Subliminal. Thorsten Oliver Rehm
Marina war unter Wasser das komplette Gegenteil, nämlich die Ruhe selbst. Aber das kannte Natascha ja von sich auch: Eintauchen – abschalten!
Nun meldete sich Ralf zu Wort: »Wegen der Schule: Zu unserer Zeit haben wir uns Mitschülern gegenüber auch nicht immer einwandfrei verhalten. Ich denke, das war schon immer so. Vielleicht erinnern wir uns nur nicht daran.« Er zögerte eine Sekunde. »Oder es hatte zu unserer Zeit einfach doch noch nicht dieses Ausmaß«, fügte er dann eher fragend hinzu. »Könnte schon sein, dass da was dran ist. Was meint ihr?«
»Die Kinder mit sechs bilden schon Teams, in die man dazugehört oder eben nicht. Da fängt das Mobbing quasi schon in der ersten Klasse an. Das ist schon erschreckend, finde ich«, warf nochmals Marina ein.
»Gab es bei uns früher aber auch, Banden und so«, sagte Ralf, den sich Natascha mit seinem spitzbübischen Gesicht, den rötlichen Haaren und den frechen Sommersprossen lebhaft als männliche Rote Zora vorstellen konnte, eine TV-Figur aus ihrer Kindheit. »Aber vielleicht in der vierten, nicht schon in der ersten…«
»Man darf und sollte das alles sicher nicht überbewerten, nicht gleich dramatisieren, zumal wir alle mit Abstand draufschauen, weil unsere Kindheit schon ein paar Tage her ist. Aber trotzdem, es ist schon was dran, als würde heute einfach alles früher seinen Gang nehmen, und auch viel intensiver – schlimmer«, schaltete sich Frank ein.
Der ausgeglichene Frank – besonnen wie immer, dachte Natascha. Die Ruhe, die Frank für gewöhnlich ausstrahlte, stand für sie immer irgendwie im Gegensatz zu seinem eher verwegenen Aussehen. Das hätte eher zum Klischee des coolen Surfers gepasst: von der Sonne gebleichtes, naturgewelltes, halblanges Haar, türkisblaue Augen, markante und doch zugleich weiche Gesichtszüge, der gestählte Körper eines Fitnesstrainers und die draufgängerische Aura eines Lebemannes, hinter der aber ein ganz anderer Frank zum Vorschein kam. Diese Mischung versprühte eine starke Anziehungskraft – sicher auf viele Frauen. Jennifer war ein Glückspilz! Wäre da nicht Mike Sauerländer – der gute Frank hätte sich vorsehen müssen, theoretisch zumindest, denn praktisch bestand keinerlei Gefahr, Frank war Jennifers Schatz. Natascha würde sich nie für den Mann einer anderen interessieren – nicht auf diese Art zumindest. Und seit sie selbst Opfer von Untreue geworden war, erst recht nicht. Aber das war ein anderes Thema…
Das Gesprochene hallte noch in Natascha nach. Sie musste an Lea denken. In welcher Welt würde sie groß werden? Stand es wirklich so schlimm um das menschliche Miteinander? Würde Lea sich in dieser rauen Wirklichkeit zurechtfinden? Würde sie zu denen gehören, die andere unterbutterten, oder zu denen, die untergebuttert wurden? Sie würde alles daransetzen, dass Lea sich zu einer liebevollen und trotzdem taffen Frau entwickeln würde. Diese Kombination musste doch möglich sein, oder nicht?! Seinen Weg gehen und das erfolgreich, aber nicht auf Kosten anderer. Lea das zu vermitteln, nahm sie sich in diesem Moment einmal mehr vor.
Nun ergriff Mike nochmals das Wort: »Die Menschen schlagen sich seit Jahrtausenden gegenseitig die Köpfe ein. Das ist ja nicht nur ein Problem der heutigen Zeit. Es ist nur so: wo nach außen hin Friede herrscht, scheinen zunehmend innere Kämpfe stattzufinden – und zwar um Werte, quasi um das Innere des Menschen. Die Zeichen der Zeit, so nenne ich das mal.«
»Zeichen der Zeit…«, warfen nun auch einige der anderen ein. »Das passt doch irgendwie…«
»Die Frage ist nur, Zeichen für was? Was braut sich da zusammen?«, fragte Mike nachdenklich.
Nataschas Blick blieb an ihm haften. Der Mann sieht nicht nur gut aus, er hat offensichtlich auch etwas in der Birne und das Herz am rechten Fleck – und einen Hang zum poetischen Philosophieren. Schnapp ihn Dir, Natascha, und besser bald – bevor es eine andere tut!
Die nächste Stunde unterhielten sie sich weiter angeregt über dies und das. Gegen zwei Uhr ließ Jennifer durchblicken, dass es nun an der Zeit war, den schönen Abend zu beenden. Mike und Marina hatten beide ihren tauchfreien Tag vor sich – sonst hätten sie schon längst die Runde verlassen, immerhin hatten sie als Guides Verantwortung für tauchende Gäste. Jennifer, Frank und Ralf würden morgen nur in Papierstapeln abtauchen, aber Eric wäre bald wieder fidel und die Nacht somit kurz. Mit Lea würde es Natascha nicht anders gehen, und den letzten Urlaubstag nur kaputt herumzuhängen, wäre auch blöd. Irgendwann musste auch der netteste Abend zu Ende gehen – und der Zeitpunkt dafür war ohne Zweifel gekommen.
»Ich mach dir das Gästezimmer zurecht.«
»Danke, Jenny, lieb von dir, aber das Hotel ist gleich ums Eck. Ich schnappe noch ein bisschen frische Luft. Du hast keinen Aufwand und mir ist noch nicht nach schlafen zumute. Darf ich Lea nachher einfach bei dir abholen? Gegen Acht? Ist das okay?«
»Du kannst Neun daraus machen, kein Stress! Aber du kannst gerne bleiben, das weißt du. Ist doch kein Aufwand!« Jennifer hielt abrupt inne und schmunzelte. »Ah, verstehe.« Ein kurzer Luftkuss und Augenzwinkern, das Natascha allzu gut kannte. Grinsend machte Jennifer auf dem Absatz kehrt und schritt Richtung Küche. Im Laufen winkte sie Natascha noch über die Schulter zu und rief: »Viel Spaß!«
Nach gerade mal vier Stunden Schlaf und einem ausgiebigen Abschlussfrühstück, saß Natascha nun an einem kleinen Tisch des Strand-Cafés, einen Kaffee vor sich und immer wieder mal ein Auge auf Lea werfend, die fröhlich und ausgelassen mit zwei anderen Kindern eine Sandburg baute.
Nataschas Stimmung war das genaue Gegenteil. Wie hatte sie nur so blöd sein können?! Mike hatte sie in der Nacht noch zum Hotel begleitet, aber sie war nicht fähig gewesen, die Gunst der Stunde zu nutzen, und Mike wiederum so umsichtig, sie nicht zu drängen. Ihr Verlangen, ihn zu küssen, war kaum zu bremsen gewesen, doch sie hatte sich derart gegen den Impuls gewehrt, dass es ihr letztlich auch gelungen war. Selbst schuld! Mist!
Sein Blick… Es war offensichtlich… Und sie? Bescheuert!
Und warum? Er wolle in die Karibik – zumindest diesen Herbst und Winter über, dann würde er weitersehen, wo es ihn als nächstes hintreiben würde. Wahrscheinlich nach Indonesien. Oder auf die Malediven. Irgendwohin, wo es unter Wasser richtig bunt war. Nach Deutschland würde es allerdings auf gar keinen Fall gehen. Wenn er wenigstens ihre vorsichtige Frage, ob er vielleicht wieder nach Mallorca käme, bejaht hätte! Etwas über eine Flugstunde für sie – ein Klacks! Dann wäre sie vielleicht über ihren Schatten gesprungen. Mancher Mann wäre in so einer Situation mit Kalkül vorgegangen, hätte ihr durch ein, zwei Sätze Hoffnung ins Herz gesetzt, die Situation zukunftsfähig dargestellt, nur um sein Ziel zu erreichen. Fast wünschte sie sich, er hätte sich so verhalten! Nun aber hatte er mit seiner Ehrlichkeit Pluspunkte gesammelt. Es war doch kein Kalkül, oder? Oder war es genau das? Quatsch! Keinesfalls konnte er angenommen haben, dass sie genau das suchen würde – einen One-Night-Stand, eine unverbindliche, lockere Nacht – und sich gedacht haben, sie genau so für sich gewinnen zu können.
Du bist so verkopft, nein: bescheuert! Warum denkst du von jedem Mann schlecht, bloß weil der eine dich enttäuscht hat?! Okay, eine Chance auf eine gemeinsame Zukunft gäbe es wohl nicht. Aber welche Frau in ihrer Situation hätte überhaupt darüber nachgedacht? Totale Blockade! Verklemmte Kuh! Und überhaupt, welche Garantien verlangte sie denn? Chance vertan! Ein Mann, der sie durch seine herzliche und offene Art derart beeindruckte und der offensichtlich etwas übrighatte für Tugenden, ein Mann, der noch dazu blendend aussah – und Single! In ihrem Alter! Der Typ war so was von heiß – aber sie so was von blöd! Und wenn schon, musste sie ihn denn gleich anspringen, als würde sie das mit jedem machen? Würde zwischen ihnen nicht ganz natürlich etwas entstehen, wenn er wirklich das Herz am rechten Fleck und Interesse hätte? War das richtig gedacht? War das falsch gedacht? Keine Ahnung…
Natascha nippte an ihrem Kaffee und versuchte, den Frust zu verscheuchen. Ihr Blick fiel auf eine deutsche Zeitung, die jemand auf dem Tisch nebenan hatte liegen lassen. Hier auf Mallorca, dem siebzehnten Bundesland Deutschlands, schien sie für viele Pflichtlektüre zu sein – ständig lagen die Dinger irgendwo herum.
Warum nicht einen kurzen Blick reinwerfen und schauen, was die Kollegen bei der Konkurrenz so schrieben?! Konkurrenz… Wenn ihr Chefredakteur das hören würde, könnte sie zukünftig über Kochrezepte statt über Brennpunkthemen schreiben, denn er hielt seine online-Redaktion