Subliminal. Thorsten Oliver Rehm
Hand betrat sie den Außenbereich und steuerte geradewegs auf den großen für den Taucher-
abend reservierten Tisch zu. Das Basis-Team war fast vollzählig, und auch erste Basis-Gäste hatten sich zum Taucherstammtisch eingefunden. Die Anwesenden unterhielten sich angeregt und nahmen zuerst gar keine Notiz von Natascha und Lea. Jennifer aber, die in Blickrichtung zum Eingang saß und sie sofort sah, strahlte vor Freude, dann erhob sie sich rasch und eilte auf sie zu. Nach kurzer Umarmung – so herzlich, als hätten sie sich seit Wochen nicht gesehen – trat Jennifer einen Schritt zurück und grinste Natascha an.
»Wow! Natascha da Silva, du siehst einfach umwerfend aus, um nicht zu sagen scharf.« Jennifer setzte den übertrieben feurig-scharfen Blick eines Vamps auf und formte mit ihren Lippen eine leicht laszive Geste.
Natascha musste lachen, sie konnte nicht anders. Jennifer stimmte mit ein. Unbefangenes Rumblödeln, lange war es her…
»Du, lass mal…« Natascha lächelte unsicher und stupste Jennifer am Oberarm. Ihr war die Situation irgendwie auch unangenehm. Erst vorhin ihre Tochter, die sie, als sie sich im Hotelzimmerspiegel einem abschließenden Kontrollblick unterworfen hatte, mit ihren kaffeebraunen Kulleraugen angestarrt und dann, nach Sekunden der Stille, mit ihren gerade mal fünf Jahren gesagt hatte: »Mami, du siehst aber toll aus!« Das war so goldig gewesen und Natascha gerührt, aber es war ihr auch etwas peinlich, und wenn nicht peinlich, dann zumindest fremd. Dazu verstärkte sich das schlechte Gewissen, das schon bei der Entscheidung, am Abend auszugehen, von ihr Besitz ergriffen hatte. Normalerweise brachte sie Lea abends um acht ins Bett. Jetzt ging sie mit ihr gerade erst aus. Aber blieben die Kinder im Süden nicht alle länger auf?! Und im Urlaub, da war das doch normal! Und es gefiel den Kindern und gefiel den Eltern! Außerdem hatten Jennifer und Frank auch kein Problem, ihren dreijährigen Sohn Eric abends hin und wieder mal länger aufbleiben zu lassen. Wahrscheinlich dachte sie einfach nicht südländisch genug, trotz ihrer portugiesischen Wurzeln. Also verwies sie den imaginär erhobenen Zeigefinger in seine Schranken. Aber dass Lea ihr Outfit kommentiert hatte, hatte schon ein komisches Gefühl hinterlassen. Es war schön, aber zugleich irritierend. Und nun Jennifer.
Warum musste ich mich auch unbedingt so in Schale werfen?!
»Da kriecht wohl langsam jemand aus seinem Schneckenhaus, was?« Nur Jennifers Blick neckte noch ein wenig weiter, aber es war ein liebevolles Necken.
»Darf ich nicht mal was anderes als meinen Neoprenanzug tragen?« Jetzt war es Natascha, die verschmitzt grinste. »Hat nicht das Geringste mit Mike zu tun.« Sie schüttelte gespielt entrüstet den Kopf. Stilvoll und nicht billig, sexy aber nicht verrucht, das war schon früher ihr Garderobenmotto beim Ausgehen gewesen, Mike hin oder her. Sicher war er nicht ganz unschuldig daran, dass sie sich nach langer Zeit der Abstinenz vom Sich-in-Schale-werfen endlich mal wieder so richtig schick gemacht hatte. Und sie nahm sich nun heraus, einen Moment lang selbst zufrieden mit dem Ergebnis zu sein. Warum auch nicht? Es tat ihr gut. Ihr halblanges Sommerkleid wartete mit schlichter Eleganz und einem Schnitt auf, der ihre schlanken, aber dennoch femininen Kurven zur Geltung brachte und nicht zu viel und nicht zu wenig preisgab. Die hochhackigen Sandaletten verschafften ihren langen, braungebrannten Beinen zusätzlich Kontur und passten farblich perfekt zu dem azurblauen Kleid. So zumindest hatte sie im Hotel ihr Spiegelbild wahrgenommen, in einem vor Selbstvertrauen strotzenden Moment, und war überrascht gewesen, wie gut es sich anfühlte. Sie war dezent, nicht aufgedonnert, aber doch einen Hauch stärker als gewöhnlich geschminkt. Und um die Sache abzurunden, hatte sie sich heute entschieden, ihre vollen braunen Locken nicht wie sonst mit einem Haargummi zum Pferdeschwanz zu binden. Die dunkle Haarpracht fiel locker über ihre Schultern, nur ein paar widerspenstige lockige Strähnen hatte sie mit Festiger gezügelt – was, wie sie schon auf dem Weg zum Restaurant festgestellt hatte, nicht gut klappte. Sich nicht für ihren Pferdeschwanz-Look entschieden zu haben, den sie fast immer trug, war vielleicht doch falsch gewesen. Sie mochte es nicht, sich ständig Haarsträhnen aus dem Gesicht schieben zu müssen, außerdem konnte es von einem männlichen Gegenüber falsch gedeutet werden – zumindest, wenn man dem Artikel zum Thema Flirten glaubte, den ihre Kollegin Vivian kürzlich veröffentlicht hatte. Gut, dass sie selbst bei der ehrgeizigen und niemals schlafenden online Nachrichten-Plattform Blueball News über wichtigere Themen als so etwas schrieb! Ob es tatsächlich einladend wirken würde? Bestimmt totaler Schwachsinn! Wobei… Wenn da etwas dran war, käme ihr das heute vielleicht ganz gelegen… Sie musste unwillkürlich schmunzeln. Fünf Jahre allein – eine extrem lange Zeit, sie war aus der Übung in diesen Dingen. Sie hatte nicht die Zeit gehabt, oder vielleicht einfach nicht den Mut für eine neue Partnerschaft. Viel einfacher war es gewesen, sich einzuigeln…
Wusste sie eigentlich selbst, was sie wollte? Ob sie überhaupt wieder irgendeinen Mann in ihr Leben lassen wollte? Sie hatte schon genug Probleme… Und wenn ja, dann einen wie Mike? Ein Mann, der ein ganz anderes Leben führte als sie selbst? Wahrscheinlich machte gerade das ihn so unwiderstehlich. Aussteigerleben hin oder her, er schien ein warmherziger, ehrlicher und gutmütiger Mensch zu sein. Der Ansicht war auch Jennifer, und die kannte sich aus mit Menschen.
»Schalt einfach mal deinen Kopf für eine Weile aus und komm!« Jennifer schien just in diesem Moment genau dort hineingespickt zu haben: in ihren Kopf. Und sie hatte recht – wie so oft. Total verkopft! Sie musste lockerer werden und die Dinge laufen lassen. Und sie brauchte unbedingt ihr einstiges Selbstvertrauen zurück, und zwar dringend!
Nichtsdestotrotz – hätte Natascha gewusst, dass nur gut die Hälfte der Taucherstammtischler schick erscheinen und die anderen lässig-leger in ihren Taucher-Shirts und Shorts dasitzen würden, sie hätte sich nicht so aufgedonnert. Aber die Mischung der Gäste war immer bunt, und jeder war willkommen, wie er eben kam, schick oder leger gekleidet – ganz egal. Das jedenfalls hatte Jennifer ihr gesagt, und Natascha hatte sich darauf verlassen. Und heute hatte sie Lust auf schick, und vielleicht auch Lust auf mehr, sie würde sehen. Nur nichts überstürzen. Oder doch?
Jennifer bot ihr einen freien Platz an. Und der schien nicht zufällig gewählt – lag er doch in verdächtiger Nähe zu Mike …
Der Abend verlief erwartungsgemäß gesellig, fröhlich, unbeschwert. Während und nach dem opulenten Essen wurde geplaudert, was das Zeug hielt, und je später es wurde, desto wohler fühlte sich Natascha. Die Zahl der Gäste nahm stetig ab, doch je weniger Leute am Tisch saßen, desto persönlicher und tiefgründiger wurden die Gespräche. Ganz nach Nataschas Gusto, oberflächliches Geplänkel war nicht ihr Ding. Smalltalk ja, aber früher oder später sollte man sich auch angeregt austauschen können. So war es jetzt und hier, perfekt! Die kleine illustre Runde war am großen Tisch enger zusammengerückt und bestand mittlerweile nur noch aus ihr, Jennifer, Frank und Ralf – Franks rechter Hand in der Tauchbasis –, Mike sowie Marina, einer jungen Tauchbasismitarbeiterin. Nun rutschte man von einem Thema zum nächsten, während die Kinder unbeschwert um sie her spielten. Doch die Zeit drängte – allzu spät wollte Natascha Lea nicht ins Bett bringen, und Jennifer und Frank sahen das für ihren Eric genauso. Jennifer schlug vor, die gesellige Runde bei ihnen zu Hause noch fortzuführen, die beiden Kinder in Erics Zimmer schlafenzulegen und Nataschas letzten Abend vor dem Heimflug noch auszukosten, so lange es ging.
Gesagt, getan. Eine Stunde später saßen die sechs Erwachsenen bei Kerzenlicht und leiser Chill-out-Musik im Hintergrund auf Stebes Terrasse. Pinienduft schwebte in der sommerlichen Luft, eine leichte Brise wehte. Offensichtlich rieben unzählige Grillen ihre Beinchen aneinander, um mit dem Balzgeräusch die Weibchen zu beeindrucken, und sorgten gleichzeitig dafür, dass sich Menschen, die um diese Zeit draußen verweilten, der Natur noch verbundener fühlten und noch besser zur Ruhe kamen, als es in dieser Idylle ohnehin geschah. Zumindest ging es Natascha so. Ab und zu huschte ein Gecko im Lichtkegel der Lampen die terrakottafarbenen Wände des Hauses entlang. Die Welt war in diesem Moment in Ordnung – sogar für Natascha. So friedlich wie der tiefe Schlaf, in den die beiden Kinder inzwischen gefallen waren.
»Warum bist du eigentlich weg aus Deutschland?« Das wollte Natascha Mike schon die ganze Zeit fragen, und nun traute sie sich endlich. »So mitten im Leben, meine ich. Seit fünf Jahren bist du als Tauchlehrer unterwegs, hast du mal gesagt. Aber es muss ja ein Leben davor gegeben haben, oder nicht? Jemand in Marinas Alter, so direkt vor oder kurz nach dem Studium, der mal ein paar Monate aussteigt – okay.