Subliminal. Thorsten Oliver Rehm

Subliminal - Thorsten Oliver Rehm


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dazu? Diesen Fragen müsste man stärker nachgehen! Kameras gehörten trotzdem dorthin.

      Was war das nur für eine Zeit? Was war los mit den Menschen?

      Postler blätterte weiter und blieb an einem erfreulicheren Artikel hängen. Zwischendurch schaute er aus dem Fenster. Gerade fuhren sie aus dem Tunnel. Ein Blick auf die Uhr. Auf die Minute! Es ging doch nichts über Pünktlichkeit… Die U-Bahn war zuverlässiger als der morgendliche Straßenverkehr. Gleich fuhren sie über einen Bahnübergang. Danach noch einundzwanzig Minuten bis an sein Ziel. Zeit für den morgendlichen Müsli-Riegel. Die Sorte, die er seit Jahren jeden Morgen verspeiste. Akkurat faltete Postler die Zeitung zusammen und öffnete den Aktenkoffer. Da steckte der Riegel, an Ort und Stelle. In appetitlicher Vorfreude griff er danach.

      Plötzlich gab es einen heftigen Ruck, ein ohrenbetäubendes Schleifen war zu hören. Postler katapultierte es nach vorne, direkt auf sein Gegenüber, der Koffer flog herunter und der Inhalt auf den Boden, Passagiere schrien, verloren ihr Gleichgewicht, gerieten ins Schwanken, einige fielen zu Boden, andere wurden auf ihren Sitzen durchgerüttelt.

      Der Bahnfahrer musste eine Notbremsung eingelegt haben – die einzige Erklärung, die Postler einfiel. Gänsehaut überkam ihn – er ahnte, warum der Zug stoppte.

      ♦

      Zeichen der Zeit

      Fritz Schuster harkte das bunte Herbstlaub zusammen. Ihm und seiner Frau Erna fiel es zunehmend schwer, sich um ihren Schrebergarten zu kümmern. Für Senioren ihres Jahrgangs waren sie beide zwar ausgesprochen fit – fünfundachtzig und noch immer imstande, den Alltag allein zu bewältigen, das war nicht allen vergönnt. Und doch – die Jahrzehnte waren auch an ihnen nicht spurlos vorbeigezogen, und Arbeiten wie diese waren inzwischen erheblich mühsamer. Ihre erwachsenen Kinder lebten weit entfernt, und es war klar, dass sie ihren eigenen Weg gingen, wo auch immer dieser sie hinführte, ob der Liebe wegen oder aus beruflichen Gründen. Dort hinziehen, wo eines ihrer Kinder lebte, wollten sie aber nicht, zu sehr hingen sie an ihrer Heimat und an ihrem geliebten Garten. Schusters Freunde und Bekannte waren entweder auch nicht mehr die Jüngsten oder bereits verstorben. Niemand bot Hilfe an, und um Helfer zu bezahlen, reichte ihre Rente nicht.

      Den Schrebergarten aufgeben, das kam aber nicht in Frage. Letztlich tat ihnen die Bewegung an der frischen Luft auch gut. Der Hauptgrund aber war, dass ihr Herzblut an diesem Kleinod am Stadtrand hing. Jahrzehntelang hatten sie nahezu jede freie Minute hier verbracht und den Garten mit viel Sorgfalt und Liebe gestaltet. Daher hielten sie weiter daran fest.

      Fritz Schuster hielt kurz mit dem Harken inne und schenkte seiner Erna ein liebevolles Lächeln. Die balancierte vorsichtig das Tablett, auf dem duftender Kaffee und ihr legendärer Käsekuchen standen, aus dem gemütlichen Gartenbungalow in Richtung Verandatisch.

      In diesem Augenblick unterbrach lautes Gegröle die idyllische Ruhe in der Schrebergartenanlage. Schuster entging die sorgenvolle Miene nicht, die sich schlagartig im Gesicht seiner Frau breitmachte.

      In den letzten Wochen hatten die Pöbeleien überhandgenommen. Nicht dass die Schusters kein Herz für jugendliche Energieabladungen gehabt hätten – sie waren schließlich selbst mal jung gewesen. Das war ihre Devise im Umgang mit jungen Menschen, die hin und wieder über die Stränge schlugen. Aber aus Gegröle der Jungs – allesamt Kinder von Schrebergartenbesitzern – war mittlerweile öfters ein schwerer Konflikt entstanden, der nicht mehr mit pubertärem Hormonchaos zu erklären, geschweige denn zu entschuldigen war.

      In einigen Schrebergärten hatte es bereits Vorfälle gegeben, die man nicht mehr »unerheblich« nennen konnte. Um des lieben Friedens willen hatte man es unter den Tisch gekehrt. Oder das Finanzielle diskret mit den Eltern der Kinder geregelt. Inzwischen war das Ausmaß der Beschädigungen und Ruhestörung allerdings signifikant angestiegen – so weitergehen konnte es auf Dauer nicht. Zur Anzeige hatte die Vorfälle bisher dennoch niemand gebracht, keiner wollte den Jugendlichen ihre Zukunft verbauen, nicht zuletzt weil man einige von ihnen bereits von klein auf kannte. Doch den Tätern fehlte bisher jede Einsicht, und Besserung war nicht in Sicht.

      Schuster machte sich Sorgen um diese jungen Menschen. Irgendetwas lag im Argen. Sie verhielten sich seltsam, immer aggressiver und unberechenbarer. Schlimm genug, dass sie regelmäßig so viel tranken. Das allein reichte ihm als Erklärung aber nicht aus, da musste mehr dahinterstecken. Hoffentlich waren keine harten Drogen im Spiel! Was war nur los mit diesen Jungs? Ein falscher Blick, ein falsches Wort oder schlicht die Tatsache, dass jemand zur falschen Zeit in ihrem Blickfeld erschien, konnte genügen, und sie drehten durch.

      Manche Kleingärtner spielten es herunter und sagten, diese Teenager wären schlicht unerzogen. Doch Schuster teilte diese Ansicht nicht. Das griff einfach zu kurz. Den Eltern war die Erziehung und das Wohl ihrer Kinder auch nicht egal gewesen – im Gegenteil! Offensichtlich aber hatten sie nicht den gewünschten Erfolg erzielt.

      Die Frage war also, was mit diesen jungen Leuten wirklich los war! Für Schuster unmöglich zu beantworten. Diese Kinder trugen eine Aggression in sich, die nichts mehr mit den Pöbelattacken der Halbstarken früherer Zeiten zu tun hatte. Derart hemmungsloses Verhalten kannte Schuster so nicht. Und wenn er die Zeitungsberichte verfolgte, so schienen immer häufiger bereits Kinder im Alter von zehn bis vierzehn Jahren aufzufallen, sie wurden immer früher und immer öfter aggressiv und handgreiflich, sogar Älteren gegenüber, wenn die in der Unterzahl und somit trotz ihres Alters unterlegen waren. Immer häufiger las Schuster von solchen Gewaltattacken, gehäuft auch gegen junge Frauen. Triebtäter im Kindesalter – wo hatte es früher so etwas gegeben? Schuster konnte sich nicht erinnern. Bei all diesen Meldungen gewann er dann hin und wieder doch den Eindruck, dass sich die Dimension jugendlicher Aggressivität verändert hatte, es war extremer als früher und ging in jüngerem Alter los. Hemmungsloser, brutaler.

      Aber vielleicht bewertete er das heute einfach strenger. Es konnte doch sein, dass es früher nicht anders gewesen war. Vielleicht war damals nur sein Blickwinkel ein anderer gewesen. Und schließlich gab es ja in der heutigen Zeit auch das genaue Gegenteil, so jedenfalls argumentierte er für gewöhnlich, wenn man die »Jugend von heute« pauschal in die Sorgenschublade steckte. Dann wies er gerne darauf hin, dass sich immer mehr Jugendliche sozial engagierten, humanitär, ehrenamtlich und sogar auch politisch, dass sie im Umweltschutz aktiv waren oder ein freiwilliges soziales Jahr leisteten, dass sie höflich waren, freundlich, fleißig, zielstrebig und ihr Leben schon früh in die richtigen Bahnen lenkten.

      Eine wahre Generation von Weltverbesserern war da herangewachsen, das fiel Schuster in letzter Zeit mehr denn je auf. Viele junge Leute setzten sich auf dieser Welt für das Gute ein und kämpften gegen negative Strömungen. Manche schwammen auch mal kraftvoll gegen den Strom, wenn es sein musste und ethisch richtig war. Andere aber riss der Fluss dieser seltsamen Gewalt mit sich und trieb sie Richtung Abgrund – es blieb dann zu hoffen, dass sie einen Rettungsring zu fassen bekamen, bevor es zu spät war.

      Es gab einfach solche und solche, wie bei den Erwachsenen eben auch. Wie es eben immer schon gewesen war. Allerdings gewann Schuster zunehmend den Eindruck, dass sich etwas in diesem Heute veränderte. Vielleicht täuschte er sich auch, reagierte mit hypersensibler Wahrnehmung auf die gesellschaftlichen Veränderungen. Und doch: es kristallisierten sich, so schien es ihm, Extreme heraus, alles schien ausgeprägter als noch vor ein paar Jahren, egal in welcher Hinsicht. Extrem gutes Verhalten war ja zu begrüßen – wer konnte sich schon zu gut verhalten? Liebevolles, menschliches, gerechtes und soziales Verhalten konnte man doch nie genug an den Tag legen, je mehr davon, desto besser. Oder nicht? Extrem negatives Verhalten allerdings war zweifelsohne ein Problem.

      Schuster hatte genug Lebenserfahrung, um zu wissen, dass oft gerade die rebellischen Jugendlichen besonders sensibel waren und man ihr Verhalten mehr hinterfragen musste, anstatt es vorschnell zu verurteilen. Diese angebliche Null-Bock-Generation versuchte letztlich nur, sich von den Erwachsenen abzugrenzen. Vieles war Fassade, hinter die zu blicken sich lohnte und den Zugang zu diesen jungen Menschen ermöglichte. Die Kunst war es, eine Brücke zu bauen zwischen Jung und Alt, zwischen den Generationen und unterschiedlichen Lebensmodellen.

      Vor Kurzem hatte Schusters Sohn gesagt, dass die »Jugend von heute« mitunter sogar vernünftiger sei als es ihre Eltern im selben Alter gewesen


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