Subliminal. Thorsten Oliver Rehm

Subliminal - Thorsten Oliver Rehm


Скачать книгу
Kamikazemission waren die Kerle plötzlich auf sie und Jennifer zugeschwommen und hatten sie fast »über den Haufen getaucht«, mit einer Geschwindigkeit, als wären sie entweder hinter einem Feind her oder auf der Flucht vor ihm. So etwas hatte Natascha in hunderten von Tauchgängen nicht erlebt. Ohne Worte! Als wären sie und Jennifer Luft und gar nicht zu sehen gewesen. Die Situation hatte etwas völlig Unwirkliches und stand dazu noch im krassen Gegensatz zur friedlich-surrealen Stimmung, in der sich die Freundinnen kurz zuvor noch befunden hatten.

      Wie im falschen Film. Würde sie diese Typen, deren komplett schwarze Neoprenanzüge das Bild des Kampftauchers unterstrichen, nicht hier und jetzt mit eigenen Augen sehen, wie sie sich friedlich, als wäre nichts gewesen, aus ihrer Ausrüstung pellten, sie würde glauben, sie hätte geträumt und sich die Sache unter Wasser nur eingebildet.

      Sie spürte, wie ihre Wut verflog, vielmehr breitete sich plötzlich Erstaunen aus. Was sie nun irritierte, war die Tatsache, dass die drei Männer anscheinend keinen blassen Schimmer hatten, warum und über wen sie sich gerade so aufregte. Denn die drei schauten genauso verdutzt wie die anderen, deren Aufmerksamkeit sie mit ihrer Schimpfattacke auf sich gezogen hatte. Hätten die Kamikazetaucher hämisch gegrinst, sich über ihr übertriebenes Aufbrausen mokiert oder sich hinter Machogehabe versteckt, es hätte ins Bild gepasst. Aber so?

      Die drei sahen eigentlich ganz sympathisch aus, als könnten sie keiner Fliege etwas zuleide tun, sie wirkten auf Natascha, als wären sie sich nicht der geringsten Schuld bewusst, ja, als wüssten sie gar nicht, was passiert war. Seltsam. Als wären Jennifer und sie unter Wasser tatsächlich unsichtbar gewesen und als hätten die drei wie Tornados durchs Wasser jagenden Typen sie tatsächlich nicht gesehen… Rücksichtslos bis zum geht nicht mehr, aber ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein? War das möglich?

      Was unter Wasser geschehen war, war nicht nur ärgerlich, es war auch gefährlich. Was, wenn sie und Jennifer keine routinierten Taucher gewesen wären und sich durch die Situation plötzlich erschreckt und bedrängt gefühlt hätten? Was, wenn sie Anfänger wären, die in solch einem Moment die Ruhe und deswegen die Kontrolle verloren hätten? Was, wenn sie dann hastig und tief eingeatmet und dadurch unkontrolliert Auftrieb bekommen hätten und viel zu schnell nach oben geschossen wären? Und was, wenn dabei etwas passiert wäre? Unverantwortlich und egoistisch. Ich – Ich – Ich. Dreimal Ich! Überall war Platz, aber sie und Jennifer waren denen im Weg?

      Doch Jennifer hatte recht. Sich darüber aufzuregen, lohnte nicht. Sie würde sich den Tag nicht dadurch vermiesen lassen. Mit einem mürrischen Kopfschütteln erklärte sie den Wutanfall für beendet.

      Eine Stunde später saß Natascha am großen Tisch auf der Veranda der Tauchbasis. Alle anderen Taucher, die gerade noch dort gesessen hatten, waren zum Mittagessen aufgebrochen. Natascha wollte noch einen Moment die Ruhe genießen, den Vormittag in sich zurückgezogen ausklingen lassen. Sie war gerade dabei, die Daten des Tauchgangs in ihr Logbuch einzutragen, als Jennifer neben sie trat.

      »Und? Was haben die Jungs zu ihrer Verteidigung vorgebracht?«, fragte Natascha. Da ist sie wieder, diese Wut! Was ist nur los mit mir?

      Nur selten wurde Natascha zornig, und wenn, dann über genau diese Art von Verhalten und dann gleich richtig, sodass die Glut noch lange glomm und, sobald dicke Luft drankam, sofort neu entfachte. Sie musste unbedingt daran arbeiten. So konnte sie sich einen ganzen Tag kaputtmachen, und das passierte ihr in letzter Zeit ständig.

      »Nichts. Sie wussten gar nicht, wovon ich spreche.« Jennifer nahm neben Natascha Platz. »Keine Ahnung, was in die gefahren ist. Seltsam, das Ganze. Aber ich habe ihnen deutlich gesagt, dass Frank und ich rücksichtsloses Verhalten unter unseren Gästen nicht dulden.«

      Einmal mehr beneidete Natascha Jennifer um deren Ruhe und Ausgeglichenheit. Wo sie die hernahm, war ihr ein Rätsel, erst recht nach dem, was Jennifer und Frank vor fünf Jahren widerfahren war! Manche Menschen wären daran zerbrochen, andere würden nur noch Groll vor sich herschieben, aber Jennifer – sie steckte das alles weg. Ebenso Frank. Aber vielleicht sah es auch nur so aus. Wer wusste schon, wie es in den beiden tatsächlich aussah. Wer kannte sein Gegenüber wirklich? Dennoch wünschte sich Natascha, sie könnte mit der Enttäuschung, die sie erlebt hatte, nur halb so gut umgehen wie ihre treue Freundin mit den damaligen traumatischen Erlebnissen.

      »Wir sehen uns heute Abend?« Jennifer wechselte das Thema. »Mike kommt übrigens auch.« Sie zwinkerte Natascha zu. »Natürlich auch der Rest unseres Teams.« Sie schmunzelte. »Passt doch prima, dass unser monatlicher Taucherabend mit deinem letzten Urlaubsabend zusammenfällt. Lass uns richtig Spaß haben! Komm, das tut dir gut. Es wird Zeit, dass du loslässt und so langsam wieder die heitere, starke und selbstbewusste Natascha wirst, die du eigentlich bist. Nicht warst, sondern bist! Vergiss den Kerl doch endlich und fang neu an! Nicht von Null auf Hundert, das verlangt doch keiner, und das solltest du auch nicht von dir verlangen. Aber setz dich in Bewegung und bieg zumindest wieder auf die Straße Richtung etwas Glück ein. Mike könnte dir dabei helfen, er ist echt ein toller Mann. Und dass es zwischen euch gefunkt hat, ist ja wohl nicht zu übersehen.« Wieder zwinkerte Jennifer ihr zu, diesmal noch vergnügter als zuvor.

      »Da war nichts!« Natascha spürte die Röte in sich aufsteigen.

      »Ich weiß. Das ist ja das Problem.« Jennifer lachte. »Ich muss rein. Um acht, okay?« Sie ließ das unbequeme Thema einfach in der Luft hängen und Natascha mit ihrer Verlegenheit allein am Tisch zurück.

      Natascha blickte ihrer Freundin nach. Jennifers Haar reichte ihr inzwischen bis zur Hüfte und war, seit sie auf Mallorca lebte, noch blonder als zuvor. Sie beide waren wirklich so was von unterschiedlich – sowohl optisch als auch vom Wesen her. Eigentlich genaue Gegensätze, und das schon immer, und doch von Beginn an so verbunden, einander so nah. Auch was die Wahl ihrer Männer anging, hätte es sie unterschiedlicher nicht treffen können. Während Jennifer mit Frank einen Fang gemacht hatte, von dem die meisten Frauen träumten – zuverlässig, klug, gebildet, idealistisch, empathisch, charakterstark und dazu noch gutaussehend –, hatte sie nur die herbe Enttäuschung eines sie nach Strich und Faden hintergehenden Taugenichts erfahren müssen. Wie hatte sie damals nur auf ihn hereinfallen können? Der größte Fehler, den sie in ihren dreiundvierzig Lebensjahren zustande gebracht hatte. Und geendet hatte es in einem Fiasko, das sie völlig aus der Bahn geworfen hatte. Einzig ihre gemeinsame Tochter ließ sie rückblickend Sinn in diesen verlorenen Jahren erkennen, ohne den Mistkerl würde es Lea nicht geben, sie war das Beste, das ihr in ihrem ganzen Leben passiert war.

      Dieser Mehrklang in der Bewertung ihrer gescheiterten Beziehung war manchmal schwer auszuhalten. Ja, ihre Tochter war ein Geschenk des Himmels! Leider aber war ihr Ex-Mann in diesen himmlischen Plan eingebunden. Warum gerade er, das war die Frage, auf die sie wohl in diesem Leben keine Antwort bekommen würde. Und dass sie es sich vorgenommen hatte, ihre Tochter da nicht mit hineinzuziehen und ihm den Kontakt zu ihr daher regelmäßig ermöglichte, machte es nicht einfacher. Sobald sie ihn aber sah oder hörte, kam alles wieder in ihr hoch, es war dann immer, als fange sie mit der Bewältigung des Ganzen wieder ganz von vorne an. Ein Dilemma, aus dem sie noch keinen Ausweg gefunden hatte.

      Lea, ihr Sonnenschein! Wie unbeschreiblich sie ihre Kleine liebte! Sie würde alles für sie tun! Ein Lächeln umspielte Nataschas Lippen als sie nun daran dachte, wie stolz Lea heute Morgen gewesen war, als sie zum ersten Mal in der Kinderbetreuung des Hotels bleiben durfte, damit Mama tauchen gehen konnte! Und wie sehr hatte Natascha mit sich gerungen, ob sie ihre Tochter wirklich für ein paar Stunden dort anmelden sollte. Aber als Lea so glücklich über die ihr zugetraute Selbständigkeit war, da war jede Sorge wie weggeblasen. Und dass Jennifer extra freigenommen und sie auf ihrem letzten Tauchgang begleitet hatte, war die Krönung gewesen. Als sie nun genauer darüber nachdachte, musste sie Jennifer recht geben: den Tag konnten ihr die drei Kamikaze nicht madigmachen. Sie sollte öfter auf Jennifer hören…

      Das Smartphone riss Natascha aus ihren Gedanken. Lea? Nein, es konnte nicht der Kids-Club sein, es war noch Zeit. Sie schaute aufs Display. Eine E-Mail war hereingeflattert, von Nadine, einer Freundin. Zumindest dachte Natascha bis vor wenigen Wochen, dass sie das waren, Freundinnen. Aber dann…

      Ohne Vorwarnung hatte Nadine plötzlich die Freundschaft gekündigt. Mit einer WhatsApp! Was für


Скачать книгу