Turmschatten. Peter Grandl

Turmschatten - Peter Grandl


Скачать книгу
… alles cool …«

      »Ehrlich?«

      »Ehrlich.«

      »Komm her, Großer!«, sagte Karl und drückte den Jungen mit seinen kräftigen Armen fest an sich, der hoffte, dieser Moment der Glückseligkeit würde nie vergehen.

      Nach einem kurzen Augenblick packte Karl den Kleinen an den Schultern und schob ihn wieder von sich. »Alles klar?« Er wandte sich ab und ging zielstrebig auf die Küche zu, während Thomas die Wohnungstür zuzog.

      »Hast die Bude sauber gehalten. Hast sogar den alten Hermann abgestaubt. Dafür schulde ich dir was.«

      »War keine große Sache, ehrlich«, sagte Thomas mit kleinlauter Stimme und fummelte nervös an einem Zippo-Feuerzeug herum, das er aus seiner Jackentasche geholt hatte.

      Karl kehrte aus der Küche zurück mit einer Flasche Wasser und zwei Gläsern.

      »Hast du Durst?«

      »Hast du nicht was Anständiges? Einen Klaren oder so was?«

      Thomas ließ das Sturmfeuerzeug rhythmisch auf- und zuschnappen.

      »Mach nicht auf harten Mann. Habe ich dir schon tausendmal gesagt. Die richtig harten Jungs brauchen keinen Schnaps.«

      »Okay. Nein, lass mal …«

      Karl zuckte mit den Schultern, schenkte nur sich ein und stellte die Flasche mit dem leeren Glas auf dem Sideboard neben der Göring-Büste ab.

      »Mann, du hast das alte Teil noch!« Er nahm Thomas das Feuerzeug aus der Hand und betrachtete es aufmerksam. »Hatte Angst, du würdest es verticken!«

      »Klar, Alter, seit du es mir geschenkt hast, habe ich es immer bei mir. Ist mein Glücksbringer.«

      Nachdenklich fuhr Karl mit den Fingerspitzen über das eingravierte Hakenkreuz auf dem Metallgehäuse. Es war eine Fälschung. Nur die US-Armee hatte diese Feuerzeuge im Krieg im Einsatz, nicht die Wehrmacht, aber davon hatte Thomas keine Ahnung. Im Gegenteil, Karl hatte ihm weisgemacht, dass dieses Unikat ein Erbstück seiner Familie sei und dass sein Großvater es bereits bei der Schlacht um Stalingrad dabeigehabt hatte. Er hatte Thomas die Geschichte im Beisein anderer Kameraden aufgetischt, und alle hatten sich fast in die Hosen gemacht, als der Junge das Stück mit leuchtenden Augen entgegennahm. Er war so leichtgläubig, man konnte ihm alles erzählen, er würde alles glauben. Nun hatte Karl fast ein schlechtes Gewissen, aber Thomas jetzt die Wahrheit zu sagen würde ihn sicher tief verletzen. Also ließ er es bleiben, deutete einen kurzen Haken an und öffnete dann seine Faust, aus der Thomas das geliebte Stück wieder entgegennahm.

      »Erzähl vom Knast. Wie war das?«, forderte Thomas ihn auf. Karls Miene verzog sich, und er schüttelte kurz den Kopf.

      »Das willst du nicht hören. Glaub mir einfach.«

      »Die Jungs haben coole Sachen erzählt, wie du einem Neger die Zähne eingeschlagen hast.« Dabei lachte er fies, doch Karl war dabei gar nicht zum Lachen zumute.

      »Alles Scheiße, Mann. Nochmal zum Mitschreiben: Der Knast war kein Zuckerschlecken. Verstehst du? Einmal und nie wieder. Hörst du mir zu?«

      Thomas versuchte gerade, eine verknitterte Zigarettenpackung aus der Innentasche seiner Bomberjacke zu ziehen.

      »Klar hör ich zu!«

      »Scheiße nein. Du hörst zu, aber du verstehst gar nichts.«

      Endlich brachte Thomas die Zigarettenschachtel zum Vorschein, bemerkte dabei aber den gefalteten gelben Zettel nicht, der unbeachtet zu Boden fiel.

      Karls Tonfall wurde rauer. »Schau mich an, Thomas!«

      Thomas fummelte gerade eine der Zigaretten aus der zerknitterten Schachtel, ließ nun aber davon ab und gehorchte.

      »Ich werde alles tun, um nie wieder in den Knast zu müssen. Verstanden?

      Sein Zeigefinger richtete sich auf Thomas.

      »Und du, Kleiner, wirst da auch nie hinmüssen, verstehst du? Und wenn es das Letzte ist, wofür ich sorgen werde.«

      Seine Halsschlagadern traten deutlich hervor. Er atmete schwer und noch immer schwebte sein Zeigefinger bedrohlich vor Thomas’ Gesicht.

      »Das Thema ist beendet. Sind wir uns einig?«

      Thomas war etwas verstört. Er hatte eigentlich spannende Geschichten erwartet, die vor Blut und Gewalt nur so strotzten, und bei denen Karl immer als Sieger hervorging. Aber das war nicht mehr der Karl, den er kannte. Karl hatte sich irgendwie verändert.

      »Sind wir uns einig?«, hakte er nochmals nach.

      Thomas nickte, zog nun nervös eine Zigarette aus der Schachtel und steckte sie sich in den Mund. Doch offensichtlich hatte der neue Karl Rieger auch etwas gegen Rauchen.

      »Lass die Scheiße, das Zeug macht dich krank. Goethe hat schon gesagt: Rauchen macht dumm.«

      Dabei verzog Karl versöhnlich seine Mundwinkel zu einem Grinsen, und Thomas atmete auf.

      »Du liest Goethe?«, fragte er erleichtert. Geschickt entzündete er mit nur einer Hand das Zippo und steckte sich die Zigarette an. Karl ging in Richtung Küche, um einen Aschenbecher zu holen.

      »War Pflichtlektüre an der Uni, zumindest bei unserem Prof.«

      Er kam zurück und drückte Thomas einen gläsernen Aschenbecher in die Hand.

      »Weißt du, wie Zigaretten entstanden sind?«

      Thomas schüttelte den Kopf.

      »Ist schon lange her, weißt du. Damals gab’s noch keine Zigaretten, nur Pfeifen«, fuhr Karl fort.

      »In den mexikanischen Tabakfabriken haben die Arbeiterinnen den Tabak gesammelt, der auf den Boden gefallen war, und haben ihn in weißes Papier gerollt und verkauft, um sich was dazuzuverdienen. Verstehst du? Sie nannten die Dinger Papelitos.«

      Thomas war immer wieder beeindruckt davon, was Karl alles wusste. In seinen Augen war Karl der klügste Mann, den er kannte. Man konnte ihn einfach alles fragen, und er hatte auf alles eine kluge Antwort.

      »Was läuft zu Hause ab, alles okay zu Hause?«

      Das war ein wunder Punkt, aber Karl war der Meinung, ein Recht auf eine Antwort zu haben. Immerhin war er für Thomas so etwas wie ein Ersatzvater gewesen.

      »Chris ist ausgezogen.«

      »Chris? War das der aalglatte Typ mit der hässlichen Brille?«

      »Nee. Das war der vorletzte Macker. Chris war ganz ok, nicht so ein Arschloch wie die anderen.«

      Thomas zog an seiner Zigarette und versuchte dabei übertrieben gelassen zu wirken.

      »Und jetzt?«

      »Jetzt hat sie ’nen dreckigen Jugo.«

      Karl nahm die Hand vor die Augen und fuhr sich dann den Bart entlang, während er den Kopf schüttelte.

      »O Mann, ist nicht dein Ernst.«

      »Doch, ein Scheiß-Jugo!«

      Thomas schnippte seine Asche ab und sagte ganz ruhig: »Ich sag’s nicht gern, aber meine verfickte Mutter ist eine verfickte Hure.«

      Karl wusste, dass die coole Fassade nur Show war. Der Kleine hing an seiner Mutter, und noch mehr an seinem Vater, aber der war ein richtiger Arsch. Statt bei der Scheidung um das Sorgerecht für seinen Sohn zu kämpfen, hatte der erfolgreiche Chirurg der Mutter gedroht, jeglichen Kontakt zu ihr und ihrem Sohn abzubrechen, sollte sie die Scheidung durchziehen – und genau das hatte er getan. Du kannst einem Mann per Gericht verbieten, sein Kind sehen zu dürfen, aber es gibt kein Gesetz der Welt, das einen Vater zwingen kann, seinen Sohn zu sehen oder gar zu lieben. Alle Briefe und Mails ließ er unbeantwortet, seine Telefonnummern hatte er ändern lassen. Ein Besuch der Mutter mit ihrem damals elfjährigen Sohn im Krankenhaus des Vaters lief völlig aus dem Ruder und endete in Geschrei, Tränen und dem Einsatz einer Polizeistreife,


Скачать книгу