Turmschatten. Peter Grandl

Turmschatten - Peter Grandl


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sein musste. Sie hatte so viele Fragen und wollte so viel erklären, aber ihre Stimme nahm keinen Laut an, da man ihr ein Gerät über Nase und Mund gestülpt hatte. Sie verstand nicht, was vor sich ging, nur die geröteten Augen ihrer Mutter verstand sie sehr wohl: »Ich verzeihe dir, mein kleiner Liebling.«

      Der Vorfall, wie Marie es später immer nannte – sie hasste das Wort »Unfall«, es hatte so etwas Unkontrollierbares –, war nur der Auslöser und Anlass für weit mehr Schmerz als der physische, den sie durchmachen musste.

      Die Narben auf ihrem Körper waren nur der Ausgangspunkt von Ereignissen, die Marie nach und nach veränderten. Für sich genommen war der Vorfall nach einigen Wochen zunächst fast bedeutungslos geworden. Ihr Leben ging nicht nur weiter wie zuvor, es wurde zunächst sogar noch besser. Kaum ein Wunsch wurde ihr mehr abgeschlagen, und die Welt zu Hause in der kleinen Sozialwohnung drehte sich fast nur noch um sie und ihr Wohlbefinden. Selbst im Kindergarten waren die Narben auf der Haut nur dann zu sehen, wenn sie ihr T-Shirt lüftete, was sie manchmal tat, wenn ihre Freundinnen ihr dafür Süßigkeiten schenkten.

      Mit der Zeit jedoch wurden die feinen Risse in der heilen Welt größer und größer, vor allem als Marie in die Schule kam und beim gemeinsamen Schwimmunterricht mit angewiderten Blicken begafft wurde. Da gab es keine Süßigkeiten mehr, sondern nur noch heimliches Getuschel und verstohlenes Gelächter, woraufhin sich Marie angewöhnte, Badeanzüge zu tragen, die ihren Körper bedeckten, und die Umkleidekabine erst dann zu betreten, wenn schon alle Mädchen fort waren. Das schützte sie aber nur unwesentlich vor den Gemeinheiten ihrer Klassenkameradinnen. Schon bald gaben sie ihr hässliche Spitznamen wie »Narben-Barbie« oder »Zombie«, doch Marie war eine Kämpferin. Ihr Vater, der Busfahrer war, hatte ihr immer wieder mit auf den Weg gegeben, sich niemals etwas gefallen zu lassen und notfalls für ihr Recht die Fäuste zu erheben.

      Levi war ein gottesfürchtiger Mensch, ein regelmäßiger Besucher der Synagoge, aber er war auch impulsiv und konnte schnell aus der Haut fahren. Er war überzeugt, dass die Geschichte seiner Familie, aber vor allem die Geschichte des jüdischen Volkes, sich nicht wiederholen durfte. Und seiner Meinung nach erreichte man das am besten, wenn man frühzeitig lernte, sich gegen Ungerechtigkeit zu erheben.

      Es gab da diesen anderen Vorfall, an den sich Marie gut erinnerte, weil er zu lauten Streitereien ihrer Eltern in der Küche geführt hatte. Es muss spät abends gewesen sein, ein angetrunkener Fahrgast mit kahl geschorenem Schädel provozierte und bespuckte ein älteres Pärchen im Bus, die letzten Fahrgäste des Abends. Als Levi an der nächsten Bushaltestelle anhielt, um den Randalierer aus dem Bus zu werfen, beschimpfte dieser ihn als Drecksjuden und reckte ihm grinsend seinen Mittelfinger entgegen. Levi sah rot, packte den handlichen Feuerlöscher, der neben seinem Sitz angebracht war, und schlug dem Neonazi die Metallflasche brutal ins Gesicht. Zwar sagte das ältere Pärchen später zu seinen Gunsten aus, doch die Verletzung durch den Feuerlöscher beförderte den Skinhead für mehrere Monate auf die Intensivstation und machte aus ihm einen Pflegefall.

      Dem Busfahrer Levi brachten seine »Prinzipien« mit 59 Jahren den Verlust seines Jobs und eine Haftstrafe auf Bewährung ein. Marie brachten Papa Levis Ratschläge mehrere Verweise und die Versetzung auf eine andere Schule, nachdem auch sie ihre Konflikte lieber mit den Fäusten austrug als mit Worten. Die Wünsche ihrer Mutter Selma, das Mädchen möge mehr nach ihr selbst kommen, gingen nie in Erfüllung.

      25 JAHRE SPÄTER – FREITAG, 15. OKTOBER 2010

      Die Bewährungshilfe saß in einem schlichten, mausgrauen Verwaltungsgebäude mitten in der Stadt, das dem Landgericht angegliedert war. Ein heftiger Wind peitschte um das Gebäude und trieb abgerissene Äste, Plastiktüten und zerschlissene Tageszeitungen durch die Straßen.

      Die Nachrichten vermeldeten einen Jahrhundertsturm, der vergangene Nacht enorme Schäden angerichtet hatte. Das öffentliche Nahverkehrssystem war gänzlich zusammengebrochen. Schräg stehende Autos und umgekippte Busse waren immer noch stumme Zeugen der Naturgewalten. Mehrere Menschen starben durch umstürzende Bäume und Strommasten und zahlreiche wurden durch umherfliegende Gegenstände verletzt. Der Sachschaden ging in Millionenhöhe.

      Marie Stresemann hatte kaum Notiz von den Nachrichten genommen. Sie hatte sich nur geärgert, dass sie eine kleine Ewigkeit auf die S-Bahn gewartet hatte. Mit anderen Menschen in einer geschlossenen Metallröhre eingesperrt zu sein, war ihr ein Gräuel. Sie hatte schon Probleme damit, wenn Gesprächspartner nicht die nötige Distanz einhielten und ihr zu dicht auf die Pelle rückten. Sie wusste, dass die meisten Menschen am Arbeitsplatz oder bei Freunden einen Abstand von circa 1,2 Metern als angenehm empfanden. Sie selbst kosteten bereits 1,2 Meter enorme Überwindung und Selbstbeherrschung. Der anschließenden Fahrt in einem zum Bersten gefüllten und überhitzten Bus war sie aber nicht gewachsen. Schweißgebadet quetschte sie sich durch die Fahrgäste ins Freie, atmete tief ein und genoss den stürmischen Wind, der ihre kurzen dunklen Haare zerzauste. Sie trug einen Trenchcoat, unter dem ein schwarzer Rollkragenpullover hervorsah, dazu eine enge Jeans und bequeme Turnschuhe. Genau die richtigen Schuhe um die letzten eineinhalb Kilometer zu Fuß zu laufen.

      Und dabei sollte heute ihr großer Tag werden.

      Nach dem Studium, einem Anerkennungsjahr und einer erfolgreich abgeschlossenen Probezeit war sie vor zwei Jahren mit der Vergütungsklasse A9 verbeamtet und hierher versetzt worden. Ihr Gehalt war, verglichen mit dem ehemaliger Studienkolleginnen in der freien Industrie, eine, wie sie es gerne ausdrückte, »echte Herausforderung«.

      Ihr Chef hatte beschlossen, ihr mit nur neunundzwanzig Jahren die Position eines im Krankenstand befindlichen Kollegen zu übertragen, dessen Klienten nicht nur Bagatelldelikte und kleine Verbrechen begangen hatten, sondern zur Klasse der Schwerverbrecher zählten und zur Betreuungsgruppe III und IV der sogenannten »Dittmannliste«, einer Kriterienliste aus der Forensik, gehörten. Betreuungsgruppe III und IV bedeutete »hohes Rückfallrisiko bezogen auf die direkte Gefahr für Leib und Leben Dritter«.

      Bezahlt hatte ihr Vorgänger diese anspruchsvolle Aufgabe mit einem Schädelbasisbruch und künstlichem Koma, als er eines seiner besserungsresistenten Schäfchen wieder der Haftvollzugsanstalt überstellen wollte. Die »risikoorientierte Intervention«, so der Fachjargon, war gescheitert.

      Die meisten ihrer älteren Kollegen zweifelten diese Personalentscheidung eindeutig an, doch ihr Chef hatte die Entwicklung der jungen Frau aufmerksam verfolgt und war erstaunt gewesen, wie stark und selbstbewusst sie ihre Klienten wieder auf die richtige Bahn brachte. Ihre Erfolgsquote war überdurchschnittlich. Er fand, es war an der Zeit, ihr anspruchsvollere Aufgaben zu übergeben.

      Einer dieser anspruchsvollen Fälle der Betreuungsgruppe IV war ein bekennender Neonazi. Er sollte am Morgen zum Erstgespräch in der Behörde erscheinen. Das war ungefähr so, als wenn ein junger Chirurg seine erste eigene OP durchführte oder der Co-Pilot endlich zum Piloten wurde. Je komplizierter die Operation oder je mächtiger der Flieger, umso größer die Aufregung.

      Marie Stresemann hatte sich gut vorbereitet, die meisten Fakten kannte sie inzwischen auswendig: Karl Rieger, vierunddreißig Jahre alt, geboren in Anklam, Mecklenburg-Vorpommern, Vater Stasi-Vergangenheit. 1992, im Alter von sechzehn Jahren, wurde er erstmals aktenkundig bei Brandanschlägen auf das Asylbewerberheim in Rostock-Lichtenhagen. Karl Rieger wurde damals als Mitläufer eingestuft, nach kurzem Aufenthalt in Untersuchungshaft aber wieder auf freien Fuß gesetzt. Der hochbegabte Sohn aus akademischem Elternhaus siedelte mit zweiundzwanzig nach München um und studierte dort an der Ludwig-Maximilians-Universität Geschichte. Eine schwere Körperverletzung an einem dunkelhäutigen Kommilitonen sowie seine nicht autorisierte Diplomarbeit mit dem Titel »Studien und Beweisführung zur Belegung der Holocaust-Lüge« führten zur Exmatrikulation.

      Nach seinem Ausschluss übernahm er die Leitung der »Kameradschaft Süd«, der größten Neonazi-Organisation in Bayern, und war laut Staatsanwaltschaft mutmaßlich an einem Bombenattentat zur Grundsteinlegung des geplanten jüdischen Kulturzentrums in München beteiligt. Dies konnte ihm aber nie zweifelsfrei nachgewiesen werden. Er zog schließlich zurück in den Osten, in die Stadt, in der er wegen Erpressung und schwerer Körperverletzung zu drei Jahren Haft verurteilt wurde, nun aber bereits nach fünfzehn Monaten unter »Führungsaufsicht« – und damit war Marie gemeint – auf Bewährung freikam.


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