Turmschatten. Peter Grandl

Turmschatten - Peter Grandl


Скачать книгу
ich melde den Vorfall der Dienststelle.«

      Murat hatte genug Menschenkenntnis, um festzustellen, dass es sich dabei nicht um eine leere Drohung handelte.

      Trotzdem wollte er noch ein letztes Mal an ihre Vernunft appellieren.

      »Sie machen das falsch, Sie …« Doch weiter kam er nicht.

      Mit einem lauten Knall schloss sich die Tür vor seiner Nase.

      Murat überlegte, ob er erneut in den Nebenraum gehen und das Gespräch verfolgen sollte, aber er entschied sich dagegen. Sollte sie sich doch die Zähne an diesem Kerl ausbeißen. Er würde sie jedenfalls nicht im Krankenhaus besuchen. Fluchend machte er sich auf den Weg in sein Büro.

      »Setzen sie sich!«, forderte Marie Rieger auf, der dabei war, sein schwarzes Hemd in die Hose zu stopfen, und Marie ignorierte.

      Sie nahm wieder Platz und wartete geduldig, bis Rieger fertig war. Mit freundlicherem Ton bat sie ihn erneut, sich hinzusetzen. Diesmal reagierte er. Sein Blick war jetzt weit weniger arrogant, sein süffisantes Lächeln verschwunden. Vielleicht hatte Murats Aktion ja dazu beigetragen, dass das Gespräch von nun an besser verlief.

      »Was haben Sie zu ihm gesagt?«

      »Was meinen Sie?«

      »Sie haben türkisch mit ihm gesprochen. Sie sprechen türkisch?«

      »Ein paar Brocken. Habe ich im Knast gelernt. Hilft dir, wenn du nicht jeden Tag eins in die Fresse kriegen willst.«

      »Also, was haben Sie zu ihm gesagt?«

      »Ist ein türkisches Sprichwort.«

      »Und weiter?«

      »Auf Deutsch heißt es: Wer Wind sät, wird Sturm ernten.«

      Marie hatte eher mit einer Beleidigung gerechnet.

      »Erklären Sie mir, wie ein so intelligenter junger Mann wie Sie eine so menschenverachtende Ideologie annehmen konnte.«

      Gott, was für ein Anfängerfehler.

      »Vergessen Sie die Frage!«

      Doch zu spät. Eine solche Vorlage ließ sich Rieger nicht entgehen: »Nein, nein. Die Frage ist gut. Sie müssen nur den Blickwinkel wechseln. Aus meiner Sicht sind nur die arischen Völker Menschen. Wie also kann meine Ideologie menschenverachtend sein?«

      Das saß! Für einen Augenblick hatte sie sich falschen Hoffnungen hingegeben. Wie naiv sie doch war. Vielleicht hatte Murat recht, vielleicht war sie noch nicht reif für einen solchen Fall.

      Sie schüttelte den Kopf und winkte ab, um deutlich zu machen, dass sie sich auf keine Diskussion einlassen wollte. Hilfesuchend hielt sie sich an der Akte fest und versuchte, von nun an das erlernte Protokoll einzuhalten: Familie. Die Familie war wichtig für eine erfolgreiche Eingliederung. Sie konnte einem nicht nur eine soziale, sondern, laut ihren Akten, in Riegers Fall auch eine finanzielle Stütze sein.

      »Lassen Sie uns über Ihre Familie reden. Hier steht, Sie haben keine Geschwister und Ihre Eltern leben nach wie vor in Anklam, Mecklenburg-Vorpommern. Haben Sie noch Kontakt zu ihnen?«

      »Ich habe keine Eltern mehr. Meine Familie ist die Bewegung«, erwiderte Karl sachlich.

      »Hier steht außerdem, Sie hätten während ihres Gefängnisaufenthalts mehrmals Besuch gehabt von dem dreizehnjährigen Gymnasiasten Thomas Worch. In welchem Verhältnis stehen Sie zu diesem Jungen?«

      Die Erwähnung von Thomas’ Namen machte Karl Rieger unruhig.

      »Das geht Sie nicht das Geringste an.«

      Marie witterte eine Chance, Karl Rieger aus der Reserve zu locken.

      »Doch, tut es sehr wohl. Jeder Ihrer sozialen Kontakte muss von mir überprüft und beurteilt werden. Wie also ist Ihre Beziehung zu diesem … Minderjährigen?«

      »Sie bewegen sich auf sehr dünnem Eis, Frau Stresemann.« Nervös begann er mit den Fingernägeln auf der Tischplatte zu trommeln. »Wenn Sie irgendeine Homo-Kiste andeuten wollen …«

      Marie unterbrach ihn schroff.

      »Ich tue, was ich tun muss, und Sie tun, was Sie tun müssen.«

      Sie hatte das Gefühl, langsam die Oberhand zu gewinnen und merkte, wie Rieger mit sich rang. Das Trommeln seiner Finger auf dem Tisch wurde schneller und endete plötzlich abrupt.

      »Thomas ist für mich wie ein Bruder. Ich bin der Einzige, der ihn versteht, der Einzige, der sich wirklich um ihn kümmert. Wenn’s irgendwie geht, ist er bei mir und nicht bei seiner Scheiß-Mutter.«

      »Soweit ich hier sehe, kommt Thomas aus gutem Elternhaus. Wo liegt das Problem?«

      Karl lachte bitter auf.

      »Seine Eltern? Die sind geschieden, sein Scheiß-Vater hat ihn seit der Scheidung kein einziges Mal gesehen, hat sogar vor Gericht erreicht, dass er sich ihm nicht nähern darf, und seine Mutter ist eine Hure, die es jede Woche mit einem anderen Kanaken treibt.«

      »Warum hat er keine gleichaltrigen Freunde?«, hakte Marie nach und versetzte ihm nun ganz bewusst einen Stich, indem sie die nächste Frage langsam auf der Zunge zergehen ließ: »Warum lässt er sich mit Ihnen ein?«

      Augenblicklich fuhr Rieger aus der Haut.

      »Sie haben doch keine Ahnung! Sie sitzen hier in Ihrer kleinen, heilen Welt, haben sich die Dinge zurechtgerückt, wie Sie sie brauchen, und denken, Sie haben den Durchblick. Einen Scheiß haben Sie!«

      Nun war es an Marie, ein süffisantes Lächeln aufzusetzen.

      »Dann erklären Sie es mir.«

      Karl zerrte wütend das gelbe, zusammengefaltete Flugblatt, das er Thomas abgenommen hatte, aus seiner Tasche und warf es Marie gegen die Brust.

      »Das hier ist die Scheißwelt, in der wir leben.«

      Neugierig entfaltete Marie den gelben Zettel und überflog ihn, während Karl seinem Zorn weiter freien Lauf ließ.

      »Wenn seine Mutter auch nur einen Funken Liebe für ihren Sohn hätte, würde sie diesem Dreck in der Nachbarschaft den Krieg erklären und sich Respekt verschaffen. Aber selbst wenn diese Hure den Mumm hätte, das zu tun, hätte dieser Abschaum die Polizei auf seiner Seite. Die stecken nämlich alle unter einer Decke. Und dann, dann würden sie Thomas in irgendein Heim stecken, wo er hilflos irgendwelchen Arschfickern ausgeliefert wäre. So läuft das. Ein scheiß System ist das, ein scheiß System!« Resigniert wiederholte er sein Fazit fast flüsternd ein weiteres Mal: »Ein scheiß System.«

      Nur langsam beruhigte er sich. Sein Atem ging immer noch schnell und seine Gesichtsmuskeln zuckten leicht. Marie hatte inzwischen das Flugblatt gelesen.

      »Darf ich das behalten?«

      »Von mir aus tapezieren Sie sich das Klo damit.«

      Marie glaubte, Karl Rieger an einem Punkt zu haben, an dem er zuhören würde. Der Schlüssel zum Erfolg lag ihrer Meinung nach eindeutig bei seinen Gefühlen für diesen Jungen. Also versuchte sie es: »Ich kann Thomas helfen.«

      Karl lachte laut auf, und sie wusste sofort, dass sie diesen Trumpf viel zu früh ausgespielt hatte.

      »Sie? Na klar, Sie schicken ein paar verständnisvolle Briefe, vielleicht rufen Sie auch mal an. Super. Sie sind so naiv, aber keine Sorge, ich löse das Problem. Verlassen Sie sich drauf!«, blaffte er sie an und schlug mit der Faust auf den Tisch.

      Vielleicht war es die Wut auf sich selbst, vielleicht war es aber auch die Wut auf diesen impulsiven, unkontrollierbaren Neonazi, dessen Zukunft sie bereits jetzt in Schutt und Asche liegen sah, die auch sie wieder laut werden ließ.

      »Hören Sie sich eigentlich manchmal selbst zu? Wer ist jetzt hier naiv? Sie lösen das?« Dabei zeigte sie wütend mit dem Finger auf ihn. »Was nützen Sie denn diesem Jungen, wenn Sie wieder eingesperrt werden? Darf er Sie dann wieder jahrelang im Gefängnis besuchen? Große Klasse, Ihr Plan, ganz große Klasse!«


Скачать книгу