Turmschatten. Peter Grandl
seit Jahren wartete. Und nun kam sie eine halbe Stunde zu spät.
Murat Demirs äußeres Erscheinungsbild entsprach in gewisser Weise einer Uniformität, mit der sich Sozialpädagogen gerne zu erkennen gaben.
Seine langen Haare bedeckten den Kopf nur noch an wenigen Stellen und waren zu einem dünnen Pferdeschwanz zusammengebunden. Eine schmale, abgegriffene Lesebrille baumelte über einem rot-weiß karierten Baumwollhemd, das in einer dunkelbraunen, abgewetzten Cordhose steckte. Seine Laufschuhe hatten auch schon bessere Tage gesehen. Die Nikotinflecken an seinen Fingern, die wild wuchernden Bartstoppel und die schwarzen Haare, die ihm aus Nase und Ohren wuchsen, all das passte in das Bild eines berufserfahrenen Streetworkers. Nur eines widersprach diesem Klischee: Murat Demir hatte einen äußerst gut trainierten Körper, und der kam nicht vom Laufen, einem Sport, dem viele seiner Kollegen frönten. Laufen war nicht das, was ihm in kritischen Situationen auf der Straße weiterhalf – und die Straße war sein Arbeitsplatz.
Murat Demir trainierte regelmäßig und ausgiebig Jiu Jitsu, eine waffenlose Technik zur Selbstverteidigung. Es war genau diese Mischung aus sozialpädagogischem Anstrich und körperlicher Präsenz, die ihn auf der Straße Erfolg verschafft hatte. Seine Klienten schätzten ihn nicht nur, sie respektierten ihn auch.
Sicher lag das auch daran, dass Murat nur bis zu einem gewissen Grad mit salbungsvoller Stimmlage auf die Kraft der Rhetorik setzte. Reizte man ihn zu sehr, ging sein Temperament mit ihm durch, was ihm schon zwei disziplinäre Verwarnungen eingebracht hatte. Dennoch schätzten ihn auch seine Vorgesetzten, denn kaum einer hatte bei den »Härtefällen« so viel Erfolg wie Murat. Entsprechend groß war auch sein Ego, das er gerne im Amt zur Schau stellte.
Dass eine Anfängerin einen so brisanten Fall wie einen unverbesserlichen Neonazi zugewiesen bekommen hatte, nagte schwer an diesem Selbstwertgefühl. Noch dazu war sie nun fast eine halbe Stunde zu spät. Der »Fall« war zwar auch noch nicht eingetroffen, aber die erste Regel lautete: Pünktlichkeit. Nur wer ein gutes Vorbild war, hatte die Chance, irgendwann seine Klienten auf den Weg der Besserung zu lotsen.
Wütend stand Murat in Stresemanns leerem Büro. Er war gekommen, um ihr wertvolle Ratschläge im Umgang mit Rechtsradikalen zu geben, aber umsonst. Aus seiner Gesäßtasche holte er ein altes Nokia-Handy und wählte ihre Nummer, aber niemand hob ab, nicht mal ein Anrufbeantworter. Regel Nummer zwei: »Sei immer erreichbar, oder gib deinen Klienten die Möglichkeit, eine Nachricht zu hinterlassen.«
O Gott, was hatte sich der Chef nur dabei gedacht. Das war wieder mal typisch für diesen Sesselfurzer, der keine Ahnung davon hatte, wie das Leben auf der Straße wirklich war.
Sein Blick fiel auf eine Mappe, die mitten auf Stresemanns Schreibtisch lag. Er biss sich auf die Lippen, zögerte aber nur kurz, dann nahm er die Mappe an sich. Wie vermutet, war es die Akte des Neonazis. In diesem Augenblick läutete Stresemanns Telefon. Murat hob ab.
»Apparat Stresemann!«
»Hier ist der Empfang, der Besuch von Frau Stresemann ist da.«
»Schicken Sie ihn in Besprechungsraum drei, ich gebe Frau Stresemann Bescheid.«
Murat legte den Hörer auf und sah noch mal auf die Uhr.
Wer zu spät komm, den bestraft das Leben. Lächelnd machte er sich mit Karl Riegers Akte auf den Weg.
Marie Stresemann hetzte den Gang entlang. Fast hätte sie das Gleichgewicht verloren, als sie um eine Ecke bog und frontal mit Murat Demir zusammenstieß – ausgerechnet dem größten Kotzbrocken, den man sich als Kollegen nur vorstellen konnte. Blitzschnell reagierte Murat und verhinderte, dass Marie zu Boden stürzte. Er packte sie mit festem Griff am Oberarm, wobei die Akte in seiner Hand auf den Boden fiel.
Heilfroh, der Peinlichkeit entgangen zu sein, lang gestreckt vor Murat auf dem Boden zu liegen, erkannte sie sofort die Mappe, nach der sich Murat bückte.
»Ist das die Akte Rieger aus meinem Büro?«
Murat fühlte sich ertappt, überspielte aber die Szene.
»Da, wo ich herkomme, begrüßt man sich erst einmal. Guten Morgen, Frau Stresemann!«
Marie war in Fahrt und hatte keinen Nerv, auf Murats Spielchen einzugehen.
»Sie waren einfach in meinem Büro und haben sich die Akte von meinem Schreibtisch genommen?«
Dabei schüttelte sie verständnislos den Kopf und streckte den Arm nach der Mappe aus.
»Geben Sie sie mir!«
»Liebe Kollegin«, sagte Murat süffisant, »Sie sind nicht nur eine halbe Stunde zu spät, Sie haben auch nicht die geringste Ahnung, worauf Sie sich da einlassen.«
»Geben Sie mir die Akte!«, wiederholte sie laut und versuchte, ihm mit einem schnellen Griff die Akte zu entreißen. Das überraschte Murat so sehr, dass er nachgab und die Akte mit einem Ruck in Maries Armen landete.
Chapeau, dachte er. Kein anderer Kollege hätte es gewagt, ihn physisch zu bedrängen. Vielleicht hatte er sich in Marie Stresemann geirrt.
»Es tut mir leid, ok?«
Doch Marie reagierte nicht darauf, sondern setzte ihren Weg in großen Schritten fort, während ihr Murat folgte.
»Hey!«, rief er ihr nach. »Ich mach Ihnen einen Vorschlag: Ich setze mich mit dazu. Ich weiß, wie man diese Typen behandeln muss, damit sie einen überhaupt wahrnehmen. Glauben Sie mir! Sie werden noch heilfroh sein, dass ich Ihnen meine Hilfe anbiete.«
Marie erreichte schließlich Besprechungsraum drei. Kurz drehte sie sich noch mal zu Murat um.
»Ich brauche keine Hilfe, also lassen Sie mich meinen Job machen und kümmern Sie sich um Ihre eigenen Fälle!«
Mit diesen Worten wandte sie sich von Murat ab, verschwand in dem Raum und schloss geräuschvoll die Tür hinter sich. Murat Demir war wirklich überrascht, und das kam nicht oft vor. Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder fing, tief durchatmete und beschloss, dem Gespräch im Nebenraum über eine Abhörvorrichtung zu folgen. Das war zwar ohne Einverständnis des Gesprächsleiters illegal, aber das juckte Murat Demir nicht.
Marie Stresemann musterte den kahlköpfigen Mann, der lässig nach hinten gelehnt an einem hellgrauen Tisch saß, der schon bessere Tage gesehen hatte. Brandflecken und Kratzer markierten vor allem die Besucherseite des Tisches, an der Karl Rieger saß. Er trug eine Kombination aus Lederjacke, Jeans und Springerstiefeln. Eigentlich ein attraktiver Kerl, dachte Marie, wären da nicht die abrasierten Haare und seine menschenverachtende Gesinnung. Sie empfand Abscheu für ihn und seine Geschichte, wollte sich dies aber auf keinen Fall anmerken lassen. Ihr Ziel war es schließlich, ihn zu resozialisieren, ihn wieder zu einem wertvollen Mitglied der Gesellschaft werden zu lassen.
Marie brachte mit drei großen Schritten den grauen Tisch zwischen sich und ihren Besucher, dann setzte sie ein künstliches Lächeln auf und stellte sich vor.
»Hallo, Herr Rieger. Mein Name ist Marie Stresemann. Ich bin Ihre Bewährungshelferin.«
Dabei schob sie ihm ihre Visitenkarte zu, und streckte ihm freundschaftlich die Hand entgegen, doch Rieger missachtete die Geste und behielt seine Hände in den Hosentaschen. Er hatte nicht erwartet, dass ihm eine Frau zugeteilt wurde, noch dazu eine junge Frau. Seine Überraschung konnte er nicht verbergen.
»Sie?«
»Wo liegt das Problem?«
»Kein Problem, kein Problem, echt nicht.«
Marie legte die Akte auf den Tisch, zog ihre Jacke aus und nahm gegenüber von Karl Rieger Platz. Während sie in der Akte blätterte, sagte sie: »Geben Sie mir bitte Ihren Ausweis.«
Karl atmete tief durch, richtete sich leicht auf und brachte aus der Jackeninnentasche einen schwarzen, abgegriffenen Geldbeutel hervor, den leicht verbogene, silberne SS-Runen mit einem Totenkopf zierten.
Marie hatte das gesuchte Formular in der Akte gefunden und sah auf. Ihr Blick fiel auf den Geldbeutel. Unweigerlich schoss ihr der Paragraf 86 des Strafgesetzbuches durch den Kopf: »Mit