Subliminal. Thorsten Oliver Rehm

Subliminal - Thorsten Oliver Rehm


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maßte sich kein Urteil an über die journalistischen Ansprüche anderer. Hatte sie nie getan. Das war ihr Grundsatz. Rede nicht schlecht über die Konkurrenz, sieh einfach nur zu, dass du deinen Job so machst, dass man gut über deine Arbeit spricht – was im Erfolgsfall vielleicht sogar bedeutet, dass die Konkurrenz schlecht über deine Arbeit redet, weil Erfolg nun einmal geneidet wird. Außerdem waren Geschmäcker verschieden. Das Ressort, das sie leitete, war sicher auch nicht jedermanns Sache. Außerdem konnte man von den Kollegen anderer Medien manchmal auch etwas lernen, es gab so viele gute Reporter.

      Beim Gedanken an die redaktionelle Arroganz ihres Chefs griff sie mit besonderer Genugtuung nach dem Blatt. Doch das gute Gefühl währte nur kurz – ihr stockte der Atem.

      Die Schlagzeile: Ein Tritt gegen das Herz… vielmehr ein Stich mitten hinein!

      In einer Berliner Schule hatte ein vierzehnjähriger Schüler so lange auf einen Mitschüler eingeprügelt, bis dieser noch an Ort und Stelle verstarb. Natascha musste schlucken, als sie den Bericht las, seiner Grausamkeit wegen und auch weil es wie ein Déjà-vu war. In den Medien war immer wieder über ähnliche Fälle berichtet worden, und Natascha hatte sich gefragt, ob sich solche Fälle in letzter Zeit nicht häuften und an Brutalität zunahmen. Auch gestern war in der abendlichen Runde ein solches Beispiel aufgekommen, die Schlägerei in einer U-Bahn, brutal und der heutigen Meldung sehr ähnlich. Sie waren auf dieses schlimme Ereignis gekommen, als sie über die zunehmende Verrohung der Gesellschaft gesprochen hatten und beim Thema der zunehmenden Gewaltbereitschaft gelandet waren. Frank und Mike sagten beide etwas Ähnliches. Etwas wie: »Zu unserer Zeit, als wir noch Kinder oder Jugendliche waren, hat man sich auch geprügelt, das gehörte dazu, vor allem unter Jungs. Das ist halt so. Aber wenn einer am Boden lag, dann hat der andere aufgehört. Nie wäre es jemandem in den Sinn gekommen, hemmungslos und brutal auf einen am Boden Liegenden einzutreten, bis ihm der Schädel bricht. Wo sind wir hingekommen? Die Gewalt kennt heute oft keine Hemmschwelle mehr. Das hat nunmehr eine ganz andere Dimension. Natürlich nicht immer, aber immer öfter. Es ist besorgniserregend!«

      Während sie darüber nachdachte und sich erneut in den Artikel der Zeitung vertiefte, bekam Natascha Gänsehaut. Komisch, dass sie ständig über solche Themen stolperte. Passierte so etwas inzwischen wirklich immer öfter, oder stieß sie nur öfter darauf?

      Du ziehst diese Themen an wie ein Magnet, weil du selbst schlecht drauf bist, in allem nur noch das Negative siehst und von allem und jedem enttäuscht bist! Die Welt ist schon seit tausenden von Jahren so, es ist nichts Neues! Das gab es schon immer, du nimmst es jetzt nur verstärkt wahr! So und nicht anders ist es!

      Hoffentlich schlitterte sie nicht in eine Depression! Natascha da Silva – reiß dich zusammen!

      ♦

      Zeichen der Zeit

      Gerd Postlers Arbeitstag startete in der gewohnten und geliebten Routine. Seit dreißig Jahren im selben Job, in derselben Wohnung, mit derselben Frau – was heutzutage zunehmend aus der Mode war, so zumindest Postlers Einschätzung. Für ihn aber war es genau das Richtige. Für ihn zählten Werte wie Treue und Verlässlichkeit, daher hatte es mitunter fast schon neurotische Züge, mit welch beharrlicher Regelmäßigkeit er seinen Aufgaben nachging. Vielleicht aber – und diese Frage hatte er sich früher nie gestellt – scheute er auch nur, Neues auszuprobieren? Nicht, dass er vorhatte, es zu tun. Er war soweit glücklich und zufrieden mit seinem Leben. Und trotzdem – er konnte selbst nicht erklären, warum – hatte er sich in den letzten Tagen immer wieder gefragt, ob ein wenig Würze sein Leben nicht aufpeppen würde? Eine Würze, die bisher eigentlich gar nicht gefehlt hatte…

      Diese neuen Gedankengänge irritierten ihn selbst, sie waren so ungewohnt für ihn, einen Mann, der doch genau wusste, was er wollte und wie er tickte und dessen Leben in bewährten Ritualen ablief. War er ein Langeweiler? Nannte ihn sein Bürokollege Norman Beck vielleicht zu Recht »Pantoffelheld«? Er sollte nichts darauf geben, lieber sollte Beck auf sich selbst schauen, so komisch, wie der in den letzten Wochen drauf war. Wie ausgewechselt erschien ihm der Kollege – und das nicht nur einmal. Er verhielt sich seltsam.

      Postler hatte keine Ahnung, was mit dem Mann los war, die letzten Jahre hatten sie eigentlich gut zusammengearbeitet. Bis vor Kurzem, aber nun war Beck wie ausgewechselt, als stecke plötzlich eine andere Person in seiner leiblichen Hülle. Und aggressiver war er auch, rastete manchmal regelrecht aus. Den anderen in der Firma schien es gar nicht aufzufallen – aber die arbeiteten ja auch nicht so eng mit Beck zusammen wie er. Inzwischen gab es ständig Reibungspunkte. Anstatt zu arbeiten, ergötzte Beck sich immer häufiger zwischendurch an irgendwelchen Sachen im Internet; ständig streamte er irgendwelche Videos und sogar ganze Filme, postete und chattete, anstatt sich auf ihr Projekt zu konzentrieren. Postler war es egal, ob Beck immer mehr zum Medien-Junkie verkümmerte oder nicht, aber wenn es um ihren beruflichen Erfolg ging, dann hatte er sehr wohl etwas dagegen. Sollte er die ganze Arbeit allein machen? Beim Chef anschwärzen wollte er Beck aber nicht, er hoffte stattdessen, dass es nur eine Phase war und Beck bald wieder konzentriert und zuverlässig seiner Arbeit nachgehen würde. Persönlich zur Rede hatte er Beck allerdings auch noch nicht gestellt. Warum eigentlich nicht? Wahrscheinlich war er eben doch ein Weichei… Besser Weichei als Choleriker wie Beck …

      Wie jeden Morgen stoppte Postler nun auf seinem Weg zur U-Bahn an Helgas Kiosk. Ein Start in den Tag ohne Tageszeitung war für ihn undenkbar, und auch der übliche Smalltalk mit Helga gehörte dazu. Verdutzt starrte er nun die fremde junge Dame hinter dem Verkaufstresen an. Helga war nicht da.

      »Was darf‘s sein?«, fragte sie mürrisch. Die schlechte Laune stand ihr ins Gesicht geschrieben.

      »Helga hat gestern gar nicht erwähnt, dass sie in Urlaub fährt«, stammelte Postler. Helga Lauditz, die Kioskbesitzerin, stand eigentlich immer im Laden, selbst mit hohem Fieber, was er stets kritisiert hatte; doch sie hatte immer nur abgewunken und das Thema gewechselt. »Sie ist doch nicht etwa krank?«, fragte Postler.

      »Da wäre ich mir nicht so sicher«, entfuhr es der jungen Dame barsch. »Ganz richtig in der Birne scheint sie nicht mehr zu sein, drückt mir den Schlüssel in die Hand und haut ab auf Weltreise. Einfach so, von einem Tag auf den anderen, unfassbar!«

      »Weltreise?« Postler wusste, dass Helga Auslandsreisen mied wie der Hausstauballergiker einen alten Dachboden.

      »Keine Ahnung, was in meine Mutter gefahren ist! Was soll ich mit der Bude hier jetzt machen?!« Die junge Dame hob hilflos die Arme. »Hätte ich heute nicht frei, wäre das Ding zu. Aber die Kosten laufen weiter, und das ist ein Problem! Drückt mir den Schlüssel in die Hand, steigt ins Taxi und haut ab – zack!«

      »Ach, Sie sind –«

      Postler wurde unwirsch unterbrochen. Ein Mann hinter ihm raunzte: »Also ich geh leider nicht auf Weltreise, sondern muss zur Arbeit, und das möglichst pünktlich. Könnten Sie beide wann anders weiterquatschen?! Hier warten noch andere Leute!«

      »Sind in diesem Viertel alle so nett?« Die junge Dame hatte sich zu Postler vorgebeugt. Dabei entspannten sich ihre Züge für einen Augenblick, und sie lächelte Postler verschmitzt an. »Wenn ja, dann versteh ich meine Mutter.« Sie lehnte sich wieder zurück und fragte, nun für alle hörbar und in übertriebener Manier: »Sie wünschen?«

      Nachdem Postler seine Zeitung im Aktenkoffer verstaut hatte, schritt er – noch immer leicht verdutzt über die überraschende Seite der Kioskbesitzerin, die sich ihm soeben offenbart hatte – weiter Richtung U-Bahn-Station.

      Kurz darauf lief er beinahe an seiner Nachbarin vorbei, ohne sie zu beachten. Was hätte die von ihm gedacht? Dass auch er inzwischen zu einem unhöflichen Stoffel avanciert war? In dem Wohnblock, in dem sie beide wohnten, hatte sich das nachbarschaftliche Klima seit einiger Zeit verändert, kälter war es geworden, um nicht zu sagen: rau. Frau Störz, die Nachbarin, die ihm gerade entgegeneilte, bildete eine wohltuende Ausnahme, sie war noch immer die Alte, fürsorglich und interessiert.

      »Guten Morgen Frau Störz. Sie haben‘s ja ganz schön eilig.« Postler schenkte ihr ein Lächeln, bekam aber irritierenderweise heute keines von ihr zurück. »Alles in Ordnung?«, fragte er.

      »Eigentlich


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