Turmschatten. Peter Grandl

Turmschatten - Peter Grandl


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»Du siehst gut aus, Kamerad! Scheint, als hättest du Urlaub im Gefängnis gemacht. Du hast dich nicht unterkriegen lassen, stimmt’s?«

      Karl schwieg. Es waren die üblichen Floskeln, wenn einer der ihren nach dem Gefängnisaufenthalt begrüßt wurde. Bei diesem Ritual wurde keine Antwort erwartet, denn keiner wollte wissen, wie beschissen der Knast wirklich gewesen war.

      »Gerd hat erzählt, du hättest im Knast einem Neger die Nase gebrochen, weil er dir an die Wäsche wollte! So kenne ich dich, Kamerad, immer schön die Arschbacken zusammen und Fünf auf die Zwölf. Karl lässt sich nicht ficken, von niemandem, habe ich recht? Hab ich recht?!«

      Nein, er hatte nicht recht. Karl hatte im Knast Prügel kassiert, und zwar heftig. Das Hakenkreuz auf seinem Rücken wirkte auf Kanaken und Neger wie ein rotes Tuch in der Stierkampfarena. Aber davon hatte er nach außen natürlich nichts durchdringen lassen. Im Gegenteil, als ihn Kameraden ein- oder zweimal im Knast besucht hatten, gab er sich als starker Mann, als Führernatur, der dem Untervolk den Willen der arischen Rasse aufzwängte.

      »Ich konnte dich leider nicht persönlich abholen. Du weißt schon, ich …«, fuhr Leitwolf, der eigentlich Wilhelm Thielen hieß, mit gesenktem Tonfall fort.

      »Du musst dich nicht entschuldigen!«, antwortete Karl, obwohl er ziemlich enttäuscht gewesen war, dass keine Sau aus der Kameradschaft ihn abgeholt hatte.

      »Die Zeiten sind hart, Karl, wir müssen die Partei aus den Schlagzeilen halten und du weißt, wie schwer das im Augenblick ist.«

      Alles für die Partei, dachte Karl.

      Seit er denken konnte, war Thielen Bundesvorsitzender der NPD und hatte es in den letzten Jahren geschafft, die Partei aus der politischen Versenkung ins Rampenlicht der Öffentlichkeit zu holen. Doch seit man in jüngster Vergangenheit wiederholt versucht hatte, die NPD verbieten zu lassen, waren die Funktionäre bei öffentlichen Kundgebungen und Neonazi-Aufmärschen auf Tauchstation gegangen. Selbst bei den Kameradschaften ließen sich Parteimitglieder nur noch höchst selten blicken.

      »Du verstehst, wenn man mich mit dir sieht, könnte das für neuen Wirbel sorgen und …«

      Karl nickte und fiel ihm ins Wort. »Ist schon in Ordnung.«

      Thielen grinste wieder und beugte sich näher zur Kamera.

      »Hör zu. Wir haben große Pläne mit dir. Du kennst mich, Karl, ich mach keine Sprüche. Du weißt das, Karl, oder? Alles klar?«

      Karl nickte, auch wenn er skeptisch war. Zu oft hatten ihn die Parteigenossen schon enttäuscht, zu oft hatten sie die radikalen Ideen der Kameradschaft boykottiert, und zu oft war Willkür die Triebfeder zahlreicher Aktionen. Aber es war der falsche Zeitpunkt, das zur Sprache zu bringen, also hörte er weiter zu.

      »Du bist keiner dieser hirnlosen Schläger. Du hast Köpfchen, Karl. Du, du bist gerissen. Dir kann keiner in die Karten schauen, richtig?«, schmeichelte ihm Thielen. »Das ist gut, Karl, ich mag das. Ich bin selbst so. Keiner kann mich einschätzen, verstehst du? Immer erst denken, dann reden. Da sind wir uns ziemlich ähnlich.«

      Karl wurde ungeduldig, wollte, dass Thielen endlich auf den Punkt kam.

      »Was ist aus der Synagoge geworden?«

      Thielen lehnte sich wieder zurück und zündete sich eine Zigarette an.

      »Die Synagoge?«

      Thielen zog tief an seiner Zigarette, so als müsse er sich erst stärken, um die Kraft für eine Antwort zu haben. Er inhalierte und blies den kalten Rauch in die Kamera, so dass sein Gesicht für kurze Zeit wie hinter Nebelschwaden verschwand.

      »Eine blöde Sache ist das. Ein echt unangenehmes Thema. Willst du das wirklich wissen? Wird dich stinksauer machen!«

      Das war keine rhetorische Frage, auch wenn Thielen wusste, dass Karl nicht lockerlassen würde.

      »Sehe ich aus, als mache ich Witze?«

      Thielen hatte keine Chance, er musste antworten.

      »Die Juden haben … Die haben vielleicht eine neue Geldquelle.«

      Thielen senkte leicht den Kopf und zog erneut an seiner Zigarette. Karls Augen weiteten sich leicht, ansonsten ließ er sich seine Wut kaum anmerken.

      Eine Scheiß-Synagoge, mitten in meiner Scheiß-Stadt.

      Doch seine Stimme blieb ruhig.

      »Ich dachte, die Stadt hätte den Bau gestoppt?«

      Thielen atmete durch. Eigentlich hatte er einen Tobsuchtsanfall von Karl Rieger erwartet, aber der Kamerad überraschte ihn immer wieder. Wer weiß? Eines Tages konnte er es in der Partei weit bringen.

      »Die Stadt ist nicht das Problem. Die halten die Kassen geschlossen, solange sich der Itzig gegenseitig fertigmacht. Nein, nein. Das Geld kommt offensichtlich von einem Privatmann. Irgendeiner reichen Judensau.«

      »Irgendeine Idee, wer dieses Arschloch ist?«

      An der Wohnungstür war ein Geräusch zu hören, das Karl für einen kurzen Augenblick ablenkte. Jemand versuchte aufzuschließen, scheiterte aber, da Karl seinen Schlüssel innen hatte stecken lassen. Karl ignorierte es und blickte wieder zum Bildschirm. Seine Augen verrieten nun blanke Wut.

      »Noch nicht, aber das ist nicht deine Sache. Du hast Bewährung, Karl. Du musst jetzt sauber bleiben und schön brav zu deinem Bewährungshelfer gehen. Verstehst du? Brav bleiben! Hast du kapiert?«

      Thielens Stimme klang nun fast väterlich. Er musste dafür sorgen, dass Rieger keinen Mist baute.

      »Ich kümmere mich um die Sache«, sagte er beschwichtigend.

      Der Besucher war inzwischen dazu übergegangen, die Türglocke zu malträtieren. Das schrille Geräusch war auch für Thielen nicht zu überhören.

      »Ich muss Schluss machen!«, brachte Karl das Gespräch zum Abschluss. Und auch Thielen dankte innerlich dem Besucher für das unerwartet schnelle Ende des Gesprächs. Er zog nochmals an seiner Zigarette und blies den Rauch durch die Nasenlöcher.

      »Bleib sauber, Karl, ich verlass mich auf dich! Heil Hitler!«

      »Heil Hitler«, kam es auch von Karl mechanisch, wobei seine rechte Hand kurz zuckte, dann aber doch nur die Maus betätigte, um den Anruf zu beenden.

      Der ungeduldige Besucher klopfte jetzt gegen die Tür. Karl öffnete mit einem kräftigen Ruck. Vor ihm stand grinsend ein schmächtiger Junge, der wie die Teenagerausgabe eines klassischen Skinheads aussah. Glatze, Bomberjacke, Springerstiefel und die ersten Pickel im Gesicht. Der Kleine hieß Thomas Worch und gehörte seit knapp zwei Jahren zur Kameradschaft. Seine Freude über Karls Rückkehr war unübersehbar. Am liebsten hätte er ihn umarmt und fest an sich gedrückt. Aber so was machten echte Kerle nicht. Also versuchte er, seine Freude mit einem lässigen Spruch zu überspielen:

      »Na Schlappschwanz, haben sie’s dir im Knast ordentlich besorgt?«

      Dabei deutete er einen linken Haken an, aber Karl wehrte die harmlose Faust des Kindes blitzschnell ab und verpasste Thomas einen leichten Schlag in die Magengrube, der ihn ächzend in die Knie gehen ließ.

      Thomas biss sich auf die Zähne und rappelte sich wieder auf.

      »Scheiße, Mann! Das hat wehgetan.«

      Karl verzog keine Miene.

      »Sei kein verdammtes Mädchen, Kleiner.«

      Er musterte den Jungen, der ihm mittlerweile bis zum Kinn reichte.

      »Bist verdammt gewachsen in dem Jahr.«

      »Fünfzehn Monate.«

      Thomas hatte mitgezählt. Jeden Tag, jede Woche, jeden Monat.

      Endlich, Karls eiserner Blick verwandelte sich in ein Lächeln. Auf diesen Moment hatte Thomas all die Monate gewartet. Er hätte heulen können. Karl war nicht nur sein bester Freund, er war wie ein Vater, den er nie hatte.

      »Hab deinen


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