tür aufklinkte: »Denken Sie an mich: die Massen, für die Ihr Werk bestimmt ist, werden die ersten sein, die es vernichten!«

      Die Türe ging auf … so geisterhaft geräuschlos, als sei sie nur angelehnt gewesen. In dem breiten Rahmen wurde ein Kopf sichtbar, der sich wie ertappt zurückzog. Es war der Laboratoriumsdiener Pierre.

      Bourdier erblickte ihn, raffte sich zusammen, schloß plötzlich ganz fest den Mund, klappte ihn dann wieder auf – und sagte mit gepreßter Stimme, langsam und halb gegen die offen gebliebene Türe gedreht: »Mein Herr – es hat mich gefreut.«

      Bell verbeugte sich korrekt: »Ganz meinerseits – Herr Professor!«

      Dann ging er gerade und sicher an Pierre vorbei, den langen Gang hinab. Er stieg in den Lift, drückte, ohne sich dessen bewußt zu sein, auf den Hebel und schloß während der Fahrt die Augen in dem Gefühl eines lähmenden Halbschlafs. Gleichgültig schritt er durch die kalte Marmorhalle, trat auf die Straße und erwachte erst wieder, als die rotierenden Reklameaugen des gegenüberliegenden Warenhauses grell gegen ihn stießen. –

      In der siebenten Etage des Sorbonnepalastes stand Pierre noch immer neben der Türe, die wieder zugefallen war.

      Es zuckte seltsam in seinem häßlichen Gesicht.

      Ein Klingelzeichen!

      Der Diener drückte lautlos das Schloß auf und schlüpfte in das Laboratorium.

      Der Saal war jetzt hell erleuchtet. Professor Bourdier hatte den weißen Kittel ausgezogen und schleuderte ihn zornig von sich.

      »Räumen Sie den Tisch ab!«, befahl er barsch.

      Ein Klirren … und dann ein Sturz. Auf dem Parkett lag ein Haufen von Metall- und Glassplittern.

      Bourdier fluchte.

      Pierre richtete sich auf: »Ich bitte um meine Entlassung!«, sagte er heiser.

      Bourdier vergaß seinen Zorn vor Verblüffung.

      »Sind Sie verrückt geworden?«

      Aber der Diener war schon zur Türe hinaus.

      Zweites Kapitel

      Das Kanalboot »Lady Grace« dampfte mit achtundzwanzig Knoten Geschwindigkeit.

      Vor dem scharf schneidenden Zug sprang das Wasser in rasenden Schaumwirbeln hoch, die sprudelnd abglitten und zu beiden Seiten siedend die eilende Fahrtrichtung zurückflossen. Der Sturmton johlte um die Antennen des drahtlosen Telegraphen; er fuhr wütend in die schwarze Höhlung des Schlotes, aus der ihm dickquellender Rauch entgegendrang; er platzte mit krachendem Hall an der glatten Holzwehr der Kommandobrücke; er jagte sprühend, durchnäßte Tauenden vor sich herfegend, über Deck. Er sauste rüttelnd um die luftdicht verschlossenen Luken der Bordwände; er knatterte am Heck, während er ohnmächtig das Fahrzeug voranfliehen ließ, eine Sekunde hoch über dem Gischtschweiß der Schrauben und stürzte dann breit auf die Wellen, die sich hochtürmten und mit ihm versanken.

      Der Himmel war zerrissen. Ein kupferfarbener Mond beleuchtete düstere Wolken.

      Das rote Wachtlicht auf Backbord irrte wie ein erblindeter Funke durch den Nebel.

      In zweidrittel Höhe des Vordermastes glaste ein Scheinwerfer im Halbkreis über die Flut, die mit dunkelgrün brausenden Kämmen gegen das Schiff rannte. Der schmale, für schnellstes Tempo gebaute Rumpf rollte schwer; bald schien er nach Steuerbord, bald nach Backbord zu kentern, richtete sich jedoch stets wieder elastisch auf unter dem treibenden Druck der Maschinenkraft.

      Das Vorderdeck war durch Seile abgesperrt. Die unaufhörlich über die Planken jachternden Wogen machten den Aufenthalt hier zur Unmöglichkeit. Von der Navigationskammer hinter dem Offizierssteg klangen in kurzen Abständen die Glockensignale durch den langgezogenen Brustton der Sirene.

      Die Passagiere, die den Blitzzug Paris–Calais erst vor zehn Minuten verlassen hatten, saßen und lehnten mit schützend zum Festhalten ausgebreiteten Armen im Schiffssalon. Sie stießen an die Wände, an die Tische und Ecksofas und folgten mechanisch jeder Bewegung des schwankenden Bodens. Die an die Decke geschraubten Elektrizitätskörper zitterten unter der Erschütterung über bleiche Gesichter.

      Zehn Minuten Fahrt! Und noch doppelt so lange würde es dauern, bis Dover erreicht war.

      Noch zwanzig Minuten …

      Die Luft war angefüllt von der verdunstenden Nässe der Tücher und Mäntel, vom Ledergeruch der Reisetaschen, von muffigen Sammetbezügen, Möbelholz und Dumpfigkeit.

      Auch der rückwärtige Teil des Decks war leer. Niemand wagte sich auf die abschüssige, glitterige Fläche.

      Zwischen der Reeling und der das Deck überragenden Außenfront des Salons – in dem schmalen Gang, den der Wind pfeifend durchfuhr – stand ein Mann. Er hielt sich mit beiden Händen an der obersten Stange der Barriere fest. Der Luftzug zerrte an seinem Schal und fegte sein Haar unter der Mütze hervor. Eiseskälte sprühte ihm ins Gesicht und blieb wie spitze Splitter in der Haut stecken.

      Er hatte die Arme hart gegen die Reeling gestemmt und starrte in die Brandung, die das Schiff hochwarf und dann wieder einen gurgelnden Abgrund aufriß, um es in die Tiefe zu schlingen.

      Bell stand da, vom Sturm umtost, und träumte.

      Er sah sich daheim – als Zwölfjähriger – auf dem steinernen Hafenwall, gegen den auch solche grün spritzende Wellen angesprungen waren. Er sah sich im Gewirr der Hafengäßchen, im rußgeschwärzten Hof der Lötwerkstätte. Er hörte den Meister fluchen, und die Erinnerung an Schläge würgte ihn wie ein harter Griff.

      Seine Mutter war jung gestorben. Er hatte sie kaum gekannt.

      Schritte tappten vorbei. Die von Schweiß und Kohle gefleckte Gestalt eines Schiffsheizers, der heraufgekommen war, um eine Minute Luft zu schöpfen.

      Bell blickte ihm sinnend nach. So hatte auch sein Vater ausgesehen, wenn er von seinen monatelangen Seefahrten heimkehrte. Bis er bei den Orkney-Inseln den Seemannstod fand und ihn als Waise zurückließ.

      Immer schwerer legte sich dichter Nachtnebel auf den Kanal. Bell träumte weiter. Von nebelerfüllten Straßen der Küstenstadt, in der er seine Kindheit verbracht hatte.

      Er schlug den Kragen seines Gummimantels hoch und schritt den schwankenden Gang längs des Schiffssalons hinab. Aus dem Maschinenhaus drang ein Dröhnen herauf. Bell kehrte sich gegen den Wind und blickte durch die angehauchte Scheibe. Im Kesselraum, in dem die Luft vor Hitze sichtbar zu stehen schien, schwangen fetttriefende Kolben um rotierende Achsen. Die Pression steigerte die Energien bis an die Grenze gewaltsamer


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