Turmschatten. Peter Grandl
Er trug einen dunklen Anzug über einem grob gestrickten, grauen Pullover. Dieser unterstrich das raue Äußere seiner Erscheinung ebenso wie der wild wuchernde Bart, der auf seinen Wangen nahtlos in das volle, silberweiße Haar überging.
Kaum hatte er das Portal erreicht, schaltete sich vier Meter über ihm ein Scheinwerfer ein und tauchte den Eingang in ein warmes Licht. Eine automatische Kamera hatte ihn längst erfasst. Sie schickte ihre Bilder in das Dachgeschoss des Turms, wo Esther in einer großzügig ausgebauten Wohnküche gerade das Essen zubereitete.
Der weiß getünchte Raum maß annähernd hundert Quadratmeter und hatte schrägsitzende Fenster in alle vier Himmelsrichtungen, die in einen spitz zusammenlaufenden Dachstuhl eingelassen waren, der am höchsten Punkt sicher acht Meter maß. Der freistehende steinerne Küchenblock, an dem Esther Kreplach zubereitete, erweckte den Eindruck, man stünde in der Kuppel einer Kathedrale vor einem Altar. Vor allem wenn das Abendlicht schräg durch die Dachfenster auf den Küchenblock fiel, hatte der runde Raum etwas Sakrales, etwas Ehrfürchtiges.
Kreplach richtig zuzubereiten war eine Kunst, die Esther von ihrer verstorbenen Mutter gelernt hatte. Es waren Teigtaschen nach Art der jüdischen Küche, die mit Rinderleber gefüllt wurden und die man traditionell am Vorabend von Jom Kippur aß, dem höchsten aller jüdischen Feiertage. In Augenblicken wie diesen war Esther ihrer Mutter ganz nahe und versunken in Erinnerungen an glückliche Tage ihrer Kindheit.
Ein hoher Pfeifton ertönte in der Küche, den Esther aufgrund ihrer starken Hörbehinderung allerdings kaum wahrnahm. Doch das rote Blinken einer LED-Leuchte direkt oberhalb des Ofens kündigte ihr auch visuell unmissverständlich an, dass sich ein Besucher am Portal befand. Ihre konzentrierte Miene verwandelte sich in ein strahlendes Lächeln, und sie lief hinüber an die Wand, an der ein Monitor Ephraim zeigte, der mit stoischem Blick in die Kamera winkte.
Ephraim hätte am Eingang auch einen sechsstelligen Zahlencode eintippen können, um die Pforte zu öffnen, doch Esther hasste es, wenn er plötzlich unerwartet hinter ihr stand und sie dadurch zu Tode erschreckte.
Läuten zu müssen war nicht besonders effizient – und Ephraim war ein Mensch, für den Effizienz über alles ging –, doch für Esther war er bereit, sich von Grund auf zu ändern. Ja, er arbeitete an sich, auch wenn er dabei nur kleine Fortschritte machte. Esther kannte nur einen Teil seiner Lebensgeschichte, doch das war genug, um zu verstehen, dass diese gequälte Seele endlich zur Ruhe kommen musste. Und so war sie stolz auf jede seiner menschlichen Gesten, auf jede seiner positiven Veränderungen, waren sie auch noch so klein und unscheinbar.
Sie betätigte die Sensortaste zum automatischen Öffnen der schmiedeeisernen Tore und entledigte sich ihrer Küchenschürze. Nach allem, was sie in ihrer Heimat Israel erlebt hatte, kam es ihr wie ein Wunder Gottes vor, dass sie dieser gütige Mann wie eine Tochter aufgenommen hatte und mit jedem Tag die grauenvolle Vergangenheit mehr und mehr in einem dichter werdenden Nebel verschwand.
Mit gebührendem Respekt und anerzogener Zurückhaltung wartete sie darauf, dass Ephraim die vier Stockwerke emporkam, während unten die Pforte wieder automatisch mit einem leisen Klicken ins Schloss schnappte.
Ephraim nahm immer mehrere Treppenstufen auf einmal, denn er mochte die unteren Stockwerke des Turms nicht besonders, die kalt und grau waren und nur wenig Licht abbekamen. Die steinerne Treppe endete schließlich vor einer schweren Holztür im dritten Stockwerk, das er zum Großteil schon hatte renovieren lassen. Hinter der Holztür verbarg sich ein schmaler Gang, von dem aus mehrere Zimmertüren abzweigten. Nichts erinnerte hier mehr an die steinerne Kälte der unteren Stockwerke. Am Ende des Gangs führte eine steile Wendeltreppe nach oben, die schließlich in dem ausgebauten, beeindruckenden Dachstuhl endete.
Kurzatmig begann sich Ephraim zu entschuldigen, sobald er ihr engelsgleiches Antlitz über sich erblickte. Ihre weichen Gesichtszüge mit den großen, dunklen Augen waren eingerahmt von tief schwarzem, langem Haar, das bis über die Schultern reichte und in einem starken Kontrast stand zu ihrer hellen Haut. Die junge Frau trug eine hochgeschlossene Bluse mit einer Schleife und einem knielangen Rock, aus dem ihre Beine ragten wie zwei zerbrechliche Stelzen.
»Esther …« Er holte Luft. »Esther, es tut mir leid … Ich bin zu spät … Aber mein Gespräch mit dem Rabbi hat länger gedauert, als ich dachte …«
Esther lächelte milde, umfasste ihn an den Schultern und küsste ihn auf die Wangen.
»Chalom, Ephaaim.«
Ihre Kehle brachte Laute hervor, die sie selbst kaum hörte, und so war es umso erstaunlicher, dass es ihr trotz ihrer fast gänzlichen Gehörlosigkeit gelang, sich verbal zu artikulieren.
»Schalom, Esther«, erwiderte Ephraim und lächelte gequält, was Esther erahnen ließ, dass das Gespräch mit Rabbi Shlomo Moshe nicht ganz so verlaufen war, wie Ephraim es sich erhofft hatte. Von Neugierde getrieben, stellte sie ihm hastig eine Frage in Gebärdensprache. Konzentriert, aber offensichtlich überfordert, versuchte Ephraim den schnell wechselnden Zeichen zu folgen, schüttelte aber schon bald den Kopf und nahm ihre kleinen Hände in die seinen.
»Halt, halt … Langsam, Esther.«
Er blickte ihr in die Augen, und seine Gesichtszüge entspannten sich leicht.
»Ich tue ja mein Bestes, um die Zeichen zu lernen, aber du bist … Du bist zu schnell.«
Ephraim öffnete seine Hände und gab die ihren frei. Langsam formte sie nun Zeichen für Zeichen und versuchte dabei zu sprechen, soweit es ihr möglich war.
»Aat die Gemeinee as Geel fü ie Synagooe anenommen?«
Den »Tanz der Finger«, wie Esther es gerne nannte, erlernte Ephraim mit mäßigem Erfolg, aber ungebrochenem Willen seit einigen Monaten. Ein Scheitern kam nicht infrage, denn wie so oft in seinem Leben würde er am Ende triumphieren. Doch im Augenblick fiel es ihm leichter, ihre gutturalen Laute zu vervollständigen, als ihre Zeichen richtig zu deuten.
»Es ist nicht einfach, Esther, du musst die Gemeinde verstehen. Sie sind nur vorsichtig und vielleicht auch zu stolz, um so viel Geld als Spende anzunehmen.«
Esthers Augen verrieten Unmut. »Sdoolz is die Masge de eigenen Fehlä.«
Ephraim war immer wieder überrascht, wie viel Entschlossenheit dieses zierliche Mädchen besaß. In dieser Hinsicht war sie ihm sehr ähnlich.
»Esther, es reicht nicht, aus dem Talmud zu zitieren, um die Ältesten von meinen ehrlichen Absichten zu überzeugen. Ich bin mir ganz sicher, früher oder später werden sie meine Spende akzeptieren und der Bau der Synagoge wird fortgesetzt. Rabbi Moshe und die Stadträtin Seligmann sind auf meiner Seite.«
Ephraim legte ihr eine Hand väterlich auf die Schulter und schob die andere vorsichtig unter ihr Kinn, um ihr Gesicht anzuheben, bis er ihr tief in die Augen schauen konnte. Dabei zeigte er zum ersten Mal ein ehrliches Lächeln, eines, aus dem Esther Zuversicht und Hoffnung schöpfte.
»Esther, du wirst sehen. Der Bau der Synagoge wird in wenigen Wochen fortgesetzt. Da bin ich mir sicher.«
Er brachte es nicht übers Herz, Esther die komplizierte Wahrheit zu beichten, die zur Spaltung der jüdischen Gemeinde und am Ende zum Finanzierungsstopp geführt hatte. Geld allein konnte die Streithähne der Gemeinde nicht wieder zusammenbringen, aber Rabbi Moshe und Stadträtin Seligmann traute er durchaus zu, die Probleme gemeinsam zu lösen.
»Ephaaim, du bis ein guder Mensch!«
Der unerwartete Zuspruch sollte Ephraim in seinem Vorhaben bestärken und Zuversicht geben, doch Esther erreichte damit das Gegenteil.
Ephraim zog seine Hände zurück. Sein Blick war nun wieder kalt wie zuvor. Das Kompliment hatte eine Tür zu seinen dunkelsten Abgründen aufgestoßen. Denn anders als Esther besaß er nicht die Fähigkeit, einen dichten Nebel über seine Vergangenheit zu legen. Seine Geheimnisse verbargen sich hinter hunderten von Türen, und kaum hatte er eine verschlossen, öffnete sich eine andere wie von selbst und peinigte seine Seele aufs Neue.
Ephraims Stimme klang schroff und zurechtweisend.
»Nur weil ich Geld spende,