Turmschatten. Peter Grandl
ab, wohl wissend, dass Esther ihm wegen ihrer Behinderung nichts entgegnen konnte, und zog sich ein Stockwerk tiefer in seinen Privatbereich zurück.
Esther sah ihm nach, wie er die Wendeltreppe hinunterging und verschwand. Morgen würden sie zum vierten Mal gemeinsam Jom Kippur feiern und noch immer war ihr dieser gütige Mensch so fremd wie kaum ein anderer.
KARL I
SONNTAG, 23. AUGUST 1992
Die Vorhänge im zweiten Stock des Altbaus waren zugezogen, damit die Bewohner am Sonntagmorgen nicht allzu früh durch die Sonne geweckt wurden. Das Mehrfamilienhaus lag in Anklam, östlich vom Zentrum im Stadtteil Schanzenberg, dort, wo es keine Plattenbauten gab. Trotz aller Abwanderungsprobleme siedelte sich hier nach dem Fall der Mauer der wohlhabende Mittelstand an. Karl Riegers Vater hatte nach der Wende den richtigen Riecher gehabt und einen Telefonladen im Ort eröffnet. Anfangs hielten ihn seine Bekannten und Freunde für verrückt, doch mittlerweile boomte der Laden. Anfang des Jahres konnten sie sich endlich eine bessere Wohnung leisten und die verhasste Plattenbausiedlung verlassen.
Es würde wieder ein heißer Sommertag werden. Da Karls Zimmer nach Osten gerichtet war, bekam er schon in aller Frühe die Kraft der Sonne zu spüren, die sich auch durch die dünnen Vorhänge seiner Fenster kaum abhalten ließ.
Karl wälzte sich unruhig im Bett und schlug schließlich die Augen auf. Verdammte Hitze!
Es war Sonntag, sein letzter freier Tag. Fast sechs Wochen Ferien lagen hinter ihm. Sechs Wochen Langeweile und Einöde in diesem grauenvollen Kaff am Arsch der Welt.
Karl setzte sich verschlafen auf die Bettkante und fuhr sich mit beiden Händen über die kurz rasierten Haarstoppel, rieb sich das pickelige Kinn, auf dem ein erster heller Bartflaum wuchs. Die hohen Wangenknochen und dunklen Augen verliehen seinem Äußeren eine bedrohliche Aura. Er trug ein weißes Unterhemd, unter dem sich ein sehniger Körper abzeichnete, der dem regelmäßigen Karatetraining geschuldet war. In ein paar Wochen würde er die Prüfung zum Erhalt des braunen Gürtels ablegen – ungewöhnlich für einen Jungen, der gerade sechzehn geworden war.
Karls Blick streifte seinen Schulranzen mit Camouflage-Muster. Morgen würde die Schule wieder losgehen. Er hatte kein Problem damit, im Gegenteil, er war der Beste seiner Klasse am Lilienthal-Gymnasium und wusste, dass ein guter Abschluss seine Fahrkarte in eine bessere Welt war.
Ach, Scheiße. Eine bessere Welt? Eine Welt voll mit Schwulen, Asylanten und Juden.
Er griff nach der Schachtel Zigaretten, die er auf seinem Nachttisch deponiert hatte, dann ging er zum Fenster und öffnete es. Die Sonne blendete ihn, doch er genoss die warmen Strahlen und zündete sich eine Zigarette an. Er schloss die Augen. Ein tiefer Zug füllt seine Lungen, bis schließlich weißer Rauch langsam aus seiner Nase stieg.
Er musste an seinen Opa Alois denken, der immer nach Zigaretten gerochen hatte. Ein tapferer, alter Kriegsveteran, der viel zu früh gestorben war. Es waren seine Soldatengeschichten, die ihm schon als kleiner Junge mehr Freude bereitet hatten als alles andere auf der Welt.
Er erinnerte sich gut an die Besuche bei Oma und Opa in Stralsund. Das war jedes Mal eine zeitraubende Reise mit dem Zug gewesen. Einen Trabbi konnten sich seine Eltern nicht leisten. Belohnt wurde der kleine Karl bei der Ankunft immer mit Erdbeeren aus Omas Garten und mit Opas Kriegsgeschichten.
Eine sehr steile und enge Treppe führte hinauf in Opas kleines Reich. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals wieder solch eine abenteuerliche Treppe gesehen zu haben. Seine Mutter hatte immer furchtbare Angst um den kleinen Karl gehabt, wenn er mit seinen kurzen Beinchen die Treppe emporstieg. Versuchte sie zu helfen, kam sofort von oben die mahnende Stimme des Vaters. »Der Bengel wird nie ein Mann, wenn du ihn nicht mal allein die Treppe hochsteigen lässt!«
»Und wenn er stürzt?«, entgegnete sie besorgt.
»Na und? Ein paar Schrammen haben noch niemanden umgebracht!«
Opa war selbst mit siebzig Jahren noch ein rüstiger Mann mit borstigem, silbergrauem Haar gewesen, im Nacken und über den Ohren militärisch korrekt abrasiert. An der linken Schläfe hatte eine breite Narbe die Haare wie ein Seitenscheitel geteilt. Wegen seiner hängenden Wangen und großen Tränensäcke hatte er Karl an die traurig dreinblickende Dogge seines Onkels erinnert. Kaum vorstellbar, dass dieser liebevolle Opa, der mit ihm gespielt und Panzermodelle zusammengebaut hatte, einst der kernige Oberfeldwebel gewesen war, den er aus Omas vergilbten Fotoalben kannte. Das Bild, auf dem er in Ausgehuniform, umringt von seiner Frau, seinem erwachsenen Sohn und seinen zwei kleinen Töchtern, stolz sein »Eisernes Kreuz erster Klasse« präsentierte, gefiel dem kleinen Karl ganz besonders. Auf seinem Schoß sitzend, eng an seinen Brustkorb geschmiegt, folgte er gebannt Opas Geschichten, in denen er Partisanenstellungen in die Luft jagte oder den Angriff russischer Einheiten praktisch im Alleingang abwehrte.
Als Karl zwölf Jahre alt und zu schwer für Opas Schoß geworden war, fuhr dieser eines Tages mit ihm an die polnische Grenze und nahm ihn mit auf einen winterlichen Spaziergang. Opa war nicht der Typ, der gerne spazieren ging. Gewöhnlich saß er in seinem Zimmer und ging nur selten aus dem Haus. Aber an diesem kalten Wintermorgen wurde aus dem liebevollen Opa ein Mann mit einem Namen, ein Mann mit einer Botschaft, der seinem Enkel die Tragödie erklärte, in der sich Deutschland, ja sogar die ganze Welt befand. In Karl fand dieser Mann einen willigen Schüler, der alles begierig aufsaugte, was der Mentor von sich gab.
»Die Juden sind an allem schuld!« Das war der Satz, der sich Karl tief ins Bewusstsein brannte, genauso wie die Geräusche des knirschenden Schnees unter ihren Füßen und Alois’ verbissene Miene.
Alois erzählte ihm von der Weltverschwörung des »jüdischen Bolschewismus«, der nicht nur die Weltherrschaft anstrebte, sondern auch verantwortlich war für den Ersten und sogar den Zweiten Weltkrieg. Er klärte ihn darüber auf, dass Hitler gar nicht anders konnte, als Russland anzugreifen, um einem Angriff zuvorzukommen. Alois erzählte ihm vom Holocaust. Davon, dass diese Gräueltaten nie geschehen seien, dass der Holocaust eine Erfindung der Siegermächte war, um die Deutschen kleinzuhalten und sie gnadenlos ausbeuten zu können. Und er erzählte ihm vom Schicksal seiner Familie, die ursprünglich aus Ostpreußen stammte, wohlhabend war und ihres ganzen Besitzes beraubt wurde, als sie vor den russischen Eroberern flüchten musste.
Sie waren eine Stunde durch kniehohen Schnee gestapft und Alois hatte nicht eine Sekunde lang aufgehört zu reden, während Karl sich anstrengen musste, mit ihm Schritt zu halten. Schließlich waren sie an einem Fluss angekommen, und Alois streckte den Arm Richtung Osten aus.
»Das ist die Oder, Karl. Und dahinter liegt heute Polen. Früher einmal gehörte das alles zu Deutschland. Vor dem Krieg, vor dem Zweiten Weltkrieg.«
Dann schwieg er. Sein Blick hing fest am Horizont, fast so, als könnte er die Vergangenheit vor seinem inneren Auge wieder zum Leben erwecken. Ihr Atem bildete in der Kälte neblige Wolken.
Alois holte ein Stofftaschentuch aus seiner Manteltasche hervor, schnäuzte sich laut und fuhr schließlich mit ruhiger, tiefer Stimme fort: »Unsere Heimat, der Ort, an dem ich und deine Großmutter geboren wurden, liegt heute in Polen, weil die Russen nach dem Krieg den Polen ein riesiges Gebiet abgenommen und ihnen dafür unser Land als Entschädigung gegeben haben.«
Minutiös erklärte er Karl, dass nicht nur die Teilung Deutschlands großes Unrecht war, sondern auch die Abtretung dieser Gebiete, die, völkerrechtlich gesehen, niemals hätte passieren dürfen.
»Krieg hin oder her«, seine Hand erhob sich wieder gen Osten, »hier hat die Welt tatenlos zugesehen, wie der Iwan tausende von Deutschen ermordet und vertrieben hat, um unser Land zu stehlen.«
Karls Hände begannen zu zittern. Er konnte nicht sagen, ob es wegen der Kälte oder der Wut über diese Ungerechtigkeit war.
Der Großvater packte ihn schließlich an den Schultern, dann kniete er sich vor ihn in den eisigen Schnee.
»Wir dürfen dieses Unrecht niemals vergessen, Karl.«
Seine Augen hatten jegliche großväterliche Wärme verloren.
»Du