Subliminal. Thorsten Oliver Rehm
Alle Blicke richteten sich auf Mike. Der schmunzelte auf eine Art, die zu sagen schien: Die Frage musste ja kommen. Aber sie schien ihm keinesfalls zu persönlich oder lästig, im Gegenteil, offensichtlich bezog er gerne Stellung dazu.
Obwohl er schmunzelte, blickte er sie ernst an. »Da kam eins zum anderen. Es ist ja meist so, dass es nicht den einen Auslöser gibt. Aber wenn ich mich auf etwas festlegen müsste, das ich den Hauptauslöser nennen kann, dann wäre es der Job. Wenn ich weitergemacht hätte, dann hätte der mich krankgemacht.« Mike nippte nachdenklich an seinem Wein. Fast im Zeitlupentempo setzte er das Glas wieder ab.
»Warum hast du nicht einfach die Stelle gewechselt?«, fragte Marina.
»Weil das, was mich zunehmend gestört hat, ein grundsätzliches Problem ist – zumindest in meiner Branche. Klar, ich hätte komplett umsatteln können. Aber dann kam da noch die Sache mit meiner Frau dazu – sie hatte Knall auf Fall ihre Koffer gepackt und war abgehauen – und der Tod meiner Eltern, die innerhalb eines Jahres beide gestorben waren. Kinder hatten meine Frau und ich nicht. Was also hätte mich noch halten können, wo ich mich doch immer fremder fühlte?« Nachdenklich rieb er sich seine markante Kinnpartie. Dann lehnte er sich zurück.
Dieser Blick! Ob an Natascha vorbei oder ob durch sie hindurch oder geradewegs in sie hinein – sie wusste es nicht. Nur, dass er sie berührte und etwas in ihr auslöste, das spürte sie. Ein wohliger Schauer durchfuhr sie.
»Es war damals einfach Zeit für einen Neuanfang, wie ein Weckruf, all den negativen Veränderungen den Rücken zu kehren.«
Die Offenheit, mit der Mike über die Sache mit seiner Frau sprach, überraschte Natascha, doch sie überging das Thema. »Was meinst du mit ›grundsätzliches Problem‹? Was genau war es, das dich so unzufrieden machte?« Natascha da Silva! Schalt deinen Journalisten-Modus aus!
»Unzufrieden passt eigentlich nicht, das wäre zu harmlos. An Unzufriedenheit kann man arbeiten, etwas ändern. Eher habe ich mir Sorgen gemacht. Ja, Sorgen. Die zunehmende Kaltherzigkeit, ja Verrohung unserer Gesellschaft – und dass es die gibt, ist ja offensichtlich, ich denke, das sehen wir alle in den vergangenen Jahren – die habe ich nirgends so sehr gespürt wie damals in meinem Job. Damit meine ich nicht die zunehmende Belastung durch das ständig wachsende Arbeitspensum oder die Herausforderungen ganz allgemein, den Zeitdruck, die Hektik, die schwindelerregenden Anforderungen, denen ich in meiner Position gerecht werden musste. Ich meine auch nicht die Personaleinsparungen, die die verbleibenden Kollegen auffangen müssen, oder die Herausforderung der Digitalisierung oder das Streben nach immer mehr Wachstum, Wachstum, Wachstum oder die Gewinnmaximierung als oberstes Ziel, ganz egal, ob die Menschen dabei zugrunde gehen oder nicht…« Mike schüttelte fast unmerklich den Kopf. Es war offensichtlich, dass all das ihm zu jener Zeit auch gehörig missfallen hatte. »Es hat mich damals auch belastet, dass ich den Druck, den ich von oben bekam, als Führungskraft an meine Mitarbeiter weitergeben musste. Ich stand ständig mit dem Rücken zur Wand, und mir blieb nichts anderes übrig, als wiederum meine Mitarbeiter mit dem Rücken zur Wand zu stellen. Was für ein wahnsinniger Kreislauf! Aber all das war es nicht einmal. Na ja, schon, aber es waren vielmehr die Dinge, die ich grundsätzlich um mich herum beobachtete.« Mikes Blick wurde eine Spur ernster. »Ich meine die Ellenbogenmentalität, das Ausboten, jeder war sich selbst der Nächste. Schlimm! Es gab kaum mehr ein Miteinander, fast nur noch Gegeneinander. Am allerschlimmsten aber traf mich die Erkenntnis, dass ich mich damals selbst verändert hatte, schleichend zwar, aber dennoch deutlich wahrnehmbar und nicht gerade zu meinem Vorteil. Ich war immer verbissener, härter, kälter geworden, ja richtiggehend abgebrüht. Das traf mich, denn ich wollte so nicht sein, ich wollte nicht zu so einem Typen werden, als Preis dafür, im System zu funktionieren. Ich konnte mich selbst nicht mehr leiden. Daher musste ich etwas ändern und tat es dann eben radikal – die einzige Chance, aus dem Kreislauf auszubrechen. So zumindest habe ich es gesehen. Vielleicht habe ich auch nur nicht genug nach anderen Lösungen gesucht und es mir zu einfach gemacht. Vielleicht. Kann sein. Wobei – dann wäre ich jetzt nicht hier.« Mike huschte ein Lächeln übers Gesicht. Er hatte ganz ruhig gesprochen, ohne Groll in der Stimme, aber Natascha konnte die tiefsitzenden Gefühle wahrnehmen, sie hörte sie zwischen den Zeilen heraus. Und hatte er nicht recht?!
»Das Problem geht ja heutzutage schon bei den Schulanfängern los«, schaltete sich Marina ein. Natascha mochte sie auf Anhieb. Marina hatte frech-fransig geschnittenes, naturblondes, kurzes Haar und sprühte vor Lebensfreude. Das genaue Gegenteil von Natascha – sowohl im Hinblick darauf, was auf dem Kopf war, als auch bezüglich der Einstellung im Kopf. Dazu noch so jung, noch voller Träume und Tatendrang – beneidenswert… »Der Jüngste meiner Schwester ist auch gerade in die Schule gekommen«, sprach Marina weiter. »Da wird schon in der ersten Klasse Druck erzeugt. Sicher nicht bewusst, hoffe ich zumindest, aber er ist halt ganz automatisch da. Bereits die Sechsjährigen kreischen verzweifelt, wenn sie nicht das ersehnte Belohnungssymbol ins Heftchen bekommen, und messen sich daran, wie viele die anderen schon in ihren Heften haben! Und wenn jemand anderes kein Belohnungssymbol bekommt, sind sie voller Schadenfreude! Klar, es ist ja für Kinder wichtig zu verinnerlichen, dass Fleiß belohnt wird. Aber irgendwie hat es seltsame Züge angenommen, finde ich. Ich bin ja viel jünger als ihr…« Ihr stieg plötzlich die Röte ins Gesicht. »Keine Ahnung, vielleicht war das bei euch in der Grundschule ja auch schon so.« Nun blickte sie einen nach dem anderen an, als würde sie sich dafür entschuldigen wollen, den anderen gerade klargemacht zu haben, dass sie ihren Zenit schon überschritten hatten. Dann fuhr sie, ohne eine Antwort abzuwarten, mit ihren Ausführungen fort: »Und ihr werdet es kaum glauben – der ältere Sohn meiner Schwester geht schon ins Gymnasium, achte Klasse, und dort ist es heutzutage schon so weit, dass manche Kinder nicht mal bereit sind, einem erkrankten Kind die Hausaufgaben zu bringen. Die lassen kranke Kinder eiskalt hängen. Heftig! Natürlich passiert das nicht jedes Mal, klar, aber es passiert! Die Kinder entscheiden ganz gezielt, wen sie hängen lassen und wen nicht… Ich meine, war das früher auch schon so?« Sie wartete die Antwort nicht ab. »Passt auf, es wird noch besser!« Nun warf sie theatralisch die Hände in die Höhe. »Meine Schwester hat mir auch erzählt, dass es mitunter sogar vorkommt, dass Kinder manchmal bewusst falsche Aufgaben übermitteln, und das alles nur, um die anderen abzuhängen. Das ist doch krass!« Marina hatte sich regelrecht in Rage geredet. »Und das lässt man denen durchgehen… oder man verschließt die Augen davor, keine Ahnung! Aber wie sind die denn in dem Alter schon drauf?! Die Kinder werden doch quasi auf Ellenbogenmentalität getrimmt, lernen das von der Pike auf, weil es eben gang und gäbe ist, sich so zu verhalten. Schöne Zukunft!« In versöhnlicherem Ton fügte sie hinzu: »Vielleicht sind das auch nur Ausnahmen. Oder es ist nur dort an der Schule so. Hm… Meine Schwester dramatisiert schon mal ganz gerne. Aber erfunden hat sie das nicht.« Sie hielt kurz inne, war aber offensichtlich doch noch nicht alles losgeworden, was sie bewegte. »Aber wisst ihr, man muss sich nicht wundern, manche Eltern leben es ihren Kindern ja auch vor. Neulich zum Beispiel, da steh ich im Foyer des Kinos am Tresen, um Knabberzeug und Getränke zu kaufen. Der Tresen geht ums Eck, besteht also aus zwei Theken. Ich war früh dran und wartete. Hinter mir standen irgendwann weitere Leute. Jetzt kommt ein Mann hinter den Tresen, nur leider an die andere Ecke. Wie von der Tarantel gestochen rennt eine Mami mit ihren zwei Kindern – die drei hatten hinter mir gestanden – ans andere Eck und bestellt ihr Popcorn. Die wussten doch, dass ich vor ihnen gestanden hatte, und das nicht erst seit einer Minute. Also komm! Nicht, dass ihr mich falsch versteht, ich hatte es ja nicht eilig, und es lohnt sich ja eigentlich auch nicht, sich über sowas aufzuregen. Aber dennoch, das ist doch ein Spiegelbild des Zustands unserer Gesellschaft. Wisst ihr, was ich meine?« Sie redete in einem Tempo, das keine Einwände zuließ. »Jetzt sagt ihr vielleicht: ›Ja, blöd, so Leute gab und gibt es aber immer.‹ Stimmt auch! Aber irgendwie ist es doch immer häufiger so. Und was ich sagen möchte: Wen wundert‘s, dass dann die Kinder so werden!« Erneut hielt sie kurz inne, als hole sie sich das Okay, noch etwas hinzufügen zu dürfen. Vielleicht holte sie auch nur mal kurz Luft. Dann redete sie schnell weiter: »Oder versuch mal, auf eine stark frequentierte Straße draufzukommen. Bis dich da mal einer reinlässt. Und und und … Es ist einfach so eine Zeit heute, denke ich. Man ist eben fixiert auf sich selbst. Sicher die Hektik, der Zeitdruck, der Stress, keine Frage! Viele sind vielleicht immer unter Strom und werden dann so, phasenweise zumindest. Ich habe das ja alles erst noch vor mir, den Stress